Das 1:1 gegen Kamerun war besser als das drohende Nichts, aber was war es wert? Denn vor der Brust stand nun das Match gegen Chile. Iván Zamorano, jahrelang Stamm-Stürmer bei Real Madrid und frischgebackener Europacup-Sieger mit Inter Mailand, und der um viel Geld von River Plate zu Lazio transferierte Marcelo Salas waren ein gefürchtetes Sturm-Duo.
Chile hatte im ersten Spiel erst kurz vor Schluss durch einen ärgerlichen Elfmeter einen Sieg gegen Italien verloren (Endstand 2:2) und im Frühjahr in einem Testmatch im Wembley mit 2:0 gegen England gewonnen. Bis auf die Stürmer aber war die fast komplett in der heimischen Liga aktive Mannschaft ein komplett unbeschriebenes Blatt.

Ein strahlend schöner später Nachmittag am Mittwoch, 17.30 Uhr, und Andi Herzog nahm auf der Bank Platz. Die nagende Zehenverletzung hatte zu einer sehr dünnen Vorstellung des 29-Jährigen gegen Kamerun geführt. Für ihn war Mario Haas in der Startformation, ein zweiter echter Stürmer. Es war die einzige personelle Änderung, die Herbert Prohaska vorgenommen hat.
Ein anderes Kaliber als Kamerun
Wie schon gegen Italien hat Chile mit Libero (Fuentes) und zwei kantigen Manndeckern (Reyes und Margas) verteidigt, während Clarence Acuña und Nelson Parraguez im Mittelfeldzentrum mit robusten Zweikämpfen und viel Laufarbeit verhindern sollten, dass überhaupt Bälle auf die gegnerischen Stürmer kamen, gleichzeitig hielten sie Fabián Estay den Rücken frei. Der Zehner mit der Lockenfrisur-Kopie von Toni Polster hatte alle Freiheiten.
Die Chilenen entzogen sich den Mittelfeld-Zweikämpfen gegen Mählich, Kühbauer und Pfeifenberger mit schnellen, kurzen Pässen und pressten auch vorne an, sogar Toni Pfeffer. Sie konnten im Zentrum das Tempo hochhalten, Estay schob quer über den ganzen Platz und zog Mählich überall hin mit, einen wirklichen Zugriff bekam Mählich zunächst nicht. Schnell war zu erkennen: Chile war deutlich zielstrebiger und vor allem technisch viel besser als Kamerun.
Harald Cerny, lost on the Außenbahn
Eine Schlüsselrolle nahmen ob des dichten Zentrums die Außenbahnen ein. Links rieb sich Arnold Wetl gegen Moisés Villarroel auf. Wetl war gegen Kamerun ein Aktivposten, das konnte er gegen den Chilenen mit dem hageren Gesicht und der dichten, schwarzen Beatles-Gedächtnis-Topffrisur nicht sein. Brutal war aber die Unterlegenheit von Harald Cerny auf der anderen Seite gegen Francisco Rojas, der zweieinhalb Jahre später zu Sturm Graz wechseln sollte.
Cerny zeigte schlechtes defensives Stellungsspiel, fabrizierte viele Ballverluste und agierte unbeholfen im Zweikampf gegen den wuseligen Giftzwerg Rojas. Und irgendwann nahm das Duell Hitze auf: In der 31. Minute wurde Rojas von Cerny an der Mittellinie gelegt, die ausgestreckte Hand von Cerny verweigerte der Chilene. Kaum eine halbe Minute später hielt Rojas ziemlich fies den Fuß drüber, als Cerny einen Ball aus dem eigenen Strafraum kicken wollte – der ägyptische Referee Ghandour zeigte nicht einmal Gelb.
„Für solche Attacken hat man auch schon rote Karten gesehen“, wunderte sich ORF-Kommentator Hans Huber. Für die zweite Halbzeit musste Cerny zugunsten von Markus Schopp weichen.
Wenig Torgefahr auf beiden Seiten
Parraguez nervte Kühbauer, Pfeifenberger kam gegen Acuña nicht zur Geltung und Feiersinger rückte nach 20 Minuten zwar vermehrt auf, um einen zusätzlichen Mann im Zentrum zu haben – die Antreiber-Antritte von Feiersinger verpufften jedoch, weil auch er keine Anspielstationen fand. So war es Mählich, der eine Doppelrolle als Estay-Kettenhund und Österreich-Spieleröffner inne hatte.
