Deutschland, Kanada, Brasilien, China, Italien – raus. Die USA auch beinahe. Dafür stehen gleich drei afrikanische Teams im Achtelfinale, Jamaika ebenso, Kolumbien sogar als Gruppensieger. Die Vorrunde der neunten Frauen-WM in Australien und Neuseeland stellte vieles auf den Kopf, was man in der WoSo-Welt für unumstößlich gehalten hat.
Die großen internationalen Karrieren von Marta und Christine Sinclair, sie sind vorbei, ohne dass sie bei ihrer jeweils sechsten (!) WM-Teilnahme einen sportilchen Eindruck hinterlassen haben.
Was war da los?
Allgemeines
Erstmal ganz grundsätzlich zur Gruppenphase. Drei Teams haben alle drei Spiele gewonnen (Schweden, Japan und England), drei sind ohne Gegentor geblieben (Japan, Schweiz und, sehr erstaunlich, Jamaika). Anders als vor vier Jahren sind zwei Teilnehmer ohne eigenen Treffer geblieben, Vietnam (wie erwartet) und Haiti (obwohl dem Team besser war als die Resultate aussagen).
Der Besucherschnitt lag bei knapp 25.500 Zusehern (29.500 in Australien, 21.500 in Neuseeland), das ist sehr beachtlich und damit ist die WM klar auf Kurs zum realistisch anpeilbaren dritten Platz (hinter USA 1999 und China 2007).
Die Aufstockung von 24 auf 32 Teams hat sich angesichts der überwiegend gezeigten Leistungen der sechs Debütanten absolut bewährt. Ja, Vietnam war gegen Holland aussichtlos unterlegen (0:7 und damit noch gut bedient). Aber die Philippinen haben Co-Gastgeber Neuseeland bezwungen, Sambia kam zu einem verdienten 3:1 gegen Costa Rica, Haiti hat allen drei Gruppengegnern das Leben sehr schwer gemacht und hatte China eigentlich am Haken. Panama scorte drei Tore gegen Frankreich, zwei davon absolute Banger. Und Marokko besiegte sowohl Südkorea als auch Kolumbien mit 1:0, zog trotz des 0:6 gegen Deutschland zum Auftakt sogar ins Achtelfinale ein – im Gegensatz zu eben jenen Deutschen.
Die Sache mit Brasilien, der Abschied von Marta
Es muss so um Rio 2016 herum gewesen sein, als sich Marta spürbar veränderte. Brasilien spielte ein okayes olympisches Heimturnier, kam ins Semifinale, eine Medaille schaute aber nicht heraus. Spätestens hier muss Marta erkannt haben: Das mit dem großen Titel mit Brasilien wird sich für sie nicht mehr ausgehen.
Die Glanzzeiten unter Teamchef Jorge Barcellos waren bald ein Jahrzehnt her: Mit ihm als Teamchef, mit dem grandiosen Mittelfeldzentrum Ester/Formiga, mit Sturmpartnerin Cristiane und Marta selbst und einem aggressiven Pressingspiel war Brasilien zu einem der besten Teams der Welt geworden. Das 4:0 im WM-Halbfinale 2007 gegen die USA war wohl Martas bestes Match, eine Machtdemonstration ungekannten Ausmaßes.
Vier Tage später hetzte man im Endspiel das deutsche Team von einer Verlegenheit in die nächste, konnte aber Nadine Angerer nicht überwinden, selbst einen Elfmeter von Marta hielt die deutsche Torfrau, am Ende hieß es 0:2, unverdient.
Die Wahrnehmung von Marta war stets zwiespältig. Dass sie die beste Technikern der Welt war – unbestritten. Dass sie jedes Team besser machte – kein Zweifel. Dass zumindest fünf ihrer sechs Titel als Weltfußballerin hochverdient sind – keine Diskussion. Gleichzeitig aber war ihr Auftreten zumeist obsessiv verbissen, geradezu krankhaft ehrgeizig und das zuweilen offen unfaire Verhalten des Teams – vor allem im legendären WM-Viertelfinale gegen die USA 2011 – strahlte auch auf Marta ab. In der ausklingenden Blütezeit der Seleção zu Beginn der Zehner-Jahre war es sehr schwierig, Sympathie zu dieser brasilianischen Truppe aufzubauen. Olympia 2012 war ein anonymer Reinfall (Viertelfinale), die WM 2015 in Kanada lief komplett an Marta vorbei (Achtelfinale).
