WM-SERIE, Teil 15: FRANKREICH | Manch einer sagt, man müsse einen Vogel haben, um sich den Stress des Teamchef-Daseins bei einer Top-Nation anzutun. Bei Raymond Domenech kommt man aber nur schwer an der Vermutung vorbei, er könnte tatsächlich einen haben.
Er steht seit sechs Jahren gefühlt immer einen kleinen Schritt vor der Entlassung. Doch erstaunlicherweise konnte Raymond Domenech weder eine Affäre mit einer TV-Journalistin (samt damit vermundenem Handel mit Insider-Infos) noch die schrecklichen Vorstellungen beim Vorrunden-Aus vor zwei Jahren bei der Euro2008 etwas anhaben. Auch nicht die peinliche Niederlage in Österreich danach oder die beinahe verpasste Qualifikation davor. Ja, selbst bei der erst im weiteren Verlauf erfolgreichen WM in Deutschland war er mit seinem Team nur ein Törchen davon entfernt, nicht einmal ins Achtelfinale zu kommen.
Nein, Domenech hat all dies überstanden. Das, und auch seinen etwas seltsamen Tick mit den Sternzeichen. „Die Astrologie ist bei der Zusammensetzung einer Mannschaft ein kleines, aber sehr relevantes Kriterium. Sehr geeignet für ein Team sind Spieler mit dem Sternzeichen Krebs“, gab der 58-jährige Wassermann einst zu Protokoll. Skorpione und Waagen kann Domenech dafür überhaupt nicht brauchen. So musste Skorpion Robert Pirès einst seine Teamkarriere wegen seines Geburtsdatums beenden, und auch Waage David Trezeguet wurde, obwohl amtierender Zweiter in der Torschützenliste der Serie A, erst nur widerwillig zur WM 2006 mitgenommen und ist seit seinem verschossenen entscheidenden Elfmeter im Finale endgültig untendurch.
Waagen und Skorpione sucht man in Domenechs Kaderheute vergeblich. Nicht einmal im erweiterten Kreis ist auch nur ein einziger Spieler vertreten, der zwischen Mitte September und Mitte November das Licht der Welt erblickt hat. Kein einziger! Dafür strotzt das französische Team nur so von Löwen. Und mit Gourcuff, Nasri und Alou Diarra sind einige Stars der Mannschaft auch tatsächlich Krebse.
So gesehen mag es fast ein Glück sein, dass Thierry Henry im Playoff sein Lapsus mit dem Handspiel vor dem entscheidenden Tor passiert ist – so hat nämlich die Öffentlichkeit ein anderes Stück Fleisch, das sie abkauen kann. Natürlich ist das keine schöne Angelegenheit und Henry hat dafür auch nicht ganz zu unrecht ordentliche Prügel bezogen. Er wird aber dennoch, genau wie der schwedische Schiedsrichter Martin Hansson, der das Handspiel übersehen hatte, in Südafrika dabei sein.
Die „Affäre Henry“ überdeckte aber vor allem die Schwächen der französischen Mannschaft, die schon während der ganzen Qualifikation offenkundig waren. Die Equipe Tricolore war in beiden Spielen gegen die kampfstarken, aber doch eher biederen Iren über weiter Strecken besser. Vor allem technisch waren die Franzosen ihren Kontrahenten deutlich überlegen. Nicht nur denen aus Irland, rein von der individuellen Klasse steht das Team sicherlich auch klar über den Serben, hinter denen sie in der Gruppe aber nur Zweiter wurden. Nein, das Problem der Franzosen dieser Tage ist ein anderes. Sie sind jetzt das, was über viele Jahre die Spanier waren: Eine Truppe voller Weltklasse-Spieler, aber keine Mannschaft.
Die Spanier sind über Jahrzehnte immer wieder daran gescheitert, dass es nicht gelang, die Stars von Real Madrid und dem FC Barcelona zu einer funktionierenden Mannschaft zusammen zu fügen. Und genau dies gelingt auch Domenech nicht. Es gelang ihm noch nie – bei der am Ende doch noch gelungenen WM in Deutschland war Zinedine Zidane der Wortführer in der Mannschaft. Patrick Vieira hätte es bei der Euro2008 sein sollen, der Mittelfeldstratege verpasste dieses Turnier allerdings verletzt und hat sich wegen seiner andauernden gesundheitlichen Probleme mittlerweilie endgültig aus der Nationalmannschaft zurückgezogen.
Nun fehlt also die dominierende Figur auf dem Platz, die Domenechs eklatante Schwächen im Umgang mit der Mannschaft ausgleichen könnte. Gallas ist hinten zu weit weg, Henry könnte das zwar, schafft dies aber nicht in notwendigem Maße. Und so verkommt eine Mannschaft, die von ihrer Besetzung ein Mitfavorit für den WM-Titel wäre, zu einer Wundertüte, bei der ein Achtelfinal-Aus kaum jemanden wirklich überraschen würde.
