Die vollkommene Leere in ihren Blicken war die selbe. So ausdruckslos sich Benjamin Šeško tags zuvor von den slowenischen Fans feiern ließ, so abwesend wirkte Marcel Sabitzer bei der Verabschiedung von den österreichischen Schlachtenbummlern. Die beiden haben in diesen Momenten, unmittelbar nach ihrem Achtelfinal-Aus bei der EM, sicher so ziemlich das gleiche gefühlt. Und doch sind ihre Situationen unterschiedlich.
Šeško hatte gegen Portugal in der Verlängerung den Viertelfinal-Einzug am Fuß gehabt, sein Team war danach im Elfmeterschießen ausgeschieden. Für Slowenien war dies eine vermutlich einmalige Chance gewesen: So nah an einen Sieg in einem K.o.-Spiel war man noch nie und wird die personell und qualitativ eher limitierte Truppe wohl auch nicht mehr so schnell kommen.
Best Laid Plans
„The best laid plans of mice and men / Often go astray / And leave us nothing but grief and pain / For promised joy!“ Als der damals 26-jährige Robert Burns, Lyriker und Landwirt, beim Pflügen versehentlich den Bau einer Maus aufriss, dichtete er dieser zu Ehren ein Gedicht. Es war eines seiner bekanntesten, die Grundaussage: So gut du dich auch vorbereitest, irgendwas kann immer schief gehen und deine Pläne durchpflügen.
In den sieben Länderspielen im Jahr 2024 ist Österreichs Mannschaft fünfmal früh in Führung gegangen, hat danach alle fünf Spiele gewonnen. Einmal gelang das nicht, das war gegen Frankreich, es gab ein 0:1. Unangenehm, aber kein Beinbruch – Frankreich ist ein gutes Team und man kann ja nicht alles gewinnen. Gegen die Türken war die Ausgangslage klar: Die wollen spielen, also pressen wir sie an, so wie alle anderen auch, die uns den Gefallen tun, sich nicht hinten zu verbarrikadieren. Und dann waren 55 Sekunden gespielt und die Türken schlugen Österreich mit den eigenen Waffen: Schnelle Führung und dann genau der Rückzug, gegen den die österreichischen Kontrahenten lange keine taugliche Waffen fanden.
Burns tat die Maus dereinst, im November 1785, schon sehr leid, weil er wusste: Das Nagetier hat keine Chance mehr, den nahenden Winter zu überleben. Er schloss das Gedicht jedoch mit den Worten: „Trotzdem hast du’s gut, im Vergleich zu mir / Denn du siehst nur das Jetzt / Aber blicke ich zurück, sehe ich nur Elend / Und weiß ich um die Zukunft nicht / Ahne ich doch und habe Angst.“
Schottland 1785 vs. Österreich 2024
Burns war, wie alle Menschen, ein Kind seiner Zeit, in der das persönliche Leben und die politische Lage noch viel instabiler waren als heute – wenige Monate später starb seine Frau am Typhus, das Königreich war nach dem Verlust der Kolonien in Amerika im Kompetenzstreit zwischen König George III. und dem Parlament gelähmt. Burns, geplagt von chronischem Rheuma, sollte nur 37 Jahre alt werden.
Der noch heute verehrte schottische Lyriker wusste: Die Zeiten sind schlecht und sie werden so schnell nicht besser. Der österreichische Fußball-Fan von heute darf aber wissen: Die Zeiten im heimischen Fußball sind gut und alle Vorzeichen sind da, dass das mittelfristig auch so bleibt. Rangnick hat dem intensiven Werben von Bayern München widerstanden, er bleibt dem ÖFB erhalten. Das ist ein Zeichen für sein Commitment und ein Zeichen für das Standing und das Potenzial, das Rangnick in Österreich sieht.
Kein großer Fundamental-Fatalismus
Denn anders als in der Vergangenheit passen Zielsetzung und Leistungen nun tatsächlich zueinander, auch in der Extremsituation eines großen Turnieres. Es war erkennbar: Dass man früher ausgeschieden ist, als es sein hätte müssen, hat man im Grunde einem schlechten Tag zu verdanken und keinem tiefsitzenden, strukturellen Defizit. Das wird goutiert, nicht nur von den österreichischen Zusehern in Leipzig, die ihr Team mit Jubel und Applaus verabschiedet haben, so wie sie sieben Tage zuvor gemeinsam mit dem Team in Berlin gefeiert haben.