Teamchef Vadão war ein schlechter Trainer ohne Vision und Ideen, der Frauenfußball als Ganzes war an Brasilien vorbeigezogen, individuelle Klasse alleine reichte nicht mehr. Umso weniger, wenn der Trainer ein Depp ist und der Verband, tief verfangen im südamerikanischen Chauvinismus und Geringschätzung gegenüber dem Frauenfußball, Hürden eher aufstellt als wegräumt. Diese Hürden sind es, die Marta in ihrer letzten PK vor dem Jamaika-Spiel mit feuchten Augen ansprach.
Das Vorhaben, den Stellenwert des Frauenfußballs ganz generell und in Brasilien im Speziellen mit einem großen Titel der Seleção zu heben, war allerspätestens nach Rio nicht mehr realistisch. Womöglich wich in der Folge auch deshalb die Verbissenheit einer spürbaren öffentlichen Altersmilde. Der Mensch Marta Vieira da Silva wurde in ihrer ganzen Karriere als ungemein herzliche, positive und kollegiale Persönlichkeit beschrieben. In den letzten Jahren ihrer schon merklich ausklingenden Karriere wurde das auch zu ihrer öffentlichen Persönlichkeit – als Mahnerin dafür, dranzubleiben, immer weiter zu kämpfen, um den Frauenfußball zu stärken.
Martas Message
„Wir wissen, was wir im Laufe unserer Karrieren aufgebaut haben. Ich schaue normalerweise nicht so sehr auf mich, eher auf das Große Ganze, und was wir erreicht haben. Wisst ihr, was toll ist? Als ich angefangen haben, hatte ich keine weiblichen Idole. Ihr habt ja nie Frauenfußball gezeigt, übertragen, darüber berichtet. Wie hätte ich wissen sollen, welche Spielerinnen es gibt, oder dass es überhaupt möglich sein kann, eine Karriere zu haben, für Brasilien zu spielen?“
„Heute erkennen uns die Menschen auf der Straße, sprechen uns an, sagen uns: ‚Meine Tochter findet dich super, will genauso sein wie du!‘ Jetzt gibt es Vorbilder im Frauenfußball. Das wäre nicht so, wenn wir vor Hindernissen stehen geblieben wären. Es geht um die Hartnäckigkeit, weiterzumachen. Da bin ich auch nicht die Erste, es gab da schon viele vor mir, aber ich bin Stolz darauf und jetzt ist es an der neuen Generation, die Rolle zu übernehmen: Burschen und Mädchen zu inspirieren, egal welchen Alters. Es macht mich glücklich, diese Entwicklung zu sehen.“
„2003 habt ihr mich kennengelernt, die junge Marta, niemand wusste wer ich bin, es war meine erste WM. Jetzt, 20 Jahre später, bin ich jemand, der viele Frauen zum Fußball gebracht hat. Und ich meine da nicht nur Spielerinnen, sondern auch Reporterinnen. Es gibt jetzt hier viele Frauen, die Sportjournalismus betreiben, das gab es vor 20 Jahren nicht. Wir haben Türen geöffnet zu mehr Gleichberechtigung.“
„Meine Bitte an Brasilien ist, unser Team weiter zu unterstützen, unsere Spielerinnen und unseren Sport, mit dem gleichen Enthusiasmus, mit dem sie uns vor dieser WM unterstützt haben. Für die neue Generation fängt die Reise erst an. Sie werden ihre Möglichkeiten haben, bei der nächsten WM, bei Olympia nächstes Jahr. Ich werden dann nicht mehr dabei sein, aber sie werden es, und sie brauchen die Unterstützung, und zwar immer, nicht nur alle vier Jahre, sondern auch in der Zeit dazwischen. Dann ist es möglich, uns weiterzuentwickeln, besser zu werden und, dass der Frauenfußball noch aufregender wird. Das ist alles, worum ich euch bitte!“
Und warum ist Brasilien nun ausgeschieden? Die langfristige Antwort ist, dass man eben nicht mehr echte Weltklasse ist, den Generationswechsel ein wenig verschlafen hat, Pia Sundhage auch eher eine Trainerin aus den späten Nuller-Jahren als aus den frühen 2020ern ist – wiewohl es Anlass zum vorsichtigen Optimismus gibt, weil eben doch eine neue Kraft nach der anderen da ist. Die kurzfristige Antwort ist, dass man einfach beim 0:0 im letzten Spiel gegen Jamaika nicht durchgekommen ist, sich sonst eigentlich nicht viel vorwerfen muss. Das 4:0 gegen Panama war standesgemäß, beim knappen 1:2 gegen Frankreich – einem wirklich tollen Fußballspiel – war man auf Augenhöhe.