Ein Frevel mit diesen Spielern, schließlich kann Domenech fast jede Position mindestens doppelt mit Weltklasse besetzen. Dabei ist die grundsätzliche Ausrichtung – der Mannschaft entsprechend – mit seinem 4-3-3 auch durchaus offensiv. Dabei sollte man sich vor dieser Mannschaft eigentlich fürchten müssen. Doch nach den Erfahrungen der letzten Jahre tut das niemand so wirklich. Und das liegt an der Art und Weise, wie Domenech die Mannschaft führt: Zum einen fehlt es ihm an Autorität und Rückhalt in der Mannschaft, zum anderen ist er auch in der Öffentlichkeit äußerst umstritten. Einzig die Verbandsspitze hält eisern an ihm fest.
Nach der Endrunde in Südafrika wird aber mit ziemlicher Sicherheit ein großer Umbruch anstehen, für viele Spieler ist Südafrika das letzte Highlight. Das mittelfristige Problem der Franzosen ist hier, dass es aufgrund der vielen älteren Spieler in den letzten Jahren kaum ein wirklich junger Spieler geschafft hat, sich in der Equipe Tricolore zu etablieren. Im Grunde nur Stürmer Gignac (der allerdings an seine starke Saison 08/09 nicht anknüpfen kann), Regisseur Gourcuff (der nicht mehr wegzudenken ist) – und Torhüter Hugo Lloris. Der 23-jährige Schlussmann von Olympique Lyon ist trotz seiner jungen Jahre schon ein herausragender Torwart und zwischen den Pfosten absolut unumstritten.
Genau wie William Gallas vor ihm. Der Arsenal-Verteidiger ist mit allen Wassern gewaschen. Ein Problem könnte jedoch die Position neben ihm werden: Hier spielte zuletzt Außenverteidiger Patrice Evra, der jedoch gerade gegen schnelle Gegenspieler oft das Nachsehen hat. Es gibt einige Alternativen, aber im Grunde ist die Position des zweiten Innenverteidigers die einzige echte Problemzone. Denn auch die Alternativen Escudé, Squilliaci oder Boumsong sind keine internatioalen Granaten. Bei der spielerischen Vernichtung im Testspiel gegen Spanien (0:2) probierte Domenech hier gar Debütat Ciani von Bordeaux aus.
Evra muss in der Nationalmannschaft deshalb eher nach innen rücken, weil seie Position auf der linken Abwehrseite üblicherweise von Éric Abidal eingenommen wird. Angesichts der Tatsache, dass Abidal bei Barcelona aber kaum Spielpraxis bekommt, ist es durchaus möglich, dass Evra nach außen zurück rückt – oder Gaël Clichy hier zum Einsatz kommt. Rechts ist Bacary Sagna dafür unumstritten: Der Arsenal-Spieler mit den blonden Dreadlocks ist der unumstrittene Boss auf siner Seite.
Die Außenpositionen sind im französischen Team vor allem deshalb so wichtig, weil sie aus dem Mittelfeld nur wenig Unterstützung bekommen. Zwischen ihnen und den Außenstürmern vorne ist nichts, weswegen gerade bei Domenech die Außenverteidiger extreme Kondition und Tempohärte mitbringen müssen – im Dreier-Mittelfeld sind die beiden Sechser nämlich bestenfalls Doppelpass-Partner von Abidal und Sagna, und halten ansonsten Regisseur Yoann Gourcuff den Rücken frei. Während der 23-jährige Jungstar von Girondins Bordeaux unrotierbar ist, gibt es für seine beiden Adjutanten eine Vielzahl an Möglichkeiten. Die wahrscheinlichste Variate ist die mit Jérémy Toulalan und Alou Diarra, aber auch Abou Diaby und Lassana Diarra können sich berechtigte Hoffnungen auf Einsätze machen.
Wegen Gourcuffs Dominanz im Mittelfeld hat sich auch noch nicht so richtig ein dauerhafter Platz für Samir Nasri gefunden. Im zentralen Mittelfeld ist zu, und auf den Außenbahnen im Angriff vertraut Domenech routinierteren Spielern. Namentlich ist das auf der linken Seite Thierry Henry, der seit dem Fehlen von Patrick Vieira auch die Kapitänsbinde übernommen hat. Und auf rechts war das in der Qualifikation zumeist Nicolas Anelka, der vorne Pierre-André Gignac zuspielen sollte. Im Laufe der WM-Saison haben sich diese Strukturen aber etwas aufgeweicht – vor allem aufgrund der Tatsache, dass Gignac nicht mehr annähernd so konstant trifft wie in der Saison 2008/09, als er mit Mittelständler Toulouse Torschützenkönig der französischen Liga wurde. Nun kann es sein, dass Anelka in die Spitze geht und Franck Ribéry als Außenstürmer aufgestellt wird. Der Dribbler von den Bayern ist allerdings verletzungsanfällig und hat so viele Spiele im Nationalteam verpasst.