Auch der bei Niederlagen in großen Spielen sonst immer einsetzende typisch österreichische Fundamental-Fatalismus ist längst nicht so ausgeprägt wie man das in den Posting-Sektionen (vor allem, wie gewohnt, im Boulevard) und Sozialen Medien sonst kennt. Es nörgeln die, die immer nörgeln und selbst bei einem EM-Titel noch sagen würde, das wäre alles nur Glück gewesen. Was in den letzten zwei Jahren passiert ist, hat aber nichts mit Glück zu tun und der überwiegende Großteil der Fans weiß das auch.
Vorbildwirkung und Sendungsbewusstsein
Und im ÖFB-Lager wissen sie um die Vorbildwirkung, die sie haben. Mannschaft und Staff agiert als Einheit, zieht an einem Strang – anders als unter Foda, als sich diese beiden Teile mit einem latenten gegenseitigen Misstrauen gegenüber gestanden war. Natürlich: Das Angriffs- und Gegenpressing-Spiel der Rangnick-Schule funktioniert nur, wenn alle mitmachen und sich jeder auf jeden anderen verlassen kann.
Entscheidend ist hier, dass ein Umfeld geschaffen wird, in dem jeder seine individuellen Stärken bestmöglich entfalten kann – und zwar unabhängig davon, ob er der Sohn vom Bundesliga-Trainer oder vom Nationalteam-Stürmer ist, aus dem gut situierten Salzburger Umland stammt oder serbische Wurzeln hat, ob die Eltern aus Kenia nach Wien gekommen sind oder aus Ghana nach Voitsberg.
„Zwar lebt der Kick von reichen Geldgebern und riesigen Businessklubs, die Kicker am Feld sind aber eine klassenlose Gesellschaft“, konstatierte der geschätzte Kollege Georg Sohler von 90minuten vor drei Jahren, „es gibt keine vorgeschriebenen Lebenswege für Rich Kids, zu Sport-Superstars zu werden. In vielen Bereichen setzt der Sport schlicht auf die Talentiertesten. Sportliches Talent kennt keine Klasse und ich glaube, das ist der Grund, warum Fußball in dem Punkt immer in der Kritik steht, weil theoretisch wirklich jeder Habenichts zum Star werden kann.“
Die positive Stimmung dieses von Rangnick und seinen Assistenten geschaffenen Umfeldes war neben der inhaltlich-taktischen Deckungsgleichheit von Potenzial und Spielweise der große Erfolgsfaktor der österreichischen Delegation. Es ist kein Wunder, dass von Ralf Rangnick (in seinem ZiB2-Interview nach dem Holland-Spiel) und Michael Gregoritsch (ausgerechnet auf Servus-TV nach dem Aus gegen die Türkei) explizit gegen die rechte Seite des politischen Spektrums ausgesprochen haben: Harmonische Bedingungen schaffen, in denen man unabhängig seiner Wurzeln als Einheit funktionieren kann, ist nun mal eben tendenziell linkes Gedankengut.
Und dieses Weltbild und der offene Umgang damit sind keine Ablenkung vom sportlichen Auftrag, wie Gregoritsch und Co. aus der angegriffenen Ecke vorgeworfen wird, sondern im Gegenteil die grundlegende, unverzichtbare Basis-Voraussetzung für das Funktionieren. Österreich hat in den letzten zwei Jahren Kroatien, Italien, Deutschland und Schweden (2x) besiegt, hat gegen Belgien und Frankreich gepunktet, nun bei der EM Erfolge gegen Polen und die Niederlande eingefahren. Dieses Team funktioniert, daran ändert die knappe Niederlage gegen die Türkei nichts.
