Nach den umfehdeten Jahren unter Arrigo Sacchi war Italien 1998 wieder so, wie man Italien eben erwartete. Auch wenn eine leichte Auslosung das Team ins WM-Finale von 1994 gespült hat: Das taktisch rigide und auf viel Training basierende 4-4-2-Pressingspiel von Sacchi hat auf Nationalteam-Ebene nie geklickt. Mit Cesare Maldini war die defensive Stabilität wieder Trumpf.
Vor Libero und Manndeckern waren drei unkreative Läufer platziert, zwei alleingelassene Stürmer sollten es auf dieser extrem auf Stabilität bedachten Basis mit individuellem Genie richten, einen Spielgestalter sah Maldini als zu großes Risiko. Mit Glück hatte Italien spät ein 2:2 gegen Chile gerettet und gegen Kamerun hatte man nach der raschen Führung viel sterilen Ballbesitz und null Ideen, zwei späte Tore schraubten das Ergebnis zu einem absurden 3:0 hoch. Italien konnte davon ausgehen, dass ein Remis gegen Österreich zum Gruppensieg reicht und man damit einem drohenden Achtelfinal-Duell gegen Brasilien ausweicht – bei einer Niederlage drohte aber das Vorrunden-Aus.
Das waren keine guten Voraussetzungen für Österreich. Auch das ÖFB-Team litt unter zu wenigen Ideen, zu wenig Mut im Vorwärtsgang und unter der lädierten Zehe von Andi Herzog. Wie gegen Chile saß Herzog zunächst auf der Bank, aber Prohaska löste sein eigenes defensives Dreier-Mittelfeld auf und zog Hannes Reinmayr UND davor Mario Haas als zweite Spitze neben Toni Polster ein. Nach den beiden Remis gegen Kamerun und Chile war für Österreich klar: Ein Sieg musste her.

Das Match begann mit einer Unterbrechung. Nach anderthalb Minuten verdrehte sich Nesta beim Versuch, Pfeifenberger den Ball abspenstig zu machen, das Knie. Wolfgang Feiersinger sah, weil er den am Boden liegenden und um Hilfe winkenden Nesta noch gestoßen hatte, die gelbe Karte. Für Nesta war nicht nur das Match, sondern auch die halbe kommende Saison vorbei – Kreuzbandriss. Giuseppe Bergomi kam für ihn aufs Feld und übernahm von Costacurta den Libero-Posten.
Es passiert… nichts
Es war ein extrem zerfahrenes Spiel. Die Italiener brachen den Rhythmus und versuchten, die sehr strikt manndeckenden Österreicher aus der Position zu ziehen: Per Dribbling etwa von der Außenbahn nach innen, oder mit Laufwegen abseits des Balles, oder – wie es Del Pieros Art war – sich aus der Spitze nach hinten fallen zu lassen. Aber sobald es schnell oder gar direkt nach vorne gehen sollte, wurde es erschütternd ungenau.
Die Österreicher hielten mit viel Körperlichkeit dagegen, aber im eigenen Vorwärtsgang war man zu hektisch und zu unpräzise, zudem waren die Italiener im Defensiv-Zweikampf nicht gerade zimperlich. Nach einer Viertelstunde fingen die ersten Leute zu pfeifen an, weil sich noch überhaupt nichts getan hatte. Es gab viele Zweikämpfe und noch mehr Leerlauf.
Italien nähert sich an
Dann und wann gelang es Polster bzw. Vastic, ein Kopfballduell zu gewinnen und auf den jeweils anderen weiterzuleiten, aber es dauerte bis zur 28. Minute, ehe eines der Teams eine wirkliche Torchance vorfand – und es waren die Italiener. Vieri hatte sich im Aufbau bis zur Mittellinie zurückgezogen, auf den im Gegenzug nach vorne laufenden Pessotto weitergeleitet, dessen Flanke am langen Pfosten den vom zu weit eingerückten Wetl völlig blank gelassenen Moriero fand. Dessen Volleyschuss flog links am Tor vorbei, Konsel hob danach vorwurfsvoll die Hände und pflaumte Wetl an. Viel mehr hätte er bei einem präziseren Abschluss von Moriero auch nicht mehr tun können.
