Europameister bei den Männern? Spanien. Amtierender Nations-League-Sieger? Spanien, bei den Männern und den Frauen. Amtierender Frauen-Weltmeister? Genau, Spanien. Sieger der Women’s Champions League? Der FC Barcelona, zum dritten Mal in den letzten vier Jahren.
Zum ersten Mal haben sich Spaniens Frauen nun auch für ein Olympisches Turnier qualifiziert und selbstverständlich sind Aitana Bonmatí und Co. der klare Favorit auf Gold. Wer soll sie schlagen – das US-Team, auf der Suche nach einer neuen Identität? Die Französinnen, die im Nations-League-Finale im Februar völlig chancenlos waren? Titelverteidiger Kanada, die wankelmütigen Deutschen, die aufstrebenden Australierinnen, die cleveren Japanerinnen oder gar der kommende WM-Gastgeber Brasilien?
Oder spielen sie alle in Wahrheit nur um Silber oder Bronze?
Ein spezielles Turnier
Nur: So ein olympisches Turnier bietet anderer Unwägbarkeiten als eine WM oder eine EM. Da wäre zunächst der Kalender. Sechs Spiele in 17 Tagen, alle drei Tage ein Match – das ist eine Knochenmühle. Gleichzeitig durften die Verbänden nur 18 Spielerinnen nominieren, bei der WM letztes Jahr waren es noch 26 Spielerinnen gewesen.
Durch den relativ späten Termin mit Start Ende Juli fällt das Turnier zudem nach eine verkürzte Sommerpause anstatt im Anschluss an eine Saison. Andererseits kommen acht der zwölf Teilnehmer ins Viertelfinale und die Gruppenphase ist für die Favoriten eher nur ein Platzieren für den K.o.-Baum. Dieser kommt ob all dieser Umstände bei Olympia nicht selten eher random daher.
Wer ist dabei, wer fehlt?
In Europa wurde erstmals nicht das Abschneiden der vorangegangenen WM als Qualifikation hergenommen, sondern die zwei Teilnehmer neben Gastgeber Frankreich auf sportlichem Weg in der Nations League ermittelt. Spanien als Sieger und Deutschland als Dritter haben sich hier durchgesetzt; Frankreich hätte sich als NL-Finalist auch sportlich die Teilnahme gesichert. Das heißt, dass Schweden erstmals (!) bei einem Olympia-Turnier fehlt, auch Europameister England (als „Team GB“ 2012 und 2021 mit dabei) und die Leeuwinnen der Niederlande sind nicht vertreten.
In Asien haben sich Japan und Australien durchgesetzt; China ist wie Südkorea schon vor den Entscheidungsspielen an Nordkorea gescheitert. Die Südamerika-Plätze wurden gemeinsam mit den WM-Tickets an Brasilien und Kolumbien vergeben (bei der WM war auch Argentinien noch dabei), Concacaf-Meister USA war direkt dabei, Titelverteidiger Kanada musste nochmal in ein Playoff gegen den Concacaf-Dritten Jamaika und gewann das 2:0 und 2:1.
Neuseeland spazierte zum Ozeanien-Ticket und in der Afrika-Quali, rein nach K.o.-Format ausgetragen, setzten sich in den ungemein engen Finalspielen Nigeria (hauchdünn gegen Südafrika) und Sambia (nach Verlängerung gegen Marokko) durch.
Der Weltmeisterinnen: Spanien
Nach dem WM-Triumph hat man sich in der Nations League im vergangenen Herbst und der EM-Quali in diesem Frühjahr zwei Patzer erlaubt – ein 2:3 gegen Italien und ein 1:2 in Tschechien. Davon abgesehen war Spanien absolut makellos unterwegs: Zwei Siege gegen Schweden (3:2 und 5:3), zwei Siege gegen Dänemark (2:0 und 3:2), zweimal hat man die Schweiz verprügelt (5:0 und 7:1), dazu kamen die Machtdemonstationen im Final-Four der Nations League mit dem 3:0 gegen die Niederlande und dem zu knappen 2:0 im Finale gegen Frankreich.
