Epilog gegen Frankreich: Des Bundesadlers Brut und die WM 1998, Teil 4

Zufrieden war niemand mit dem Abschneiden Österreichs bei der WM. Ein Weltuntergang war das Aus nach den beiden Remis gegen Kamerun und Chile sowie der Niederlage gegen Italien jedoch auch nicht. Das vorrangige Gefühl war, dass mit etwas mehr Mut zum Risiko das Erreichen des Achtelfinales gegen Brasilien absolut drin gewesen wäre und dass die WM eine verpasste Chance war.

Fünf Wochen nach dem Final-Triumph über Brasilien gastierte der frischgebackene Weltmeister Frankreich im fast ausverkauften Happel-Stadion. Österreich empfand dies als große Ehre und als Chance – einerseits darauf, sich selbst zu beweisen, dass man so ein Weltklasse-Team schon fordern kann. Andererseits darauf, ein Signal auszusenden: Die WM war kein Erfolg, aber wir sind gut genug aufgestellt, um mittelfristig das Niveau halten zu können.

Punkt eins gelang gut, man trotzte Frankreich ein 2:2 ab. Man redete sich auch ein, dass damit Punkt zwei als bestätigt zu betrachten ist – und im Nachhinein ist die Diagnose klar: Man verkannte die Realität. Umso schmerzhafter war ein halbes Jahr später in Valencia der Aufprall auf dem Boden der Realität. Weil man den in dieser Form nicht kommen gesehen hat. Nicht nur, aber auch wegen des Spiels gegen Frankreich am Mittwoch, dem 19. August 1998.

Warum lief es bei der WM nicht besser?

Zunächst ein erster Blick zurück auf die WM. Die Zuschreibung „zu vorsichtig“ ist sicher eine faire Bewertung. Nicht zuletzt waren es Andi Herzog und Toni Polster selbst, die vor einigen Wochen auf Servus-TV gesagt haben. „Wir haben geglaubt, dass Kamerun eine Wunder-Mannschaft ist. Unsere Scouts haben berichtet, dass die richtig super sind und statt Vollgas waren wir schon wieder auf der Handbremse“, ärgerte sich Herzog da und Polster ergänzte: „Gegen Kamerun hätten wir gewinnen müssen, weil die in Wahrheit die Schwächsten waren.“

Das war das Schlüsselspiel, von da an war es ein (zu) steiler Berg. Das Remis gegen die aus österreichischer Erwartung überraschend starken Chilenen war schon schmeichelhaft. Und im letzten Spiel gegen die trockenen, humorlosen Italiener gewinnen zu müssen – in diese Situation hätte man sich gar nicht erst bringen dürfen.

Die starke Quali vs. die verbremste WM

Den Großteil der Qualifikation hatte Österreich in einem 3-4-1-2 gespielt. Es etablierte sich ein nominelles Sturm-Duo Polster/Vastic mit Herzog dahinter, wobei Vastic immer einen sehr großen Wirkungskreis hatte. Allerdings war das legendäre Schweden-Heimspiel das einzige gegen ein Top-Team, in dem das so war. Ansonsten hatte sich Prohaska das nur gegen Estland, Lettland und Weißrussland getraut. Und bei der WM eben erst im letzten Spiel, mit Reinmayr statt Herzog.

Österreich in der Quali für die WM (links) und bei der WM selbst (rechts)

In Erwartung einer sehr starken Truppe aus Kamerun opferte Prohaska die zweite Spitze zugunsten eines zusätzlichen Mittelfeldspielers, auch wegen der Erfahrungen aus den Niederlagen gegen Ungarn und die USA im Vorfeld. „Ich wollte ja bei der WM eigentlich noch offensiver auftreten, um den Gegner zu überraschen“, gab Prohaska im Kicker-Interview zu, nach diesen Testspielen „haben wir das schnell wieder ad acta gelegt.“

Selbst als schnell klar geworden war, dass Kamerun eine taktisch gut eingestellte, aber technisch limitierte und vor allem recht unkreative Mannschaft war, änderte Prohaska nichts. Die entscheidende Umstellung kam erst nach dem Rückstand für die letzten zehn Minuten – und nicht schon in der Halbzeit.