In der Sturmspitze kann neben Gignac und Anelka natürlich auch Karim Benzema spielen. Seit seinem 35-Millionen-Euro-Transfer zu Real Madrid ist er dort aber nie konstant erste Wahl und hat somit auch schlechte Karten auf einen Stammplatz im französischen Team. Diese würden wohl auch kaum steigen, wenn Domenech auf ein etwas vorsichtigeres 4-4-2 wechseln sollte – dann fliegt ein Sechser raus, Henry geht in die Spitze, und Chelseas Florent Malouda bekäme seine Chance auf der linken Seite. Das wäre auch eine Spielanlage, die etwa Franck Ribéry besser entgegen kommen würde. Es wird also schnell klar: Raymond Domenech hat eine Vielzahl von Möglichkeiten, ein absolut konkurrenzfähiges Team auf den Platz zu bringen, das es mit praktisch jedem Team aufnehmen kann.
Dazu würde aber auch das nötige Selbstvertrauen gehören, und hier scheitert Domenech. Er hat es in den bald sechs Jahren, in denen er für die Equipe Tricolore verantwortliche ist, nie geschafft, so etwas wie bedingungslosen Zusammenhalt und echten Teamgeist in die Mannschaft zu bringen. Wenn dann noch eine eher unglückliche Termingestaltung dazukommt, gibt das dem Team den Rest – als die Franzosen im März von Europameister Spanien förmlich am Nasenring durchs eigene Stadion gezogen wurden, beklagte sich vor allem Thierry Henry darüber. Eh schon keine funktionierende Mannschaft haben, und dann noch gegen Spanien ein Testspiel absolvieren zu müssen: In Frankrech kommt derzeit eben alles zusammen.
Zudem haben die Franzosen in Südafrika eine unangenehme Gruppe erwischt. Natürlich, nach der Papierform sind die Franzosen Gruppenfavorit, aber 2002 haben sie selbst gesehen, wie schnell das gehen kann. Ein Punktverlust gegen Uruguay etwa, dann die nie zu unterschätzendenden Mexikaner – und im letzten Gruppenspiel ausgerechnet gegen Gastgeber Südafrika könnte es dann schon um alles oder nichts gehen. Domenech soll nach dieser Endrunde so oder so einen anderen Posten im Verband bekommen, dann könnte ein neuer Mann versuchen, aus den formidablen Einzelspielern auch eine tolle Mannschaft zu formen. Sollte Domenechs Nachfolger das gelingen, wäre das wohl eine kleine, nachträgliche Ohrfeige für ihn. Eine viel größere könnte aber ein WM-Titel der Brasilianer sein.
Warum? Brasiliens Teamchef Carlos Dunga ist Skorpion…
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FRANKREICH
blaues Trikot, weiße Hose, adidas – Platzierung im ELO-Ranking: 9.
Spiele in Südafrika:
Uruguay (Abendspiel Fr 11/06 in Kapstadt)
Mexiko (Abendspiel Do 17/06 in Polokwane)
Südafrika (Nachmittagsspiel Di 22/06 in Bloemfontein)
TEAM: Tor: Cédric Carrasso (28, Bordeaux), Hugo Lloris (23, Lyon), Steve Mandanda (25, Marseille). Abwehr: Éric Abidal (30, Barcelona), Gaël Clichy (24, Arsenal), Julien Escudé (30, Sevilla), Patrice Evra (29, Manchester Utd), Rod Fanni (28, Rennes), William Gallas (32, Arsenal), Bacary Sagna (27, Arsenal), Sébastien Squillaci (29, Sevilla). Mittelfeld: Abou Diaby (24, Arsenal), Alou Diarra (28, Bordeaux), Lassana Diarra (25, Real Madrid), Samir Nasri (22, Arsenal), Moussa Sissoko (20, Toulouse), Yoann Gourcuff (23, Bordeaux), Florent Malouda (30, Chelsea), Franck Ribéry (27, Bayern), Jérémy Toulalan (26, Lyon). Angriff: Nicolas Anelka (31, Chelsea), Karim Benzema (22, Real Madrid), André-Pierre Gignac (24, Toulouse), Bafétimbi Gomis (24, Lyon), Sidney Govou (30, Lyon), Thierry Henry (32, Barcelona).
Teamchef: Raymond Domenech (58, Franzose, seit Juli 2004)
Qualifikation: 1:3 in Österreich, 2:1 gegen Serbien, 2:2 in Rumänien, 1:0 in und 1:0 gegen Litauen, 1:0 auf den Färöer, 1:1 gegen Rumänien, 1:1 in Serbien, 5:0 gegen die Färöer, 3:1 gegen Österreich. 1:0 in und 1:1 n.V. gegen Irland.
Endrundenteilnahmen: 12 (1930 und 34 Erste Runde, 38 Viertelfinale, 54 Vorrunde, 58 Dritter, 66 und 78 Vorrunde, 82 Vierter, 86 Dritter, 98 Weltmeister, 2002 Vorrunde, 06 Finale)
>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Elfenbeinküste, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile
* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung