Sie haben Spanien eliminiert, England verräumt, Japan niedergerungen und Italien ausgeschaltet. Der letzte Schritt, jener gegen Europameister Portugal im WM-Finale, war für die österreichischen U-17-Burschen, der eine, der ein wenig zu groß war. Dennoch: Mit dem erstmaligen Einzug einer rot-weiß-roten Fußball-Mannschaft ins Finale einer Weltmeisterschaft in irgendeinem Format auf irgendeinem Level hat der Jahrgang 2008 Geschichte geschrieben – und gleichzeitig nach einigen dünnen Jahren im Nachwuchs ein Signal ausgesendet.
Bis vor ein paar Wochen hatte praktisch noch niemand mitbekommen, dass die Truppe überhaupt bei der WM dabei ist, spätestens mit dem 4:0-Sieg im Achtelfinale über England waren die Augen aber auf sie gerichtet – vor allem im Lichte des katastrophalen Europacup-Herbstes und der generellen Schwäche der heimischen Liga. Nicht nur, aber vor allem WM-Torschützenkönig Johannes Moser aus dem Red-Bull-Nachwuchs ist nun in Österreich ein bekannter Name und die Hoffnungen, welche die Truppe für die Zukunft geweckt hat, wachsen – typisch Österreich – schon wieder in lichte Höhen.
Aber mal langsam.
Man kann das goldene Tor im Finale durch Anísio beklagen und sich fragen, ob da nicht eine Abseitsstellung vorgelegen ist (unsere Einschätzung: Mit hoher Wahrscheinlichkeit war das Tor korrekt) und dass beim Pfostenschuss des nur Sekunden zuvor eingewechselten Rieders Daniel Frauscher sagen, dass wohl nur wenige Zentimeter zum Ausgleich kurz vor Schluss gefehlt haben (was fraglos stimmt). Zur Wahrheit gehört aber auch: Portugal war körperlich deutlich robuster als die Österreicher, sie ließen defensiv praktisch nichts anbrennen, nahmen Moser ziemlich effektiv aus der Gleichung und Österreich fehlten schlicht die Mittel, um über einen längeren Zeitraum hinweg konkreten Druck auszuüben.

In der zweiten Halbzeit wirkte es zumeist so, als wäre ein 2:0 für Portugal wahrscheinlicher als ein 1:1 für Österreich. Der portugiesische Final-Erfolg geht schon in Ordnung, was ja auch schon in den allerersten Reaktionen aus dem österreichischen Lager nach dem Schlusspfiff eingestanden wurde.
Ganz unabhängig vom Ausgang des Finales, haben sich im Turnierverlauf etwa der baumlange Ifeanyi Ndukwe von der Austria und der athletische Luca Weinhandl von Sturm Graz wie Moser in die Auslage gespielt. Die Umsicht von Vasilje Markovic und die Flügelläufe von Hasan Deshishku (beide Austria) begeisterten ebenso wie der verlässliche Kapitän Jakob Pokorny und die Außenverteidiger Rafael Feldinger und Florian Hofmann (alle drei von Red Bull). Torhüter Daniel Posch, ursprünglich aus der Sturm-Graz-Jugend und nun bei Mainz 05 unter Vertrag, kassierte in seinen sieben Spielen nur ein Gegentor – das im Endspiel.
Der Salzburger Jakob Werner und der Tiroler Loris Husic assistierten der Offensive auf der Zehn und auf keinen Fall vergessen werden darf Dominik Dobis, ursprünglich aus dem Norden Wiens – der Stürmer zog sich im Match gegen England einen Kreuzbandriss zu und wurde fortan von Nicolas Jozepovic erstetzt.

Ein adaptierter Stil
Die Truppe kann schon auch pressen und dem Gegner den Platz und die Zeit am Ball nehmen – so wie Österreichs Teams nun mal spielen. Aber die wirklich auffälligen Features waren andere. Zum einen die praktisch allen Gegnern überlegene Ausdauer: Dass 16 der 17 Tore in der zweiten Halbzeit gefallen sind, ist kein Zufall und der grundsätzliche Ablauf der Spiele zog sich praktisch durch das gesamte Turnier.
Die ersten Halbzeiten waren bestenfalls ausgeglichen. Im Viertelfinale gegen Japan hatte Österreich durchaus Glück, mit einem 0:0 in die Halbzeit zu gehen, auch im Halbfinale gegen Italien hatten die Kontrahenten vor der Pause die deutlich besseren Karten, sogar gegen Neuseeland dauerte es lange und so lange die Engländer nicht in Unterzahl waren, wäre man nicht auf die Idee gekommen, dass Österreich dieses Spiel 4:0 gewinnen sollte.
Aber wenn die anderen kräftemäßig nachließen oder eben nicht mehr ganz die Qualität von der Bank bringen konnten, war Österreich da. Mit den späten Toren gegen Neuseeland im (zugegeben bedeutungslosen) letzten Gruppenspiel. Mit den beiden Treffern gegen Tunesien (85. und 86.) zum 2:0-Sieg in der ersten K.o.-Runde. Hier schraubten sie das Resultat gegen England hoch, hier hielten sie Japan nach der Führung (49.) immer besser in Schach und hier konnte auch Italien nicht mehr zusetzen und brach letztlich auch nervlich ein wenig zusammen.
Österreich hantelte sich nicht ins Finale durch, weil man tatsächlich die zweitbeste U-17-Mannschaft der Welt wäre und einfach besser kicken kann als Japan und Italien, oder weil man die anderen einfach gnadenlos niederpresste – sondern weil man körperlich mehr Stehvermögen hatte. Weil die Defensive über acht Spiele lang bombensicher stand. Weil Johannes Moser, relativ ungewöhnlich für die von den Spielertypen eher eng gefasste heimische Nachwuchsarbeit, auch mit seiner individuellen Klasse und mit unerwarteten Aktionen immer wieder den Unterschied machte. Weil man nie die Nerven verlor und immer konzentriert, geschlossen und bei sich blieb. Und weil man auch in den entscheidenden Momenten ein wenig Glück hatte.

Schwieriger Übergang
Der Übergang vom Junioren- zum Erwachsenenfußball ist die größte Hürde und an dieser scheitern viele talentierte Spieler – aus den verschiedensten Gründen. Die B-Teams wie Liefering, Young Violets und Sturm Graz II sind für viele Fans ein Ärgernis, sie sind für den österreichischen (Nachwuchs)-Fußball aber absolut essenziell: Über sie werden praktisch alle Talente an den Erwachsenenfußball herangeführt. Weil die 17- und 18-Jährigen dort fußballerisch mit den anderen Kickern aus der 2. Liga absolut mithalten können, sie deren Körperlichkeit aus den Jugendligen aber nicht kennen.
Luca Weinhandl, im Jänner 16 Jahre alt geworden, ist schon im Frühjahr Stammspieler im Zweitliga-Team von Sturm Graz geworden, auch Johannes Moser spielt seit April relativ regelmäßig beim FC Liefering, Jakob Pokorny bekam dort auch schon Einsätze. Bei der Austria war der knapp zwei Meter große Ndukwe schon im Frühjahr ein selbstverständlicher Teil der Aufstiegs-Mannschaft und ist auch jetzt in der 2. Liga meistens mit dabei, Deshishku ist dort Einwechselspieler.
Kann man daraus schließen, dass sie alle ihren Weg machen werden und in zwei Jahren Teil ihrer Bundesliga-Teams sind? Natürlich nicht! Das auch nur zu erwarten, wäre sehr gefährlich und die Erfahrung zeigt, dass es praktisch keine Korrelation zwischen „jung oben anklopfen“ und „sich oben etablieren“ gibt, das hat nicht zuletzt der U-19-Jahrgang von vor dreieinhalb Jahren gezeigt. „Man muss alles individuell betrachten. Beim einen ist es gut, mit 16 oder 17 im Profi-Bereich zu sein. Andere brauchen noch ein Jahr länger Akademie“, sagte uns Martin Scherb, Gesamtleiter der Abteilung Talenteförderung im ÖFB.
Dass Moser jetzt Begehrlichkeiten auch außerhalb von Österreich wecken dürfte, ist nicht überraschend. Grundsätzlich weiß sich der Kärntner aber in der erfolgreichen Nachwuchs-Abteilung von Red Bull aber wohl in sicheren Händen und er ist nicht nur sportlich hochbegabt: Er übersprang in der Volksschule eine Klasse. Der Bursch ist clever und wird sich seine Zukunftsentscheidungen gut überlegen.
Die Talente auch behalten
Kleiner Rückblick in den Herbst 2009: Die Schweiz wird sensationell U-17-Weltmeister, mit einem 1:0-Finalsieg vor 60.000 Zusehern gegen Gastgeber Nigeria. Drei dieser Spieler wurden in den folgenden Jahren, teils bis heute, Stammspieler in der Nationalmannschaft: Granit Xhaka, Ricardo Rodriguez und Haris Seferovic. Eine Handvoll weitere etablierten sich, kamen auch zu Einsätzen für die Nati (Kasami und Ben-Khalifa). Das ist für ein U-17-Nationalteam ein sehr vorzeigbarer Output und wäre auch für den aktuellen österreichischen ein schönes Ziel.

Allerdings: Kapitän Freddie Veseli spielte bei der EM 2016 gegen die Schweiz, und zwar im albanischen Trikot. Ersatz-Goalie Joël Kiassumbua wurde Nationalkeeper der DR Kongo, Charyl Chappuis lief im thailändischen Trikot auf. Sead Hajrovic wechselte für die U-21 zum Verband von Bosnien-Herzegowina.
„Es gab hierzu keine offizielle Anfrage beim ÖFB. Somit ist es aktuell bei uns auch kein Thema.“
Dem ÖFB sind in jüngster Vergangenheit auch einige Talente durch die Lappen gegangen. Leon Grgic ist ein aktuelles Beispiel, Emir Karic und Arjan Malic haben sich wie Adis Jasic für Bosnien entschieden, Mert Müldür ist Stammspieler für die Türkei. Aktuell gibt es auch auf der Frauen-Seite Interesse vom bosnischen Verband an U-20-WM-Spielerin Almedina Sisic von der Wiener Austria. Beim ÖFB weiß man grundsätzlich schon seit einige Monaten, dass sich Bosnien um die aus Purgstall an der Erlauf stammende Offensiv-Allrounderin von Tabellenführer Austria Wien buhlt. „Wir haben sie jüngst in den Perspektiv-Kader aufgenommen und beobachten ihre Entwicklung“, bestätigt ÖFB-Frauen-Teamchef Alex Schriebl, Sportdirektor Peter Schöttel sagt über das bosnische Interesse an der quirligen Almi aber auch: „Es gab hierzu keine offizielle Anfrage beim ÖFB. Somit ist es aktuell bei uns auch kein Thema.“
Es gibt für viele mehrere Möglichkeiten
Im Herbst 2009 schmiss Didi Constantini einen damals 17-jährigen David Alaba in den letzten zehn Minuten ins WM-Quali-Spiel in Frankreich hinein, um ihn für Österreich zu sichern. Die geradezu plakative, panische Hastigkeit, mit der das damals geschah, war wohl eher unbegründet – ob der Ur-Wiener Alaba jemals wirklich für Nigeria aufgelaufen wäre, erschien bei Licht betrachtet schon eher unwahrscheinlich.
Dennoch: Man sollte auch bei den U-17-Burschen jetzt aufpassen. Die Familie von Hasan Deshishku ist einst aus Barileva im Kosovo nach Österreich gezogen, Ifeanyi Nduwke hat (wie Alaba) einen nigerianischen Vater, die Eltern des Rapidlers Kenny Nzogang stammen aus Kamerun, Vasilje Markovic hat wie Sergej Savic und Filip Aleksic familiäre Wurzeln in Serbien, Nicolas Jozepovic in Kroatien, Loris Husic in Bosnien, Dominik Dobis in der Slowakei. Wohlgemerkt: Es soll in keinster Weise angedeutet werden, dass irgendeiner von denen das auch nur im Blick hat. Die betroffenen Verbände haben das aber vermutlich schon auf dem Radar. Serbische Medien beispielsweise schon mal in jedem Fall.
Erwartungen am Boden halten
Natürlich werden in Österreich jetzt Erinnerungen wach an den Sommer 2007 und den österreichischen Semifinal-Einzug bei der U-20-WM in Kanada. Man darf behaupten, dass dieser Jahrgang den österreichischen Fußball bis zu einem gewissen Grad gerettet hat. Zum einen psychologisch, weil da eine junge, erfrischende und vor allem taktisch clevere Truppe in einer Zeit daher kam, als der heimische Kick darniederlag und man der Heim-EM deutlich mehr entgegen zitterte als entgegen fieberte.

Zum anderen, weil neun Spieler aus dem damaligen Kader Einsätze im A-Nationalteam bekommen haben, vier davon (Prödl, Junuzovic, Harnik und Kavlak) wurden Stammkräfte. Das ist eine ungewöhnlich reichhaltige Bilanz und war auch möglich, weil man bei der U-20 natürlich schon sehr viel näher am „echten“ Fußball dran ist als bei den 17-Jährigen. Das ist ein Unterschied, den man den Burschen, die noch nicht lange aus der Pubertät heraußen sind, unbedingt zugestehen muss.
Das heißt nicht, dass man alle jetzt noch sklavisch zwei Jahre in den Jugendligen oder den Zweitliga-Teams belassen muss. Der Erfolg bei der WM heißt aber auch nicht, dass nun alle sofort in die Bundesliga raufgezogen werden müssen. Entscheidend ist die individuelle Entwicklung in den nächsten zwei bis drei Jahren, nicht nur von der fußballerischen, sondern auch von der persönlichen Reife her. Auch Verletzungen spielen bei der Entwicklung natürlich eine Rolle, weil man gerade in diesem Alter die wichtigen Schritte macht – was nur schwer möglich ist, wenn man nicht trainieren und nicht spielen kann.
Und falsche Karriere-Entscheidungen können eine vielversprechende Laufbahn massiv entgleisen lassen. Frag nach bei Yusuf Demir.
Wichtige Signalwirkung
Freuen wir uns über den großartigen Erfolg, den die Burschen in Katar eingefahren haben, auch wenn es im Finale nicht ganz geklappt hat. Denn mindestens ebenso wichtig wie die konkreten Ergebnisse und die Entwicklung der beteiligten Spieler ist die Signalwirkung, die von diesem Einzug ins WM-Finale ausgeht.
Seit jenem U-21-Team, das 2019 bei der EM in Norditalien dabei war und von dem viele ins Nationalteam raufbefördert wurden, war in Österreichs Nachwuchs-Fußball nicht mehr viel los: kaum neue Talente, kaum wenige Turnierteilnahmen. Die angesprochene U-19 von 2022 hat – obwohl sie nur knapp an einer WM-Teilnahme vorbeigeschrammt ist – letztlich nur Leopold Querfeld für das A-Team hervorgebracht, und das war in den letzten neun Jahren die einzige Teilnahme einer 19er an einer EM.
Bei der U-17, die 2019 unter Manfred Zsak bei der EM war, standen Nikolas Polster und Thierno Ballo im Kader, mehr der mittlerweile 24-jährigen Spieler werden nicht mehr kommen. Jene, die letztes Jahr unter Martin Scherb ins EM-Viertelfinale gekommen ist, muss man noch abwarten: Jacob Hödl von Sturm Graz war da dabei und Salzburgs Backup-Goalie Christian Zawieschitzky, Tejiri Adejenughure aus dem Bullen-Stall ebenso, auch Philipp Maybach von der Austria. Alle diese Teams aber flogen unter dem öffentlichen Radar, kein Nachwuchs-Team zog die österreichische Öffentlichkeit so in ihren Bann wie diese U-17 in den letzten zwei Wochen. Dieses Schlaglicht, das nun auf den heimischen Nachwuchs scheint, ist wichtig.
Weil es eben nicht selbstverständlich ist, dass sich Österreich bei den Großen dauerhaft in den Top-16 Europas etabliert.