In der Qualifikation hatte sich Österreich mit dem 0:0 daheim gegen Schottland und dem 0:2 in Glasgow früh massiv unter Druck gebracht. Man musste die verbleibenden sechs Spiele alle gewinnen. Das gelang zwar, aber diese Erfahrung mag dazu geführt haben, dass Prohaska dachte: Nicht schon wieder gleich am Anfang alles in Gefahr bringen. Erreicht wurde mit dem Zurückweichen unter Ergebnisdruck genau das Gegenteil.

Das Spiel gegen Frankreich

Wie fehlender Ergebnisdruck das Team positiv beeinflussen konnte, sah man gegen Frankreich im August. Dieses Match hat gleichermaßen aufgezeigt, was bei der WM möglich gewesen wäre, aber auch, warum gewisse Schwächen einfach vorhanden und eben nicht durch „mehr Mut“ auszugleichen waren. Nicht alles wurde damals richtig bewertet, das fällt mit dem heutigen Wissen um die weitere Entwicklung natürlich leicht.

Österreich – Frankreich 2:2 (1:1)

Ohne Torhüter Fabien Barthez, Abwehrchef Laurent Blanc und dessen kongenialen Nebenmann Marcel Desailly, ohne den eleganten Ballverteiler Emmanuel Petit sowie Stéphane Guivarc’h, der längst vergessenen Verlegenheits-Sturmspitze, kam Frankreich nach Wien. Eine Reservisten-Truppe war das von Jacquet-Nachfolger Roger Lemerre aber beileibe nicht: Zauberer Zidane war da, Kapitän Deschamps war da, Defensiv-Allrounder Thuram war da, der athletische Dauerläufer Christian Karembeu von Real Madrid war da, Jungstar Thierry Henry war zwei Tage nach seinem 21. Geburtstag ebenfalls da.

Die Personalien Polster, Herzog und Konsel

Bei Österreich gab es eine maßgebliche Veränderung zum WM-Stammpersonal: Toni Polster war nicht mehr dabei. Vorangegangen war ein Hin-und-Zurück des 34-Jährigen. Herbert Prohaska erzählte Jahre später in einem Kicker-Interview: „Von der ersten bis zur letzten PK hat Toni betont, dass er dankbar ist, noch diese WM spielen zu dürfen, aber dann ist es aus. Er hätte gegen Frankreich ein super Abschiedsspiel haben können, aber plötzlich sagt er, er hört nicht auf. Dann habe ich ihm erklärt, dass wir vorne schnellere Stürmer brauchen. Dann hat er gemeint, okay, er setzt sich auf die Bank. Aber das tu‘ ich mir nicht an, dass der Mayrleb vielleicht eine Chance vergibt und dann schreien 45.000 im Happel-Stadion „Toni, Toni, Toni“. Schade, er hätte ein würdigeres Abschiedsspiel haben können als dann Jahre später vor 15.000 Leuten gegen den Iran.“

„Einer ist der Chef, einer muss bestimmen“, sagte ein sichtlich angebissener Polster damals in einem ORF-Interview, „und wenn der Teamchef meint, mich zu diesem Zeitpunkt rausnehmen zu müssen, ist das sein gutes Recht.“ Bei Andi Herzog war ein Verbleib beim ÖFB-Team nicht ganz klar, vor dem Frankreich-Spiel bekannte sich der knapp 30-Jährige doch zur Fortsetzung seiner Team-Karriere. Zu seinen Zehenproblemen kam aber in der Werder-Saisonvorbereitung nach einem Crash mit Dieter Frey ein Bruch des Mittelfußknochens dazu – monatelange Pause.

Und Michael Konsel räumte das Tor, und zwar von sich aus. Er durfte gegen Frankreich die ersten 20 Minuten spielen und bekam dann seinen Abschiedsapplaus, ehe der 36-Jährige den Staffelstab an den zwei Jahre jüngeren Franz Wohlfahrt übergab.

Forscher Start, bis Frankreich mitmachen will

Durch das französische 4-2-3-1 war Schopp als Manndecker gegen Henry hinten gebunden und Österreich fehlte quasi komplett die rechte Seite. Mählich – der bei der WM der effektivste Spieleröffner gewesen war – war mit der Bewachung von Zidane vollauf beschäftigt. Davon abgesehen begann das ÖFB-Team aber durchaus forsch. Ein spürbarer Gegensatz zu den extrem vorsichtigen Anfangsphasen in allen drei WM-Spielen.

Erstmals durfte Sturms „Magisches Dreieck“ mit Hannes Reinmayr, Ivica Vastic und Mario Haas beginnen, mit dem flotten österreichischen Start hatte aber zumindest Reinmayr nicht sehr viel zu tun. Vastic, Kühbauer und Wetl versuchten, im Mittelfeld mit schnellen Pässen und mutigen Laufwegen jenes Tempo in die österreichische Offensive zu bringen, das bei der WM gefehlt hatte und das Prohaska sehen wollte.

Die Franzosen sahen sich das ein paar Minuten an, ehe Karembeu und Deschamps die Sache in den Griff bekamen. Österreichische Ballgewinne waren fortan zumeist von gut gemeinten, aber problemlos von den Franzosen abgefangenen Pässen gefolgt. Es dauerte eine Viertelstunde, bis Lizarazu flanken konnte – vom drei Meter entfernt stehenden Schopp andächtig beobachtet – und Laslandes vor dem Tor die Lücke zwischen Pfeffer und Schöttel fand. Kopfball, Tor, das 1:0 für Frankreich.

Der Weltmeister rückte weiter auf, beschäftigte die Österreicher. Es sah ein wenig so aus wie ein 17-Jähriger, der seinen 13-jährigen Cousin beim Kickerl im Garten schon am Leben lässt, aber halt doch im entscheidenden Moment körperlich wie gedanklich den entscheidenden Schritt schneller ist.

In Sachen Hannes Reinmayr

Und hier kommt Hannes Reinmayr ins Spiel. Er hatte eine starke Saison bei Sturm Graz hinter sich, bei der WM war er von Medien und Fans anstelle des lädierten Herzog gefordert worden. Nur: Als er gegen Italien spielen durfte, war er in 80 der 90 Minuten kaum zu sehen und nun, gegen Frankreich, war Reinmayr ein kaum am Spiel beteiligter Passagier – während Vastic neben ihm die Arbeit für drei Leute verrichtete, sich die Bälle sogar ganz hinten abholte, im Mittelfeld anspielbar war, nach vorne Akzente zu setzen versuchte. Es war Vastic‘ Lochpass, der nach 42 Minuten den Ausgleich durch Mario Haas ermöglichte.

Der Erzählung, dass Reinmayr ein verkanntes Genie war, dem von einem alternden bzw. halb verletzten Herzog der Platz verstellte gewesen wäre, ist rückblickend nicht haltbar. Herzog war selbst im Spätherbst seiner Karriere (und 1998 war er definitiv schon über dem Zenit) international erprobter und tempohärter als Reinmayr und er traf unter Druck schneller die richtigeren Entscheidungen – auf diesem Niveau hatte Herzog einfach die Nase vorn. Im Sommer 1998 brachte auch ein gesunder Reinmayr keinen echten Mehrwert gegenüber einem angeschlagenen Herzog.

Reinmayr war ein sehr guter Spieler auf nationalem Niveau mit starkem Raumgefühl, ordentlicher Technik, Spielwitz und wachem Auge. In Spielen mit kontrolliertem Rhythmus konnte er Akzente setzen, gegen Top-Nationen bzw. in den Champions-League-Spielen mit Sturm Graz aber machten sich fehlendes Tempo und fehlende physische Präsenz bemerkbar. Nach dem Frankreich-Match absolvierte er nur noch fünf weitere Länderspiele.