In den 14 Pflichtspielen seit dem WM-Finale hat Trainerin Montse Tomé insgesamt 30 Spielerinnen eingesetzt, was wiederum Bände über die Kadertiefe spricht. Sieben bis acht Spielerinnen der Grundformation kommen von Liga- und Europacup-Dominator FC Barcelona oder sind dort ausgebildet worden; dazu kommen Linksverteidigerin Carmona, Sechser Abelleira und Flügelstürmerin Athenea von Real Madrid, die sich ins flüssige Gesamtspiel gut einfügen.
Das Spiel dreht sich um Weltfußballerin Aitana Bonmatí auf der Acht, ein Inbegriff des La-Masia-Fußballs: Klein, wenig, gedankenschnell, technisch perfekt, fehlerfreies Passspiel, grandioses Auge, kann antizipieren und auch noch Tore schießen. Doch selbst, wenn man die 26-Jährige an die Kette nimmt, bringt das oft nichts: Abelleira hinter ihr kann nicht nur die Abwehr abschirmen, sondern ebenso ein Metronom sein, die Qualitäten von Hermoso oder Putellas sind bekannt. Mariona Caldentey hat ein extremes Gespür für Räume und Laufwege, die Außenterteidigerinnen Batlle und Carmona sind Waffen im Spiel nach vorne, die Innenverteidigerinnen sind spielstark und Sprinterin Salma Paralluelo war – aller technischen Schwächen zum Trotz – mit ihrem Tempo schon bei der WM kaum zu halten.
Nach dem holprigen Start ihrer Amtszeit als Nachfolgerin des ungeliebten und im Zuge der Rubiales-Affäre aus dem Amt gespülten Jorge Vilda wirken Tomé und ihr Team zumindest nach außen wie eine echte Einheit. Wenn alles normal läuft, kann sich Spanien am Weg zum Gold eigentlich nur selbst schlagen – aber, wie erwähnt, das haben sie in den letzten Monaten auch schon zweimal geschafft.
Spaniens Gegner: Japan, Brasilien, Nigeria
Rückblende, Wellington in Neuseeland, 31. Juli 2023: Japan hat im letzten WM-Gruppenspiel gegen Spanien nur 23 Prozent Ballbesitz, gewinnt dennoch mit 4:0. Fast auf den Tag ein Jahr später kommt es zur Revanche im ersten Olympia-Gruppenspiel. Seit der WM, bei der sich das radikal verjüngte japanische nach vier grandiosen Spielen im Viertelfinale von Schweden abkochen hat lassen, kam die Nadeshiko ein wenig ins Holpern.
Das lag weniger an einem stockenden Lernprozess, sondern an personellen Sorgen. WM-Torschützenkönigin Hinata Miyazawa hat sich im Dezember den Knöchel gebrochen, die linke Flügelspielerin Jun Endo das Kreuzband gerissen, Hina Sugita spielt bei Portland in den USA eine schwache Saison. Man hatte im Quali-Playoff gegen Nordkorea extreme Mühe, beim SheBelieves Cup verlor Japan knapp gegen die USA und remisierte gegen Brasilien.
Ikeda hat zuletzt eher mit einem 4-2-3-1 gespielt statt mit dem 5-4-1 der WM, er hat personelle Optionen. Fuka Nagano hat sich bei Liverpool (als Nebenfrau von Marie Höbinger) ein Jahr in der englischen Liga abhärten können, Miyazawa ist zurück, mit Kumagai – die zuletzt in Testspielen aus der Innenverteidigung auf die Sechs vorgerückt ist – kann Ikeda ohne personelle Wechsel wieder die Fünferkette herstellen. Kiko Seike, die nun noch mit 27 Jahren den Sprung nach England zu Brighton wagt, ist eine Option auf dem Flügel.
Die Spielweise hat sich seit der WM nicht geändert: Japan hat kein Problem damit, dem Gegner den Ball zu überlassen, weil das Team extrem gut organisiert ist, die Räume manipulieren kann, technisch gut ist, schnell denken kann und durch immer mehr Legionärinnen in Europa, und da vor allem in England, auch von körperlicher Robustheit nicht mehr abgeschreckt ist.
Mit einigen Fragezeichen kommt Brasilien zum olympischen Turnier. Nicht, was das grundsätzliche Potenzial angeht, das ist fraglos da. Aber mit welchen Personal und in welchem System Teamchef Arthur Elias, der nach dem WM-Vorrunden-Aus gegen Jamaika letztes Jahr von Pia Sundhage übernommen hat, ist völlig offen.
Beim W Gold Cup im Februar und März, wo Brasilien mit zahlreichen frischen Gesichtern aufgetaucht ist, erreichte man nach den bleiernen Jahren unter Vadão und Sundhage mit erstaunlich frischem, flinkem und ineinander greifendem Spiel und einem 3-4-3 das Finale, unterlag dort der USA in einem engen Spiel. Beim SheBelieves Cup im März war es wieder ein 3-4-3, aber mit völlig anderem Personal – die Alten wie Marta, Cristiane und Tamires waren dabei, dazu ein paar komplett Unbekannte. Dann, bei zwei Tests gegen Jamaika, war es personell eine Mischung, dafür mit einmal mit 4-3-3 und einmal mit 4-2-3-1.
Stammkräfte wie Bia Zaneratto, Debinha und Torhüterin Luciana fehlen im Aufgebot komplett, Cristiane – die zwischendurch dabei war – ebenso, auch Geyse von Manchester United ist nicht mal auf Abruf. Dafür ist Marta wieder da und Kerolin scheint im Kader auf – obwohl die nach ihrem Kreuzbandriss seit Oktober kein Spiel mehr in den Beinen hat.
Es ist der letzte echte Pflichtspiel-Härtetest für Brasilien vor der Heim-WM in drei Jahren und in diesem Kontext muss man dieses Turnier sehen. Man darf nach den ermutigenden Auftritten darauf hoffen, dass Brasilien eine geschlossenere Mannschaft sein wird, nicht mehr nur eine Ansammlung an Individualisten. Und dieses Turnier wird der internationale Abschied von Marta: Die 38-Jährige hat im April noch einmal bekräftigt, das dies ihre letzten Länderspiele werden. Bei der WM 2023 war sie nur noch Wechselspielerin.
Der vierte im Bunde in der Gruppe C ist Nigeria. Bei der WM waren Oshoala und Co. trotz großer interner Turbulenzen zwischen Verband und Team ins Achtelfinale vorgestoßen und hätten dort beinahe England eliminiert. Der Verband, der Waldrum im WM-Vorfeld offiziell medial ausgerichtet hat, ihn für ein „ahnungsloses Großmaul“ und einen „Schmarotzer“ zu halten, verlängerte dann doch mit dem US-Amerikaner. Dieser blieb erfolgreich, qualifizierte Nigeria in einem engen Playoff gegen Südafrika (1:0 und 0:0) für Paris.
Und Waldrum blieb auch unbequem, fordert weiterhin öffentlich mehr Commitment vom Verband: „Wir sind wie Journalisten, die noch mit Bleistift und Block arbeiten, nicht mit modernen Geräten wie die anderen!“ Instrumente zur Leistungsmessung gibt es nicht, Tracking-Software ebenso nicht. Mit Nnadozie vom FC Paris, einer der besten Torhüterinnen der französischen Liga, und Angriffs-Sprinterin Oshoala (die in der NWSL bei Bay FC in San Jose spielt) ragen zwei Spielerinnen aus dem ansonsten guten, aber nicht überwältigenden Kollektiv heraus. Ein Viertelfinal-Einzug wäre eine kleine Überraschung.
Die Rekordsiegerinnen: USA
Das US-Team ist nicht nur Rekord-Weltmeister (1991, 1999, 2015, 2019), sondern auch Rekord-Olympiasieger (1996, 2004, 2008, 2012). Die planlosen Darbietungen beim peinlich frühen Aus im WM-Achtelfinale letztes Jahr – nachdem man schon das Olympia-Turnier von Tokio verhackt hatte – sorgten aber für eine schwere Identitätskrise. Man musste erkennen, dass die Europäer, die immer schon technisch und taktisch besser waren, nun auch athletisch kicken können.
Nachdem die große Generation der Zehner-Jahre um Rapinoe, Morgan, Lloyd und Ertz in die Jahre gekommen war, ist deutlich geworden, dass man unter der damaligen Überlegenheit im eigenen NWSL-Saft schmorend den Anschluss zum aufmagazinierten Europa verloren hat. Die naheliegende Lösung: Man holt sich eine jene Trainerinnen aus Europa, die mit dafür verantwortlich ist – Emma Hayes. Der US-Verband war letzten Herbst nach der WM so verzweifelt, dass er die komplette Saison auf die langjährige Chelsea-Trainerin gewartet hat.
Hayes, die siebenmal mit Chelsea englische Meisterin war, hat sich während der Saison von Twila Kilgore vertreten und personelle Grundlagenarbeit leisten lassen. Sie hat nun exakt vier Testspiele hinter sich, keines davon gegen ein Team von Olympia-Kaliber. Einzelne Rückschlüsse lassen sich ziehen, furchtbar ins Detail gehen konnte Hayes aber sicher noch nicht.
Das große Problem unter Vorgänger Andonovski war, dass es praktisch keinen Aufbau im Mittelfeld gab. Die Idee war, den Ball irgendwie ins Angriffsdrittel zu bolzen und dort mit überlegener Physis und mit individueller Qualität vor das Tor zu kommen. Mit diesem primitiven Spiel hätte man bei der WM fast sogar gegen Portugal verloren.
Im Gegensatz dazu setzt Hayes nun bewusst auf Spielerinnen im Mittelfeld, die vielleicht nicht über-kreativ gestalten können, aber doch Stabilität durch Passsicherheit bieten. Sam Coffey ist, was Michael Carrick früher bei Manchester United war: Unauffällig, gutes Stellungsspiel, keine spektakulären Pässe, aber auch keine Fehlpässe. Korbin Albert läuft viel, kann Präsenz zeigen und arbeiten, ist aber menschlich durch ihre ablehnende Haltung zu LGBTQ-Themen intern isoliert. Kapitänin Lindsey Horan sieht sich als Bindeglied zwischen Mittelfeld und Angriff, hat Routine und Führungsqualitäten.
Was sie alle miteinander nicht sind: Zweikampf-Monster. Jaelin Howell von Louisville, die einzige echte Abräumerin in der NWSL mit amerikanischem Pass, spielt im Nationalteam keine Rolle. Hayes geht das Risiko ein, im Mittelfeld die Ballsicherheit gegenüber der Absicherung der Abwehr zur priorisieren; in ihren vier Spielen gab es noch kein Gegentor, aber bei allem Respekt, da ging es gegen Südkorea (2x), Mexiko und Costa Rica. Naomi Girma ist auf dem Weg dazu, die beste Abwehrspielerin der Welt zu werden, defensiv sicher und mit einem grandiosen ersten Pass gesegnet. Hexerin ist sie aber keine. Und Sambia kommt im ersten Spiel mit einigen ganz scharfen Konter-Waffen daher.
Es ist für das USWNT kein Übergangsturnier, kein reines Test-Event auf dem Weg in eine taktisch-spielerisch tolle Zukunft. Das kann es für ein Team wie das der USA nicht sein, für das die höchsten Ansprüche gerade gut genug sind und bei dem bei jedem Antreten alles außer dem Turniersieg als fundamentaler Fehlschlag betrachtet wird. Genau das ist in dieser Situation vermutlich das Problem: Wenn einzig das Ergebnis zählt, rückt der Weg dorthin und die zugrunde liegenden Leistungen in den Hintergrund.