Summe mehr als die Einzelteile
Das Publikum ist dann am Besten mitzureißen, wenn es merkt: Hier ist die Summe besser als die Einzelteile. Ja, es gibt die Spieler von Bayern München und von Borussia Dortmund und von Real Madrid. Das Gros des Kaders stammt von Mittelständlern in guten Ligen. Österreich hat nicht die Fülle an rohem Talent wie andere Teams, aber Österreich spielt – wie von internationalen Beobachtern teils mit Bewunderung, teils mit offener Ablehnung festgestellt wurde – wie eine Klub-Mannschaft.
„Hier kann er die Redbullisierung des österreichischen Fußballs letztgültig vollenden“, hieß es an dieser Stelle am 2. Mai 2022, nach Rangnicks Vorstellung als Teamchef. Nun gibt es den „Red-Bull-Fußball“ in unverrückbarer Absolutheit nicht, aber es gibt gewisse Spielprinzipien, welche weite Teile des Kaders von klein auf verinnerlicht haben. Eine so präzise abgestimmte Spielweise ist selbst den allerbesten Nationalteams kaum möglich.
So kann Österreich auch die bestehenden Defizite in der individuellen Qualität gegenüber den großen ausgleichen. Auf diese Weise kann man eben die Niederlande besiegen, Frankreich fordern oder ein verunsichertes deutsches Team aus den Happel-Stadion wirbeln.
Optimismus auch nach einem Turnier
Die Wahrnehmung eines Turniers war in der Tat seit Jahrzehnten nicht mehr so positiv wie 2024, dem bitteren – und letztlich eher unerwarteten – Achtelfinal-Aus gegen die Türkei zum Trotz.
2008 war sich Fußball-Österreich dem okayen Auftritt bei der Heim-EM seiner Defizite wohlbewusst. Man erwartete mittelfristig einen Aufschwung auf Basis der U-20-WM-Halbfinalisten, war sich aber auch klar, dass es dafür den richtigen Teamchef brauchte. Hickersberger war das nicht, die Freude über Brückner währte nur zwei Spiele, er sah nur auf dem Papier gut aus.
2016 reagierte die von einer grandiosen Quali und einem sympathischen Team enthusiasmierte Fan-Öffentlichkeit geradezu persönlich beleidigt über das missratene Turnier. Dass die Erwartungshaltung überzogen sein könnte, hätte man erkennen können, jedenfalls ließ die verunglückte folgende WM-Quali die Liebe zu Koller bei den Fans erkalten und ÖFB-intern sah man die Gelegenheit gekommen, den unbequemen Sportdirektor Willi Ruttensteiner loszuwerden.
2021 ging man nach dem rasanten Sieg gegen die Ukraine und dem tollen, engen Achtelfinale gegen Italien mit vorsichtigem Optimismus aus dem Turnier heraus. Könnte das mit Foda womöglich doch noch was werden? Das Tauwetter dauerte genau bis zum nächsten Länderspielfenster, ehe „Foda Raus!“-Rufe durch das Happelstadion peitschten.
Mal war man einfach nicht gut und wusste das. Mal glaubte man, weiter zu sein, als man war. Mal wurde klar, dass das die Realpolitik nicht mit dem Potenzial mithalten konnte. 2024 ist das anders: Das österreichische Nationalteam steht auf einem mittlerweile relativ breiten Fundament und die zwei Jahre seit der Verpflichtung von Ralf Rangnick als Teamchef haben gezeigt, dass die Beobachter in der Foda-Zeit recht hatten: Dieses Team kann richtig gut sein, wenn man es seinen Stärken entsprechend spielen lässt.
Realistisches Standing
Nun ist Österreich natürlich kein europäisches Spitzenteam, zählt realistischerweise auch nicht zu den Top-8, aber man stellt sehr wohl gehobene Mittelklasse dar – also genau das, was das Potenzial nun mal hergibt. Österreich geht im vergleichenden Elo-Rating innereuropäisch auf Platz 11 aus dieser EM raus, so gut ist man seit 43 Jahren nicht mehr dagestanden (nach der Quali für die WM 1982 war das). Als Marcel Koller von Didi Constantini übernahm, lag Österreich hier auf Platz 34 in Europa.