Entscheidender als die Frage „Herzog oder Reinmayr?“ war aber wohl die Frage „Warum nicht mit Vastic?“ bzw. „Warum nicht Haas statt Polster?“ Die zweite Frage ist mit Hierarchien und Rollen innerhalb des Teamgefüges zu erklären. Fraglos wäre ein schneller Konterstürmer wie Haas besser für die Spielweise bei der WM geeignet gewesen, aber Strafraum-Stürmer Polster als Kapitän, verlässlicher Torjäger und öffentliche Kultfigur war einfach gesetzt.

Die soziologische Rolle von Vastic…

„Ivo, jetzt bist du ein echter Österreicher!“ Die berüchtigte Headline der „Kronen Zeitung“ nach Vastic‘ Ausgleich im WM-Spiel gegen Chile mag gut gemeint gewesen sein, offenbarte in ihrer impliziten Unappetitlichkeit aber viel. Der gebürtige Kroate war seit Winter 1995/96 österreichischer Staatsbürger und als zweiter eingebürgerter Jugoslawe nach Goran Kartalija wurde Vastic ÖFB-Teamspieler. Anders als der holzgeschnitzte Ausputzer-Libero vom LASK, der sich im Nationalteam nicht hatte etablieren können, brachte Vastic aber eine sichtbar neue Note in die Mannschaft. Er war ein Unterschieds-Spieler mit einer sehr ambivalenten öffentlichen Wahrnehmung.

Denn er war der erste prominente ÖFB-Spieler, der mit dem damals noch absolut gängigen, grob abwertenden Etikett „Tschusch“ belegt wurde. Jugoslawische bzw. generell nicht-österreichische Herkunft wurde dabei klar als Makel markiert, auch im Kontext „Vastic im ÖFB-Dress“. Diese Grundstimmung ging nicht weg, selbst als sich Vastic seinen Respekt erarbeitet hatte. Tomislav Kocijan, der ab Herbst 2000 als dritter eingebürgerter Fußballer vom Balkan ein paarmal für Österreich spielte, wurde bei seinem Debüt gegen den Iran mit einem sehr unmissverständlichen Plakat auf der Tribüne empfangen: „Baric, wer wird der nächste Jugo sein?“ (Spoiler: Es war Zeljko Vukovic.)

Bei der WM war Vastic hingegen nur Joker, durfte erst gegen Italien von Beginn an ran. Seine zehn Minuten gegen Kamerun waren aber der klare Wink mit dem Zaunpfahl, wie Österreich es besser hätte anlegen können.

…und Vastic als Antwort auf die WM-Probleme

Roman Mählich, dem ungerechterweise immer das Image des limitierten Beißers anhing, hatte sich bei der WM als wichtigster Aufbauspieler profiliert. Seine Vertikalpässe waren sinnvoll, kamen oft an und waren das einzige konstant funktionierende spielerische Element im Vorwärtsgang. Wolfgang Feiersinger war ein progressiver Libero (weshalb er in Dortmund als Back-up für den mit Knieproblemen kämpfenden Matthias Sammer so wertvoll war), der immer wieder von hinten ins Mittelfeld dribbelte.

Aber dort war eben zumeist Schluss. Didi Kühbauer war verlässlich, brachte Intensität, gewann Zweikämpfe und seine Qualitäten als Aktiver werden heute gerne unterschätzt – aber ein Kreativspieler im engeren Sinn war er nicht. Heimo Pfeifenberger hätte der Verbindungsspieler nach vorne sein können oder sein sollen, er musste sich jedoch in Zweikämpfen mit Simo, Acuña und Pessotto aufreiben.