Diese Diskrepanz zu moderieren, wird eine zentrale Aufgabe für Hayes sein. Wenn sie das Gold nicht holt, ganz sicher. Noch viel mehr aber wahrscheinlich, sollte sie das Gold tatsächlich holen.
Die US-Gegner: Deutschland, Australien, Sambia
So richtig gerechnet damit haben sie beim DFB nicht, dass sie sich tatsächlich für die Spiele qualifizieren würden. Im Nachgang der komplett verunglückten WM vor einem Jahr brach der Vulkan bei Deutschland aus: Die atmosphärischen Störungen zwischen Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg, old-school in den Methoden und kühl-distanziert im menschlichen Umgang, traten offen zu Tage. Von nicht vorhandener Kommunikation war die Rede, Trainerin und eine junge Generation von fordernden, mündigen Spielerinnen waren nicht kompatibel, eine echte spielerische Strategie war in den drei Spielen in Australien ohnehin nicht zu erkennen.
Im Oktober erfolgte nach einer veritablen Hängepartie die Trennung und Horst Hrubesch sollte das Schiff wieder irgendwie in ruhige See führen, während im Verband erst eine neue Verantwortliche für den Frauenfußball gesucht wurde (es kam Nia Künzer) und dann ein hauptamtlicher Voss-Nachfolger (es wird nach Olympia Christian Wück übernehmen). Unter Hrubesch spielte Deutschland mal ganz okay und mal ziemlich schlecht, aber viel wichtiger: Alle kamen wieder gerne zum Nationalteam. „Der Horst“, wie auch die Spielerinnen den nordischen Seelenstreichler liebevoll nennen, brachte menschliche Wärme und Berechenbarkeit.
Für die Entwicklung einer mittel- und langfristig tragfähigen Spielidee sieht sich Hrubesch nicht zuständig, dafür sah er im permanenten Ergebnisdruck auch keine Zeit, und so sieht das deutsche Spiel auch aus. Es ist alles Work In Progress, zumal nach der Kreuzbandverletzung von Lena Oberdorf eine Woche vor Turnierstart im EM-Quali-Spiel gegen Österreich. Wenn es um die Verteilung der Medaillen geht, ist der Olympiasieger von 2016 eher nur Außenseiter. Das Erreichen des Viertelfinales muss aber das absolute Minimal-Ziel sein, wenn man schon einen der drei europäischen Startplätze hat.
Australien hat vor einem Jahr bei der Heim-WM für akutes „Tillies Fever“ gesorgt: Die Matildas rissen mit dem dramatischen Halbfinal-Einzug die ganze Nation mit. Den Grundstein hatte Tony Gustavsson mit einem überraschend guten Olympia-Abschneiden 2021 in Japan gelegt, als Australien erstmals bei einem Welt-Turnier in ein Halbfinale eingezogen war.
Letztes Jahr hatte Gustavsson lange auf die angeschlagene Star-Stürmerin Sam Kerr verzichten müssen, Runde um Runde wurde gezittert, ob sie fit wird. Nun ist von Haus aus klar: Kerr ist nach ihrem im Jänner erlittenen Kreuzbandriss definitiv nicht dabei. Und das ist ein Problem, denn das Spiel ist natürlich auf die beste Spielerin ausgerichtet. Wie letztes Jahr bei der WM baut Gustavsson grundsätzlich auf ein 4-4-2 – grundsolide Abwehr, schnelle Flügelspielerinnen. Das Mittelfeld-Zentrum hat war auf diesem Niveau nicht besonders große Kreativität zu bieten, dafür umso mehr Lunge.