Dass es noch viel weiter nach oben geht, ist kaum darstellbar, da stehen die Frankreichs und Englands, die Portugals und Spaniens der Welt. Aber den Status im Bereich des Rennens um den „Best Of The Rest“ zu halten, darf ein legitimer und realistischer Anspruch sein. Die Qualifikation für die WM in Amerika in zwei Jahren ist ein logisches Ziel, aber kein Selbstläufer, weil man nach dem Nations-League-Abstieg von 2022 aus dem zweiten Topf gezogen wird und damit entweder einen Gruppenkopf eliminieren oder sich durch das Playoff kämpfen wird müssen.
Und das Personal?
Marko Arnautovic hat bereits angedeutet, dass seine Teamkarriere nach 116 Einsätzen (plus einem eventuellen Abschiedsspiel, sollte er er solches bekommen) als Rekord-Nationalspieler zu Ende sein wird. Alle anderen dürften aber bis 2026 noch dabei sein, es bleibt also eine eingespielte Truppe, es bleiben aber auch deren personelle Schwächen bestehen. Vor allem die fehlenden Alternativen ganz vorne stechen dabei heraus.
Der sich im besten Fußballer-Alter befindende Kern der 2024er-Mannschaft rekrutiert sich aus jenem Team, das vor fünf Jahren als bisher einzige U-21-Truppe des ÖFB an einer Endrunde teilgenommen hat, dort Serbien besiegt und gegen den späteren Finalisten Deutschland remisiert hat – Christoph Baumgartner war damals so jung, dass er sogar noch zwei Jahre später U-21-berechtigt war.
Sasa Kalajdzic kämpft mit Verletzungen. Adrian Grbic hatte einen guten Nations-League-Herbst 2020, aber seine Karriere in der Ligue 1 ist nie vom Fleck gekommen. Mathias Honsaks Karriere in Deutschland pendelt zwischen Bundesliga und 2. Liga, Marko Kvasina war nie ein echtes Thema für das Nationalteam.
Die U-19, die sich vor zwei Jahren am Weg zur U-20-WM selbst ein Bein gestellt hat, sieht – wie das aktuelle A-Team – besser aus als die Einzelteile. Querfeld ist im EM-Kader, Veratschnig versucht sich ab sofort in Mainz – ansonsten sehen jene, die zu alt sind für den aktuellen U-21-Jahregang aber nicht so aus, als sollten aus ihnen Nationalteam-Stützen reifen.
Und jene angesprochene U-21, die im Herbst überraschend einen 2:0-Sieg gegen die französischen Altersgenossen (bei denen Barcola, Tel und Rutter im Laufe des Matches eingewechselt wurden) eingefahren hat, weist schon ein gewisses Talent auf. Aber gerade in der Offensive ist wohl auch hier nicht mehr Potenzial da als gutes Bundesliga-Niveau (Ballo spielt beim WAC, Lang bei Rapid, Knollmüller bei Lafnitz, Zimmermann war an den WAC verliehen, Bischof an die Vienna). Und Yusuf Demir ist so oder so ein ganz eigenes Thema.
Matthias Braunöder ist mit Como in die Serie A aufgestiegen, Nikolas Sattlberger wurde mit 19 Jahren Stammkraft bei Rapid und der im Frühjahr am Knie verletzte Dijon Kameri kann jener Wusler im offensiven Mittelfeld werden, der dem Nationalteam gut tut. Der schnelle Manuel Polster wird nun in Lausanne die linke Außenbahn bearbeiten. Muharem Huskovic? Ja, sehr talentiert, bisher aber auch nicht vom Glück begünstigt, hat nach seinem Autounfall ein Jahr verloren.
Und, um die Klammer zu schließen: Ist es wirklich so sicher, dass Slowenien wirklich auch in vier oder in acht Jahren nicht mehr so nahe an ein EM-Viertelfinale kommt? Die aktuelle österreichische U-21 wird nämlich, dem Sieg gegen Frankreich zum Trotz wohl eher nicht zur EM in die Slowakei fahren. Weil Österreich gegen den prognostizierten Letzten Zypern beide Spiele nicht gewonnen hat.
Und weil Slowenien aktuell an der Spitze der Gruppe steht, noch vor Frankreich, im Herbst 2023 in Murska Sobota die ÖFB-Junioren besiegt hat.