Aber: Als Österreich gegen Kamerun mit Stöger und Vastic in der Schlussphase zwei Zehner hinter der Solo-Spitze Polster hatte, konnte man sofort großen Druck ausüben. Nicht mit Zufallsprodukten der Marke Brechstange, wie gegen Chile. Nicht nur mit schnellen Vertikalbällen und der Hoffnung auf einen folgenden Stanglpass, wie in der kurzen Druckphase gegen Italien. Sondern kontrolliert.

Das starke 1:1 im Herbst 1995 gegen Portugal: Stöger und Herzog als Doppel-Zehn hinter Spitze Polster.

Es ist auch nicht so, dass Prohaska so ein System noch nie spielen lassen hätte. Im Herbst 1995 holte er damit, unter großem Druck stehend, ein 3:1 gegen Irland und ein 1:1 gegen Portugal in der EM-Qualifikation. Aus keinem Zehner (wie gegen Kamerun und Chile) wären so gleich zwei geworden, ohne die defensive Stabilität aufzugeben. Warum? Weil gleichzeitig im Mittelfeld aushelfen und als nach vorne denkender und laufender Zehner spielen eine Rolle war, die perfekt für Vastic gewesen wäre und die auch jener nahekam, die er in der Qualifikation für die WM gespielt hatte.

Hätte es so für den Einzug ins Achtelfinale gereicht? Möglicherweise. Hätte es so zumindest besser ausgesehen als ohne ihn in dieser Rolle? Sehr wahrscheinlich.

Reduzierte Lust bei den Franzosen

Für die zweite Halbzeit des Treffens in Wien blieben Zidane, Lizarazu und Deschamps in der Kabine (es kamen Djorkaeff, Candela und Déhu) und auch Herbert Prohaska baute ein wenig um: Peter Stöger (statt Kühbauer im Spiel) besetzte nun die rechte Seite vor Markus Hiden, der anstelle von Schopp die Agenden als Henry-Manndecker übernahm.

2. Halbzeit

Frankreich hatte nicht mehr die ganze große Lust auf die zweite Hälfte, Österreich nach dem etwas aus dem Nichts gefallenen Ausgleich kurz vor der Pause hingegen sehr wohl. Djorkaeff ließ sich oft weit zurückfallen, wie die ganze französische Mannschaft. Feiersinger und Schöttel konnten sich lange den Ball hin und her schieben. Oft kam Mählich dazu, um mit dem Ball aufzubauen, zuweilen sogar Vastic. Es sah zumeist so aus wie bei der WM: Bis ins Mittelfeld war alles kein Problem, ab dort fehlten jedoch Ideen und Tempo.

Einmal zoomte Reinmayr einen genialen Pass in den Lauf von Haas, so kannte man das aus Graz, der Stürmer verzog knapp. Stöger war Punktsieger gegen Candela, Mählich war ohne Zidane viel mehr ins Spiel involviert, das ÖFB-Team setzte sich in der französischen Hälfte fest. Mit Déhu statt Deschamps ging dem französischen Mittelfeld die strukturelle Ordnung verloren.

Und Franck Leboeuf verursachte nach einem richtig nervigen Abend für ihn in der 75. Minute einen Elfmeter für Österreich, als der nur Sekunden zuvor eingewechselte Debütant Christian Mayrleb sehr viel Foul aus sehr wenig Kontakt machte. Vastic verwertete zur 2:1-Führung.

Positive Stimmung trotz französischem Ausgleich

Verlieren wollten die Franzosen das Spiel in Wien dann doch nicht, sie drückten sich nach dem Elfmeter zum 1:2-Rückstand wieder etwas weiter nach vorne. In der 84. Minute chippte Djorkaeff einen Freistoß auf den Kopf von Alain Boghossian, der dem mittlerweile eingewechselten Heimo Pfeifenberger entwischt war – das 2:2. In der Folge okkupierten die Franzosen den Ball, auf ein drittes Tor gingen sie nicht mehr los.