Am Wohlsten fühlt sich Australien, wenn man dem Gegner den Ball überlassen kann und die schnellen Flügel bzw. in weiterer Folge Stürmerin Kerr schicken kann. Ohne die 30-Jährige von Chelsea wird wohl Michelle Heyman ganz vorne ran müssen, entweder mit Mary Fowler als Adjutantin oder mit Emily van Egmond oder mit Cortnee Vine (Fowler spielt sonst links, Gorry im Zentrum). Heyman hat viel Routine, war schon vor acht Jahren bei der WM dabei, aber von der Klasse einer Kerr ist sie weit entfernt.
Das Spiel der Matildas ist fußt darauf, nicht in Rückstand zu geraten. Die Bilanz gegen starke Teams ist seit der WM ernüchternd: Drei Niederlagen gegen Kanada, ein Remis und ein knapper Sieg gegen China. In der Olympia-Quali hatte man etwas Losglück und mit unterlegenen Kontrahenten der Kragenweite Taiwan, Philippinen und Usbekistan keine Probleme.
Ein drittes internationales Semifinale in Folge wäre ein großer Erfolg für die Matildas, die allerdings auch auf den vierten Gruppengegner achten müssen. Frag nach bei Deutschland – ein Jahr ist es her, dass die DFB-Elf in Fürth ein Testspiel vor der WM 2:3 gegen Sambia verloren hat.
Vor drei Jahren war Sambia überraschend mit dabei, war zwar in der Defensive vogelwild, aber schoss China vier Tore und Holland drei. Bei der WM zog man in der Gruppe gegen Spanien und Japan den Kürzeren, schärfte aber das Profil. Rachel Kundananji (um 800.000 Euro zum Bay FC) und Barbara Banda (um 700.000 Euro zu Orlando) sind nicht nur die teuersten Transfers der NWSL-Geschichte, sie sind dabei überhaupt die teuersten Fußballerinnen bisher. Die Konter von Sambia über die beiden sind gefürchtet und sie sind es auch, das das individuell sonst recht schwache Team konkurrenzfähig machen.
Sambia ist aber auch ein mahnendes Beispiel dafür, wieviel hinter den Kulissen oft noch im Argen liegt. Dass sich Trainer Bruce Mwape an seinen Spielerinnen vergeht, gilt in der Szene weitgehend als verbrieft; dass er sie (wie bei der WM auch FIFA-Delegierte) begrapscht, steht zweifelsfrei fest. Der 64-jährige Lustmolch genießt dennoch das Vertrauen des Verbandes, Frankreich gewährte ihm aber nur nach langem Hin und Her ein Visum und nur unter der Auflage, dass er keinen privaten Kontakt zu den Spielerinnen hat.
Die Gastgeberinnen: Frankreich
Die Französinnen haben nach einer soliden WM das Viertelfinale gegen Australien im Elfmeterschießen verloren – nach einem zähen 0:0 zum Start gegen Jamaika war man zu einem starken 2:1-Sieg gegen Brasilien gekommen, bewies mentale Widerstandskraft, daran hatte es Frankreich ja immer gefehlt. Nach zahllosen Versuchen erreichte man in der Nations League auch wirklich mal ein (halbwegs) großes Finale. Dort stand halt Spanien auf der anderen Seite, was will man da machen.
Unter Hervé Renard – der nach Olympia einen neuen Job annehmen wird, kolportiert wird Interesse vom US-Verband für das Männer-Team – umweht die Französinnen so ein wenig der kontrollierte Wind der Marke Deschamps. Es ist längst nicht so zurückhaltend wie bei den Männern, aber Renard will eher Kontrolle sehen. Mit Katoto im Sturmzentrum, die nach ihrem bei der EM 2022 erlittenen Kreuzbandriss fast eineinhalb ihrer besten Jahre verloren hat, gibt es eine eiskalte Vollstreckerin.Wenn es der Gegner erlaubt, spielt man sich aber durchaus auch gerne an den Strafraum, mit den Flügelstürmerinnen Diani, Bacha oder Cascarino. In der Viererkette stürmt Karchaoui links gerne weit mit nach vorne, dafür verleiht die deutlich defensivere De Almeida rechts die defensive Balance. Es wird nicht im Block verteidigt, sondern mit gezieltem Mittelfeld-Pressing ein gezielte Aufbau beim Gegner unterbunden.