In den seltenen Fällen, in denen Österreich ein guter Steilpass gelang, kam er praktisch immer von Mählich: In der 14. Minute konnte Cerny einmal geschickt werden, seine von zwei Chilenen bedrängte Flanke flog in Polsters Rücken – zu Tonis sichtbarem Ärger. Oder, nach etwa 25 Minuten, ein Antritt und ein Pass auf Pfeifenberger, der schnell auf Haas weiterleitete – seltene Ausbrüche von Tempo. Dennoch, nichts davon führte zu Torgefahr.
So inexistent ein österreichisches Angriffsspiel aber war und so überlegen Chile im Mittelfeld agierte – auch bei den Südamerikanern schaute keine vernünftige Torchance heraus, weil Schöttel und Pfeffer eine starke Partie machten. Jeder chilenische Angriff war für die ÖFB-Abwehr harte Arbeit, weil die Chilenen zwar gebremst, aber kaum vom Ball getrennt werden konnten. Es waren alle gefordert. In der 21. Minute stand sogar Polster am eigenen Strafraum, um Rojas am Eindringen in selbigen zu hindern. Zamorano und Salas waren, so gut es ging, unter Kontrolle.
Kippt das Spiel in Österreichs Richtung?
In der 37. Minute fand ein Kühbauer-Einwurf Polster, dieser bediente den hinterlaufenden Kühbauer, der Stanglpass landete bei Haas. Dessen Schuss wurde zwar von Libero Fuentes abgeblockt, aber dennoch, es war der erste seriöse Torabschluss der Österreicher und es war der Startschuss für eine Druckphase des ÖFB-Teams.
Waren es schwindende Kräfte? Am Ende der ersten Halbzeit ließen die Chilenen jedenfalls zunehmend von den Österreichern ab. Das ÖFB-Team hatte mehr Raum für besseres Passspiel, setzte sich in der gegnerischen Hälfte fest. Um diesen Effekt noch zu verstärken, brachte Prohaska für die zweite Halbzeit Herzog statt Kühbauer. Heute unvorstellbar, aber während die Spieler auf das Feld liefen, gab Prohaska an der Seitenlinie noch ein ORF-Interview. „Ich war zufrieden mit Didi Kühbauer, erwarte mir aber von Andi Herzog mehr Kreativität“, diktierte er Christian Nehiba ins Mikro.
Herzog platzierte sich zunächst links im Mittelfeld-Dreieck, ehe er von dort zunehmend in die Zehner-Position driftete, und Österreich machte willig weiter. Estay holte sich durch ein Foul an Herzog die gelbe Karte ab, Schopp traf – irritiert vom vor ihm stehenden Haas – einen Volley-Versuch nach Flanke nicht richtig. Auch der Arbeitsethos stimmte: Roman Mählich vertändelte am chilenischen Strafraum den Ball, der Konter in ein entblößtes österreichisches Mittelfeld folgte, und wer eroberte die Kugel von Villarroel zurück, nachdem Wetl dessen Lauf verzögert hatte? Genau, Roman Mählich.
Momentum verloren und Glück bei Handspiel
Eine Minute später jedoch, Ballverlust von Schopp im Angriffsdrittel, wieder Konter über Villarroel – diesmal musste Konsel in allerhöchster Not eingreifen. Durch das erhöhte österreichische Risiko und Herzogs vermehrtes Aufrücken boten sich nun eben die Räume. Und billige Ballverluste – auch Pfeifenberger leistete sich unmittelbar danach den nächsten – häuften sich.
Markus Schopp klärte zudem bei einem Eckball in Torhüter-Manier mit der Hand vor Reyes und Acuña – da hatte Österreich großes Glück. Referee Ghandour übersah das klare Vergehen, einen VAR gab es noch nicht. In der 61. Minute dann der nächste Ballverlust von Schopp, dem der Ball bei der Annahme drei Meter wegsprang, der nächste chilenische Konter, Konsel konnte vor Zamorano retten. Österreich war aktiver geworden, dadurch aber auch Chile gefährlicher. Der nächste Ballverlust von Toni Polster, Chile konterte – und nachdem Wolfgang Feiersinger den Ball geklärt hatte, war über die Außen-Mikros deutlich zu hören: „He, der verliert jeden Boi, des ist doch… geh scheißen, oida!“
„Geh scheißen, oida!“
Schopp war kein Upgrade zu Cerny, Herzog wurden zunehmend problemlos Bälle abgelaufen, und wenn man vorne war, war es zu umständlich. Querpass auf Haas an der Strafraumkante, der legte für Polster ab, zu ungenau für eine Direktabnahme. Polster legte auf den lauernden Wetl ab, der kam auch nicht sofort zum Schuss, und schon war der Ball wieder in die andere Richtung unterwegs. Wieder musste Feiersinger ausputzen und seine Miene wurde immer finsterer.