Im Parallelspiel war Chile mittlerweile 1:0 gegen Kamerun in Führung gegangen, die Italiener brauchten zumindest diesen Punkt gegen Österreich bei diesem Stand also sehr wohl. In der 30. Minute legten Schöttel und Pfeifenberger in Co-Produktion Del Piero direkt an der Strafraumgrenze, der Freistoß knallte einem Österreicher in der Mauer auf den Schädel. Gegenstoß – aber Bergomi ließ sich von Polster nicht abkochen. Bergomi hatte den Laden mit all seiner Routine voll im Griff.
Ohne Del Piero wäre gar nichts los
Maldinis Vorstöße endeten praktisch immer mit einem tempo-entweichenden Querpass, Dino Baggio und Pessotto brachten nichts Konstruktives zustande. Der einzige italienische Gefahrenherd war Alessandro del Piero. Einmal segelte Pfeffer im Zweikampf mit Del Piero unterm Ball durch und er konnte gerade noch zur Ecke klären. Kurz darauf, 35. Minute, traf Vastic den Juve-Stürmer von hinten am Knöchel, der englische Referee Paul Durkin – der grundsätzlich die britische lange Leine dabei hatte – zückte die gelbe Karte. Dafür kam Pfeifenberger nach einem ziemlich fiesen Tritt von hinten auf Del Pieros Knöchel nicht nur ohne Gelb davon, sondern sogar ohne ein Foul gepfiffen zu kommen.
Das theoretische Plus an Präsenz im österreichischen Zehnerraum durch Hannes Reinmayr sah man nicht, weil man Reinmayr nicht sah. Feiersinger trug den Ball von hinten ins Mittelfeld und fand dort – wie gegen Chile – keine Anspielstationen. Der einzige annähernd durchgespielte Angriff ging von Mählich aus, der in der 43. Minute Wetl steil schickte. Dieser legte den Ball auf Vastic in den Strafraum quer, Vastic drehte sich um Cannavaro herum – aber Maldini klärte den für Polster gedachten Stanglpass.
Den Konter über Vieri entschärfte Schöttel mit einem sinnlosen Bodycheck an der Seitenlinie, Pfeifenberger und Pfeffer wären zum Ausputzen bereitgestanden. Durkin zeigte Schöttel die gelbe Karte und weil er aus dem Chile-Spiel schon eine hatte, wäre der Rapid-Manndecker in einem Achtelfinale gesperrt gewesen. Nach zweieinhalb sehr starken Spielen war es das erste Mal, dass Schöttel wirklich die Übersicht verlor.
Österreich hatte in der ersten Halbzeit keinen einzigen ernsthaften Torabschluss und von mehr Mut war schon gar nichts zu sehen gewesen.
Italien per Standard zur Führung
Die zweite Halbzeit begann aber mit einer Chance für Österreich: Mählichs Befreiungsschlag vom eigenen Sechzehner fand Polster, der den Ball auf Kühbauer ablegte. Dieser spielte kurz auf den ebenfalls mitlaufenden Reinmayr, der einen Pass in den Strafraum gab, wo sich Vastic freigelaufen hatte – doch der versuchte Querpass auf Polster blieb an Bergomis Knie hängen. Österreich brauchte den Sieg, war das ein Zeichen, dass etwas gehen könnte?
Nun ja. Im direkten Gegenzug konnte Schöttel nur noch mit einem Foul verhindern, dass Del Piero in den Strafraum zog – da hatte Schöttel Glück, nicht die Ampelkarte zu kassieren. „Sali, bleib du kurz„, gab Konsel vor dem Freistoß noch Feiersinger mit. Vor dem Tor wäre der Libero aber wertvoller gewesen als am ersten Pfosten, wo weit und breit kein Italiener war: Del Piero lupfte den Freistoß über die Zwei-Mann-Mauer, aber eben auch über Feiersinger drüber.