Mit dem Zugang, dass Kontrolle im Zweifel den Vorzug vor Flair erhält, gab es im Frühjahr in der EM-Quali den Gruppensieg in einer extrem harten Gruppe mit knappen Arbeitssiegen. 1:0 nach früher Führung gegen Irland, 1:0 mit einer späten Ecke in Schweden, man fügte England mit dem 2:1 in Newcastle die erste Pflichtspiel-Heimniederlage seit 19 Jahren zu und gewann auch daheim gegen Schweden 2:1. England revanchierte sich zwar mit dem 2:1 in St.-Étienne und das abschließende 1:3 in Irland – wo sich eine Woche vor Olympia-Start niemand mehr weh tun wollte – war ein wenig peinlich, änderte aber nichts an Platz eins.
Seit dem damals etwas überraschenden WM-Halbfinal-Einzug 2011 gehörte Frankreich praktisch immer zu den Mit-Favoriten, brachte immer einen Weltklasse-Kader daher, hat es aber immer geschafft, viel zu früh zu scheitern. Hervé Renard hat mit Sambia und der Elfenbeinküste den Afrikacup gewonnen, war mit den Männern von Marokko und Saudi-Arabien bei WM-Endrunden. Er weiß, wie man Turnieren managen kann und die Final-Teilnahme in der Nations League bestätigt, dass sein Zugang nicht völlig verkehrt ist.
Der Auftrag beim olympischen Heimspiel lautet selbstverständlich, die Goldmedaille zu holen. Sollte es nach einer möglichen Niederlage im programmgemäßen Halbfinale gegen Spanien „nur“ Bronze werden, wäre das aber dennoch ein schöner Erfolg.
Frankreichs Gegner: Kanada, Kolumbien, Neuseeland
Im Vergleich zu den anderen beiden Gruppenköpfen hat Frankreich vermutlich die am wenigsten starke Gruppe erwischt – man bekommt es mit fraglos guten Teams zu tun, aber nicht mit unbedingten Medaillen-Kandidaten. Oder muss man Kanada doch wieder dazu zählen?
Der Sieger des Olympia-Turniers von 2021 hat damals in Japan den Titel eher ein wenig abgestaubt als ihn mit fliegenden Fahnen erobert. Kanadas große Legende Christine Sinclair, die vor 21 Jahren mit dem WM-Halbfinal-Einzug den Durchbruch geschafft hatte, hat ihre Nationalteam-Karriere nach der WM 2023 beendet, man ist immer noch keine allzu kreative Truppe und der Spielerpool ist relativ klein. Trainerin Bev Priestman bringt aber auf jeden Fall eine sehr patente erste Elf auf den Rasen.
Sie hat nach dem Vorrunden-Aus letztes Jahr (bei dem, wie beim Olympiasieg, die Umstände eine ebenso große Rolle spielten wie die eigenen Leistungen) vom 4-2-3-1 auf ein 3-4-3 umgestellt, in dem die beiden Wing-Backs die signifikanteste Anpassung gegenüber der WM erfahren haben. Priestman hat sie nämlich erstens die Seiten tauschen lassen – Linksfuß Ashley Lawrence spielte im Frühjahr stets rechts, Rechtsfuß Jayde Riviere links. Zum anderen schoben die beiden extrem weit nach vorne, während die Doppelsechs mit zwei aus dem Trio Fleming / Grosso / Awujo gemeinsam mit der Dreier-Abwehr die Tiefenstaffelung absichert.