Dann, die 69. Minute, Acuña ging Richtung Torlinie durch, setzte zur Flanke an und wurde dabei leicht von Mählich am Standbein getroffen. Nicht viel, aber auch nicht nichts – Freistoß an der Grundlinie, knapp außerhalb des Strafraums. Sierra (für den gelb-rot-gefährdeten Estay eingewechselt) lupfte den Ball vor das Tor, Zamorano setzte sich im Kopfballduell gegen Pfeffer und Polster durch, Konsel kam noch im Fallen irgendwie mit der Hand hin. Er lenkte den Ball auf Salas‘ Knie und der schon hinter der Linie liegende Konsel griff wieder zu. War auch der Ball ganz hinter der Linie? Die TV-Bilder gaben keinen Aufschluss, aber Ghandour war sich sicher, dass es ein Tor war. Das 1:0 für Chile.
Die letzten 20 Minuten
Vastic, der sich schon länger bereit gemacht hatte, ersetzte danach Mario Haas und agierte – anders als gegen Kamerun – nicht zwischen den Linien, sondern nützte seine Frische gegen den müdegespielten Reyes. Österreich konnte aber dennoch, anders als nach dem Rückstand gegen Kamerun, keinen kontrollierten Druck ausüben.
Pfeifenberger hob mal einen Ball nach vorne, da stand aber außer Chiles Torhüter Tapia überhaupt niemand. Ein Doppelpass-Versuch von Wetl und Herzog, dessen Fersler landete aber bei einem Chilenen statt bei Wetl. Ein langer Ball von Herzog auf Polster, dieser bekam aber das Stürmerfoul an Margas gepfiffen. Feiersinger schoss einmal Wetl ab, anstatt zu ihm zu passen. Die 83. Minute, einmal ein halbwegs kontrollierter Angriff über Polster und Pfeifenberger, aber es gelang nicht, in eine gute Abschlussposition zu kommen, Vastic‘ Weitschuss ging weit drüber.
Zwar war zu sehen, dass Chile wie schon in der ersten Halbzeit gegen Ende die Intensität nicht ganz hochhalten konnte und mit dem sehr aktiven Feiersinger – längst Ballverteiler im Mittelfeld und kein Libero mehr – erarbeitete sich Österreich wieder mehr Kontrolle. Aber dann: Ein weiterer Ballverlust von Schopp, der in eine Spielertraube von drei Chilenen hinein passte, schneller Konter über Zamorano. Sein Schuss hätte genau gepasst, Konsel bekam gerade noch so die Fingerspitzen dran. Österreich blieb am Leben.
Der Schlussakt
Die Chilenen merkten, dass sie wieder mehr gegen den Ball arbeiten müssen und ein echter österreichischer Druck auf das Tor ging sich nicht aus. Die 89. Minute, Mählich hob einen Ball vor das Tor, Tapia klärte mit einer Hand im Kampf gegen Polster – es waren alles eher Zufallsprodukte. Am Beginn der dreiminütigen Nachspielzeit flog wieder ein hoher Ball in Richtung Polster, wieder bekam er das Offensiv-Foul abgepfiffen.
90 Minuten und 45 Sekunden, Herzog wollte am Strafraum gegen Parraguez einen Freistoß schinden, der Referee stand drei Meter daneben und deutete sofort auf Weiterspielen, Chile konterte. 91 Minuten und 2 Sekunden, Salas konnte Sierras Zuspiel am Strafraum nicht kontrollieren, Neuaufbau über Mählich und Feiersinger. 91 Minuten und 28 Sekunden, ein langer Ball von Schopp landete bei Wetl, seine Flanke wurde von Margas geklärt. Wieder kam Schopp an den Ball, er legte auf den zehn Meter vor dem Strafraum wartenden Mählich quer, 91 Minuten und 40 Sekunden. Mählich sah, dass Vastic an der Strafraumgrenze völlig frei stand, schob die Kugel zu ihm rüber. Parraguez von hinten und Fuentes von vorne stürzten auf Vastic zu, er behauptete den Ball aber technisch stark, schoss und traf genau ins rechte Kreuzeck. 91 Minuten und 44 Sekunden.
Der Ausgleich.