Aus dem Rückraum preschten Bergomi und Vieri daher. Polster konnte Bergomi noch stören, Vieri aber hatte keinen Gegenspieler mehr und er rammte die Kugel per Kopf in die Maschen. Pfeffer war im entscheidenden Moment hinter Maldini und Pfeifenberger eingeklemmt gewesen, kam nicht mehr rechtzeitig zu seinem etatmäßigen Gegenspieler. Die 49. Spielminute, das 1:0 für Italien. Die Blitztabelle: Italien 7, Chile 5, Österreich 2, Kamerun 1.
Wo war es, das offene Visier?
Eine Minute später schubste Schöttel den erneut durchbrechenden Vieri nieder und der Italiener war sichtlich ungehalten, dass Schöttel wieder nicht ausgeschlossen wurde. Österreich blieb auf der kantigen Seite: Pfeifenberger mit einem heftigen Schlag auf Morieros Knöchel, wieder ließ der rothaarige Engländer mit der Pfeife die gelbe Karte in seiner Brusttasche.
In der 54. Minute wurde Reinmayr an der Mittellinie bedient, es folgten ein Antritt und ein schneller Vertikalpass für Polster. Costacurta war zwar dazwischen, aber genau das fehlte dem lahmen österreichischen Spiel. Gleich die nächste Szene: Energisches Dribbling von Wetl über die Mittellinie, ein Querpass in den Mittelkreis auf Pfeifenberger, alles stand wieder.
Es hieß immer, dass das Italien-Spiel jenes gewesen wäre, wo man die Minimal-Chance mit offenerem Visier nutzen wollte. Einem Realitäts-Check hält diese Erinnerung in der ersten Stunde dieses Matches absolut nicht stand.
Endlich sowas wie eine Drangphase
Dann, die 57. Minute: Polster legte eine Flanke von Pfeifenberger auf Vastic ab und als Vastic den Ball verarbeiten wollte, gab ihm Maldini von hinten einen Rempler, Vastic kam zu Sturz. Selbst bei Durkins großzügiger Spielleitung: Hier nicht auf einen Elfmeter für Österreich zu entscheiden, war britischer als britisch. Umso schöner danach die kurze Konversation von Polster und Maldini, beide breit und ehrlich lächelnd, nach dem Motto: „Paolo, schena Bua, du bist owa a Schlawiner, hearst!“
Aber es war nun doch der Auftakt zu einer Drangphase des ÖFB-Teams. Außenristpass von Mählich hinter die Abwehr auf Pfeifenberger, der diesen noch vor der Grundlinie erreichte, Flanke vor das Tor, Polster legte auf Reinmayr ab – die Italiener retteten mit vereinten Kräften. „Immer wieder, immer wieder Österreich“-Rufe schallten durch das Stade de France und „Ausgleich, Ausgleich!“ Kamerun hatte diesen im Parallelspiel gegen Chile mittlerweile geschafft. Blitztabelle: Italien 7, Chile 3, Österreich 2, Kamerun 2.
Zweiter verweigerter Elfmeter und Wetls Fallrückzieher
Die Italiener zogen sich zurück und Reinmayr versuchte, das Geschehen mehr an sich zu reißen. Gleichzeitig kam Haas für Polster ins Spiel. Kaum eine Minute auf dem Feld, wurde Haas von Mählich steil geschickt, Bergomi klärte zum Eckball. Bei dessen Ausführung wurde Toni Pfeffer vom mittlerweile für Vieri eingewechselten Pippo Inzaghi beim Kampf um den Ball deutlich am Knie getroffen. Das war ein unumstößlicher Elfmeter, doch wieder sah es der Referee anders. Es sollte im ganzen Turnier sein einziger Einsatz bleiben.
In der 67. Minute, während sich Roby Baggio für seine nahende Einwechslung bereit machte, trat Hannes Reinmayr einen Eckball von der rechten Seite. Der an der Strafraumgrenze lauernde Pfeifenberger brachte die Kugel zu Wetl, der mit dem Rücken zum Tor am Fünfer stand. Wetl stoppte den Ball mit der Brust, setzte zum Fallrückzieher an – aber ganz konnte er die nötige Kraft nicht auf den Ball übertragen, Pagliuca hielt den Ball im Nachfassen fest. Hinter ihm wäre auch noch Moriero bereit gestanden, um vor der Linie zu retten. „Des gibt’s jo net, hearst“, haderte Hans Krankl, der an der Seite von Robert Seeger das Match für den ORF kommentierte.
Drei Spielmacher und eine kraftlose Brechstange
Aber Italien hatte sich nun einerseits weit zurückgezogen und machte recht gut den Raum zwischen Mittelkreis und Strafraum zu, zum anderen war die Präsenz des typischerweise an der Abseitslinie lauernden Pippo Inzaghi ein ständiger Gefahrenherd für schnelle Konter hinter die aufgerückte ÖFB-Abwehr. Österreich hatte viel Ball, aber weiterhin fehlten die Mittel, sich in gute Abschlusspositionen zu bringen.
In der Folge kamen Stöger (für den augenscheinlich nach einem Sprint muskulär angeschlagenen Kühbauer) und Herzog (für Pfeifenberger). Drei Spielmacher und zwei Sturmspitzen waren nun auf dem Feld, dahinter Mählich, der im Spielverlauf für die Mehrzahl der gelungenen Vertikalpässe verantwortlich war. Die Bälle wurden in die Gefahrenzone gechippt, wo die Italiener sie abräumten. Struktur hatte nun nichts mehr, die Brechstange blieb kraftlos. Man konnte im Angriffsdrittel kein Tempo aufnehmen und die Weltklasse-Verteidiger nicht in Verlegenheit bringen. Es war mehr Verzweiflung als Mut.
Ab Minute 80 ging nichts mehr
Und in der 83. Minute hätten die Italiener schon fast den Deckel draufgemacht: Konter über Inzaghi, der Moriero mitnahm, dessen Schuss kullerte zwischen der zweiten Stange und Baggio ins Tor-Aus. In der 86. Minute tanzte Moriero Wetl aus, den Steilpass auf Inzaghi konnte Konsel gerade noch abfangen. In der 88. Minute ein Doppelpass von Inzaghi mit Roberto Baggio, die Fahne des Assistenten ging hoch – ein sagenhafter Fehler, Pfeffer hatte das Abseits eigentlich meterweit aufgehoben. Inzaghi wäre alleine vor Konsel gestanden.
Das war keine große italienische Mannschaft, allen großen Stürmer-Namen zum Trotz, das sollte im weiteren Turnierverlauf auch die entscheidende Schwäche sein. Aber es war eine Truppe, die schon sprichwörtlich italienisch ein Spiel abtöten konnte. Dann konnte Moriero unbedrängt einen Diagonalball in Richtung Strafraum zu Inzaghi spielen. Dieser ließ den Ball aber durch zu Baggio, drehte selbst auf und preschte in den Strafraum, wo ihn der von Baggio schnell weitergeleitete Ball fand. Inzaghi musste nur noch auf Baggio querlegen, dieser hielt den Fuß hin, das 2:0 für Italien, die Entscheidung. Die Uhr zeigte 89 Minuten und 27 Sekunden an und es hatte sich abgezeichnet. Das Abseits, das die Österreicher erkannt haben wollten, war es auch nicht, Pfeffer hob es knapp auf.
Als 90 Minuten und 47 Sekunden gespielt waren, erbarmte sich Durkin doch noch dazu, einen Elfmeter für Österreich zu geben. Reinmayr hatte sich an Di Biagio und Cannavaro vorbei in den Strafraum gedribbelt, Costacurta stellte Reinmayr letztlich das Bein, eine klare Entscheidung. Es war so die Art von Aktion, von denen Österreich in den 90 Minuten davor etwas mehr gebraucht hätte. Andi Herzog jedenfalls legte sich den Ball zurecht, er schoss in die aus seiner Sicht rechte Ecke, Pagliuca sprang nach links, 91 Minuten und 24 Sekunden.
Der Anschlusstreffer. Der Endstand.