WM-SERIE, Teil 6: NEUSEELAND | Gegen alle Wahrscheinlichkeiten schafften es die Kiwis zur Endrunde, weil die Fußballgötter ihnen alle Steine aus dem Weg geräumt hatten. Jetzt gilt es, sich in Südafrika nicht kräftig zu blamieren.
Es war trostlos, an diesem Mittwoch Abend. In das immerhin 17.000 Zuschauer fassende Hindmarsh Stadium im australischen Adelaide verirrten sich an jenem 2. Juni des Jahres 2004 gerade einmal 356 Hartgesottene. Kein Wunder: Ein WM-Qualifikationsspiel des kleinen Nachbarn aus Neuseeland gegen die Zwerge von der Pazifik-Inselgruppe Vanuatu war nun wirklich kein Bringer. Die Australier hatten ihren Platz im Finale gegen den Zweiten der Ozeanien-Finalgruppe schon so gut wie sicher; und die Neuseeländer mussten nur noch ihre Spiele gegen Vanuatu, Tahiti und Fidschi unbeschadet überstehen, um dem Favoriten dorthin zu folgen.
Doch dann passierte etwas Unglaubliches, an diesem speziellen Mittwoch Abend: Die Mannschaft aus Neuseeland verlor gegen die in der Weltrangliste 75 Plätze weiter hinten (also etwa auf Platz 150) platzierten Inselkicker mit 2:4. Die Hoffnung auf eine WM-Teilnahme in Deutschland war damit erledigt, da half auch das 10:0 gegen Tahiti nichts mehr. Teamchef Mick Waitt war seinen Job los und die Fans in Neuseeland, wo Fußball gegen das übermächtige Rugby ohnehin kaum mehr als ein Nischensport ist, mussten zusehen, wie sich die Salomonen (natürlich vergeblich) im Ozeanien-Finale mit Australien messen durften. Kurz: Der Fußballsport in Neuseeland war 22 Jahre nach der einzigen WM-Endrundenteilnahme endgültig am Boden angekommen.
Und dann meinten es die Fußballgötter erstmals wieder gut mit den Kiwis: Denn der übermächtige Konkurrent Australien wechselte in den Asien-Verband. Der Weg zumindest ins Play-Off war, Peinlichkeiten wie dem 2:4 gegen Vanuatu natürlich vorbehalten, plötzlich wieder frei. Und auch der Weg zum Ozeanien-Titel, den die Kiwis unter dem neuen Teamchef Ricki Herbert 2008 auch gewinnen konnten. Das Schaulaufen gegen die weltweite Konkurrenz beim Confed-Cup im Sommer ’09 sorgte aber für eine harte Landung in der Realität: Gegen Spanien stand es schon zur Halbzeit 0:4, auch einem schwachen Südafrika war man unterlegen. Die ernüchternde Bilanz nach dem 0:0 gegen den Irak (der von einer WM-Qualifikation meilenweit entfernt war): Keine Chance gegen starke Teams, null Tore in drei Spielen, dafür vorgeführt von einer noch gnädigen spanischen Mannschaft. Realistische Hoffnungen, das WM-Playoff gegen den Asien-Fünften zu überstehen: Wenig.
Aber weil die Fußballgötter es diesmal eben gut mit den Kiwis meinten, ließen sie den kleinen Wüstenstaat Bahrain die großen Saudis im Entscheidungsspiel, wer gegen Neuseeland antreten durfte, eliminieren. Vor den Spielen galten die Wüstensöhne gegen die beim Confed-Cup so kläglich auftretenden Neuseeländer als leichte Favoriten, waren sie schließlich vor vier Jahren schon nur denkbar knapp an der letzten Hürde gescheitert. Bahrain war einfach dran, zu einer WM zu fahren. Die Neuseeländer? Heillos. Aber die unverhoffte Chance vor Augen bündelten die Kiwis alle Kräfte, hielten im Hinspiel ein 0:0 – und entfachten so in der Heimat einen wahren, nie gekannten Fußball-Boom (in der Rugby-freien Zeit, aber immerhin). Das Westpac Stadium in der Hauptstadt Wellington war mit 35.200 Zuschauern prallgefüllt. Zuschauerrekord in der neuseeländischen Fußball-Geschichte!
Alle wussten: Jetzt oder nie. Und in diesem entscheidenden Spiel stiegen Stürmer Rory Fallon (der per Kopf das 1:0 erzielte) und Torhüter Mark Paston (der den nach Schiri-Beleidigung gesperrten Einsertorwart Glen Moss glänzend ersetzte und einen Elfmeter hielt) zu Helden auf: Die Neuseeländer haben sich also tatsächlich für die Endrunde in Südafrika qualifiziert. Als erstes Land überhaupt, dass während der ganzen Qualifikation nicht ein einziges Land besiegen musste, das mehr als eine Million Einwohner hat.
Natürlich ist das neuseeländische Team eines der objektiv schwächsten, das bei dieser Endrunde an den Start gehen wird – wenn nicht gar das schwächste im ganzen Starterfeld. Das Grundgerüst der Mannschaft von Teamchef Ricki Herbert (49) bilden Spieler des ebenfalls von Herbert betreuten Team Wellington Phoenix, das als einzige neuseeländische Mannschaft an der australischen Profiliga „A-League“ teilnimmt – ein Mittelständler in einer nach europäischen Maßstab bestenfalls zweitklassigen Liga.
Bekannte Namen oder gar Stars sucht man im Aufgebot der Kiwis vergeblich. Stürmer Chris Killen, der im Winter von Celtic Glasgow zu Middlesbrough wechselte, ist da noch am Ehesten ein Begriff; womöglich auch Kapitän Ryan Nelsen – der Kapitän verdient bei den Blackburn Rovers sein Geld. Aber sonst? Eine No-Name-Truppe. Partner von Nelsen in der Innenverteidigung ist Ben Sigmund, auf den Außenbahnen sind Tom Lochhead und Dave Mulligan vorgesehen – alles Aktuere vom neuseeländischen Vorzeigeklub aus der A-League. Im defensiven Mittelfeld ist Rekord-Teamspieler Ivan Vicelich gesetzt, der langjährige Holland-Legionär (Roda Kerkrade) kann aber auch in die Abwehrkette rücken. Sollte das der Fall sein, übernimmt Routinier Simon Elliott den Part als Staubsauger; denkbar ist allerdings auch eine Doppelsechs. Elliott spielt seit vielen Jahren – einen missglückten Abstecher nach Fulham ausgenommen – in der amerikanischen MLS.
Eine etwas offensivere Position nahm im Playoff der eigebürgerte Schotte Michael McGlinchey ein. Er ist zwar gebürtiger Neuseeländer, durchlief aber die Jugend-Nationalteams der Schotten und wurde bei Celtic Glasgow ausgebildet; die Alternative zum Jung-Teamspieler wäre Tim Brown. Angesichts der höheren Qualität der Gegner bei der WM-Endrunde wird es wohl eher zu einer defensiveren Spielanlage kommen. Soll heißen: Es ist nicht undenkbar, dass die Außenstürmer Bertos und Killen an die Mittelfeld-Seiten gestellt werden und vorne Shane Smeltz oder Rory Fallon die Solo-Spitze geben. Der Spieler der Zukunft ist bei den All Whites aber sicherlich Chris Wood: Der 18-jährige Hoffnungsträger in der Offensive ist beim englischen Zweitligisten West Bromwich engagiert, und er kommt beim Aufstiegsaspiranten auch regelmäßig als Joker zum Einsatz.
Natürlich: Ein Weiterkommen der „All Whites“ wird’s trotz der vergleichsweise leichten Gruppe nicht spielen, aber es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass sie nicht ganz ohne Punkte wieder die weite Heimreise antreten müssen. Denn neben dem klaren Gruppenfavoriten, den zuletzt eher mäßigen Italiener, bekommt es Neuseeland mit den Slowaken mit einem der schwächeren Vetreter Europas zu tun, und Paraguay im letzten Spiel könnte schon durch sein oder nur noch einen Punkt zum Achtelfinal-Einzug brauchen.
Die Fußballgötter meinten es also wieder gut, mit den Neuseeländern.
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NEUSEELAND
ganz in weiß, Nike – Platzierung im ELO-Ranking: 74.
Spiele in Südafrika:
Slowakei (Mittagsspiel Di 15/06 in Rustenburg)
Italien (Nachmittagsspiel So 20/06 in Nelspruit)
Paraguay (Nachmittagsspiel Do 24/06 in Polokwane)
TEAM: Tor: James Bannatyre (35, Team Wellington), Glen Moss (27, Melbourne), Mark Paston (32, Wellington Phoenix). Abwehr: Andrew Boyens (26, RB New York), Tom Lochhead (28, Wellington Phoenix), David Mulligan (28, Wellington Phoenix), Ryan Nelsen (32, Blackburn), Stephen Old (24, Kilmarnock/Sco), Aaron Scott (23, Waitakere), Ben Sigmund (29, Wellington Phoenix), Ivan Vicelich (33, Auckland). Mittelfeld: Andrew Barron (29, Team Wellington), Leo Bertos (28, Wellington Phoenix), Jeremy Brockie (22, North Queensland/Aus), Tim Brown (29, Wellington Phoenix), Jeremy Christie (27, Waitakere), Simon Elliott (36, San Jose/USA), Michael McGlinchey (23, Central Coast/Aus). Angriff: Kris Bright (23, Shrewsbury/Eng 4.), Rory Fallon (28, Plymouth/Eng 2.), Chris Killen (29, Middlesbrough), Shane Smeltz (28, Gold Coast/Aus), Chris Wood (18, West Bromwich).
Teamchef: Ricki Herbert (49, Neuseeländer, seit Februar 2005)
Qualifikation: 2:0 auf Fidschi, 2:1 auf und 4:1 gegen Vanuatu, 3:1 auf und 3:0 gegen Neukaledonien, 0:2 auf Fidschi. Playoff 0:0 in und 1:0 gegen Bahrain.
Endrundenteilnahmen: 1 (1982, Vorrunde)
>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Elfenbeinküste, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile
* Anm.: Die Platzierungen im ELO-Ranking beziehen sich auf den Zeitpunkt der Auslosung.