Der vor allem in der zweiten Halbzeit sehr initiative Auftritt sorgte in Österreich für viel Freude. „Was will man mehr?“, strahlte etwa Mario Haas im ORF-Interview und die „Kronen Zeitung“ ortete „eine unglaublich positive Stimmung“ und sah „beste Werbung für die EM-Qualifikation“, bei der sich „ein Grazer Trio Höchstnoten verdiente“ – gemeint waren Vastic, Haas und Mählich. Das Remis gegen Frankreich vermittelte die Stimmung: Bei der WM haben wir uns zu wenig zugetraut, aber diesen Fehler machen wir nicht mehr. In der EM-Qualigruppe mit Spanien, Israel und Zypern wird das schon passen.

Gerade weil man das Frankreich-Spiel falsch interpretiert hatte, ging man mit einem trügerischen Selbstbild in die EM-Qualifikation. Prohaska beging in Valencia zahlreiche Scouting-Fehler: Er konzentrierte sich auf Spaniens Flügelstürmer, während Spieler wie Guardiola und Valerón im Zentrum viel entscheidender gewesen wären. Doch auch abgesehen von diesen taktischen Fehlern war der Trümmerhaufen, den der Kegelabend von Valencia hinterlassen hatte, struktureller Natur. Das Debakel war schlimm, aber das folgende Ignorieren der Gründe dafür war noch viel schlimmer.

Spanien – Österreich 9:0 (5:0)

Das Problem der Altersstruktur

Es gab Problemfelder, die nicht adressiert wurden, wie die Altersstruktur. Das Durchschnitts-Alter bei der WM betrug 29,9 Jahre. Wie sich zeigen sollte, war das Match gegen Frankreich nicht nur für Konsel (36), sondern auch für Heimo Pfeifenberger (31) der letzte Auftritt im ÖFB-Dress, im Herbst folgte Andi Heraf (31). Das 0:9 in Spanien beendete die Teamkarrieren der kompletten Abwehr mit Feiersinger (34), Pfeffer (33) und Schöttel (32) sowie von Arnold Wetl (29) und Hannes Reinmayr (29).

Otto Barić ließ innerhalb der nächsten zwölf Monate zehn Spieler debütieren, darunter Martin Stranzl (19), Alex Manninger (22) und Markus Weissenberger (24). Als Österreich im Oktober 2000 – also nur etwas mehr als zwei Jahre nach der WM – im Happel-Stadion zu einem starken 1:1 gegen Spanien kam, standen nur noch drei der WM-Stammspieler in der Startformation. Herzog, Kühbauer und Cerny nämlich.

Das Problem des Libero-Systems

Zu den ersten Barić-Debütanten gehörten auch Klaus Rohseano (30), Zoran Barisic (29) und Günter Schießwald (26). Sie alle waren deutlich kein Teil der Abwehr der Zukunft, aber andere Spieler hätte auch Prohaska nicht einberufen können. Hier war er machtlos und das gilt auch für die größte, bitterste und nachhaltigste Lektion, die das 0:9 dem ÖFB eigentlich erteilen hätte sollen: Dass das Spiel mit Libero und Manndecker dem Tod geweiht war.

Das wollte in Österreich niemand erkennen, auch nach Valencia nicht. Einzelne Viererketten-Versuche in der Bundesliga – Wolfgang Frank bei der Austria, Per Brogeland beim LASK – sind an einer Mauer des Widerstands der Spieler gescheitert, die sich mit dieser Spielweise nicht anfreunden konnten und/oder sich nicht damit auseinander setzen wollten. Daran war im September 1998 auch Berti Vogts in Deutschland gescheitert.

Als Hans Krankl im August 2002 erstmals im ÖFB-Team die Viererkette probierte, war das so katastrophal vorsintflutlich, dass es zunächst ein einmaliges Experiment blieb. Es brauchte einen Kulturwandel in Fußball-Österreich, dafür waren Lars Søndergaard und Walter Schachner nötig. Und doch ließ Mattersburg-Coach Franz Lederer sogar noch 2007 im Cupfinale Goce Sedloski als Libero zwischen den Manndeckern Jürgen Patocka und Csaba Csizmadia verteidigen.

Wie hätte es auch funktionieren sollen?

Prohaska hatte das fehlende Tempo in der Spitze richtig erkannt und Polster durch Haas ersetzt. Er konnte vor Valencia aber die Abwehr nicht verjüngen, weil kein jüngerer Spieler auch nur annähernd gleich gut war. All das war bekannt, aber Lösungen wurden nur innerhalb des eigenen Frameworks gesucht, anstatt über den Tellerrand hinauszublicken.

Das hätte nach dem 0:9 ein Signal in Form einer Verpflichtung von Roy Hodgson sein können, der zuvor mit großem Erfolg diesen Impuls in der Schweiz geliefert hatte – Hodgson wurde zweimal von Leo Windtner in die Diskussion eingebracht, 1999 und 2002. Das hätten interne Impulse vom ÖFB sein können, wie sie ab 2005 von Willi Ruttensteiner gesetzt wurden mit der Etablierung der Akademien und einem verstärkten Fokus auf taktische Ausbildung.

Ende der 1990er-Jahre aber hinkte Österreich bei diesem taktischen Verständnis hinterher. Die Fragen waren: Stürmer-Typ A oder Stürmer-Typ B? Ein klarer Zehner oder ein vorsichtigeres Mittelfeld? Und wer die besseren Spieler hat, die am Tag X besser performen oder mehr Zweikämpfe gewinnen, der entscheidet das Spiel eben für sich.

Selbst, wenn Prohaska das ändern hätte wollen, wie hätte das gehen sollen? Als Marcel Koller diese Transformation zum Detail-Taktikfokus im ÖFB-Team ab Herbst 2011 endlich anging, brauchte er mehrere Jahre dafür, bis es auf hohem Niveau klappte. Und er hatte schon das dafür nötige Fundament, das nicht nur Prohaska fehlte, sondern auch Barić, Krankl und Hickersberger.

Das Erbe der WM 1998 für Österreich

Niemand konnte oder wollte ahnen, dass die WM-Teilnahme von 1998 für fast drei Jahrzehnte die letzte für Österreich bleiben sollte. Selbst nach dem fürchterlichen Tiefpunkt gegen die Färöer waren es nur acht Jahre gewesen – mit den beiden Europacup-Finalteilnahmen von Salzburg und Rapid in der Zwischenzeit. Wie radikal Österreich den Fahrt aufnehmenden Zug der Fußball-Moderne verpasst hatte und wie massiv das Loch war, das durch das Fehlen einer strukturierten Nachwuchsarbeit entstanden ist, war in seinem erschütternden Ausmaß noch nicht zu erkennen gewesen.

Ja, Österreich war in Frankreich damals zu kleinmütig. Ja, es war eine verpasste Chance, nicht ins Achtelfinale gekommen zu sein. Dort wäre es im Prinzenpark gegen Brasilien gegangen – Kogler statt des gesperrten Schöttel gegen Ronaldo, Pfeffer gegen Bebeto, Cerny/Schopp/Mählich gegen Rivaldo und Roberto Carlos. Vielleicht hätte es so ausgesehen wie im März 1999 in Spanien und man hätte die WM nicht als die frustrierende „Nachspielzeit-WM der verpassten Chance“ in Erinnerung, sondern schlimmer. Vielleicht wäre es ein ehrenvolles Aus geworden und der Höhe- und Schlusspunkt für diese Generation, den es in der Realität mit dem schönen Freundschaftsspiel gegen Frankreich einen Monat nach der WM gab.

Denn das war dieses Spiel gegen den neuen Weltmeister: Der letzte gelungene Auftritt im Rampenlicht einer Vergangenheit, die man in Österreich damals noch für die Zukunft hielt.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.