Damit ist Kanada seit 14 Spielen ungeschlagen, kreuzte dabei dreimal mit Australien, zweimal mit Brasilien und auch mit den USA die Klingen, also absolut nicht nur Fallobst. Ob der personelle Atem reicht, um die vierte Medaille in Folge zu erobern – schon 2012 in London und 2016 in Rio hat Kanada jeweils Bronze geholt – ist eher fraglich. Aber eine Rehabilitation für das frühe WM-Aus vor einem Jahr muss es schon sein.
Weiter gekommen als erwartet ist bei der WM das Team aus Kolumbien, es wurde nach dem Gruppensieg (vor Deutschland) das Viertelfinale. Mit annähernd unveränderter Mannschaft wird nun im dritten Versuch nach 2012 und 2016 das erstmalige Erreichen des olympischen Viertelfinales angepeilt. Fokuspunkt ist natürlich immer noch Wunderkind Linda Caicedo, zu der auf allen Offensiv-Positionen einsetzbaren Caicedo ist mit Mayra Ramírez nun auch eine zweite Spielerin ins Blickfeld gerückt.
Chelsea blätterte für die Stürmerin, die auch am Flügel spielen kann, vor einem halben Jahr einen Ablösesumme hin, die kurzzeitig sogar Weltrekord im Frauen-Bereich war. Wenn Caicedo die unverschämt talentierte TikTok-taugliche Trickserin ist, ist Ramírez der unglamouröse, hart arbeitende und ziemlich erdige Gegenpol. Sie ist aber um nichts weniger torgefährlich. Die starke WM war der Beweis, dass Kolumbien die Krise nach der verpassten WM 2019 (und den damit ebenfalls verpassten Olympischen Spielen 2021) überstanden hat, es nur eine Hürde war, kein Anfang vom Ende.
Der damalige Co-Trainer Ángelo Marsiliga hat nach der WM 2023 von Teamchef Nelson Abadía das Amt übernommen, die Ergebnisse bewegen sich im unauffälligen Bereich des erwartbaren: Gegen Kaliber wie USA und Brasilien geht nicht viel, Mittelklasse-Gegner wie Mexiko und Neuseeland sind aber auf der Abschlussliste.
Apropos Neuseeland. Die Ferns sind natürlich auch wieder dabei, aber statt Optimismus nach dem vorzeigbaren Auftritt bei der Heim-WM mit dem gefeierten Sieg gegen Norwegen, gibt’s kräftig Ärger. Teamchefin Jitka Klimková hat sich mehr oder weniger selbst suspendiert, weil gegen sie eine interne Untersuchung läuft. Was genau zwischen ihr und der Mannschaft vorgefallen ist, halten alle Beteiligten unter Verschluss, aber es muss gravierend sein.
Statt ihr wird ihr 39-jähriger Assistent Michael Mayne das neuseeländische Team bei Olympia betreuen und besonders ermutigend war das erste Jahr nach der WM nicht. Von einem 4:0 gegen Thailand abgesehen, gab es gegen außer-ozeanische Konkurrenz keinen einzigen Sieg und nur drei Tore in acht Spielen gegen Chile, Kolumbien, Sambia, Thailand und Japan. Die große Schwäche von Neuseeland ist der eigene Spielaufbau, dieser kostete auch den Aufstieg ins WM-Achtelfinale (weil man dort gegen die Philippinen und die Schweiz kaum eine Torchance erarbeiten konnte).
Die WM war gegenüber den ambitionslosen Auftritten bei den vielen Turnieren davor – und dank der Nicht-Konkurrenz in der Südsee ist Neuseeland ja immer dabei – ein Fortschritt, weil zumindest ein Bemühen erkennbar war. Routinier Hannah Wilkinson (Siegtorschützin gegen Norwegen) ist in Paris nicht dabei, Annalie Longo ist nur auf Abruf. Im Idealfall nehmen die Ferns da oder dort einen Punkt mit. Die Chance auf ein Überstehen der Gruppenphase war letztes Jahr aber wohl größer.