Shit happens.
Deutschland – eliminiert.
Andere große Namen, die auf der Strecke geblieben sind, müssen sich tatsächlich etwas gröbere Gedanken machen. Deutschland zum Beispiel. Im Nachhinein Ereignisse zu interpretieren ist immer ein wenig heikel. Der in unserer Vorschau als blank liegende Nerven gedeuteten Zoff, als es um etwas vergleichsweise Banales wie den genauen Anreisetag der Bayern-Spielerinnen ging, könnte aber tatsächlich ein Indiz dafür sein, dass man im DFB-Lager eine harzige WM fürchtete – und zwar wohlgemerkt schon vor den peinlichen Testspielen gegen Vietnam (2:1) und Sambia (2:3).
Das vor einem Jahr bei der EM noch so beeindruckend präzis gecoachte Team gewann zum Auftakt 6:0 gegen ein von Anlass und Spielverlauf (schnelles Popp-Tor) aus der Bahn geworfene Greenhorn-Team aus Marokko, fiel aber dann gegen Kolumbien und noch mehr gegen Südkorea in die Muster von vor dem Turnier zurück: Überhastet und schlampig im Aufbau, fehlende Abstimmung und teils haarsträubende Defensiv-Schnitzer.
Das Zaubertor von Linda Caicedo war kaum zu verteidigen, aber das Gegentor zum 1:2 gegen Kolumbien in der Nachspielzeit war eine katastrophal verteidige Ecke, das 0:1 gegen Südkorea eine geradezu peinlich verhackte Abseitsfalle, wohl auch eine Folge der Umstellung auf die völlig ungewohnte Dreierkette. Marina Hegering, die ersten zwei Spiele verletzt aussetzend, erlebte einen Albtraum-Abend und der einzige Plan nach vorne war es, den Kugel irgendwie auf den Kopf von Popp zu bolzen.
Im DFB lässt man die lange Verletztenliste nicht als Ausrede gelten und verweist auch explizit nicht darauf, dass Wolfsburg ja eh im Europacup-Finale war, die U-19 das EM-Finale kürzlich erst im Elfmeterschießen verloren hat, man letztes Jahr im EM-Endspiel stand und da eigentlich das bessere Team war. Gut so. Auffällig ist aber in jedem Fall, dass gegenüber der EM letztes Jahr das Trainerteam von Martina Voss-Tecklenburg anders aussieht, Thomas Nörenberg (der explizit taktische Agenden hatte) und Patrik Grolimund (der u.a. für die Gestaltung der Trainingseinheiten zuständig war) sind nach der EM gegangen – aus eigenen Stücken.
Und wegen verletzungsbedingter Abwesenheiten auf eine Dreierkette umgestellt hat auch England, der Europameister hat aber damit gegen Asienmeister China 6:1 gewonnen.
China, Kanada, Italien – alle raus
Ach ja, die Steel Roses. Bemühen wir mal ein Bild aus der Formel 1: Deutschland weiß, dass ein Reifenwechsel ansteht und spekuliert, welchen Typ man auswählen soll, es geht um Details. China hingegen steht noch immer mit einem analogen Sechsgang-Getriebe mit Schaltknüppel da, während alle anderen schon mit der Handwippe elektronisch aus acht Gängen wählen – so grundlegend ist der Rückstand. Der WM-Finalist von 1999, vom Selbstverständnis her immer noch ein Big Player, ist so dermaßen abgehängt worden, dass er nun selbst gegen Haiti schwer in den Seilen hing und nur dank eines Elfmeters gerade noch ein 1:0 rettete, zugegeben in Unterzahl.
Es ist eine Sache, wenn man kollektive körperliche Nachteile in Sachen Robustheit hat, wie es ostasiatischen Teams nun mal eigen ist. Japan kompensiert das mit extrem guten taktischen Maßnahmen, Südkorea mit Routine und Einsatzwille, China gar nicht. Man steht einfach da und lässt sich von einem spielfreudigen englischen Team aus dem Stadion von Adelaide ballern, 1:6, schlimm. Es fehlt der defensive Zugriff, der offensive Plan ist inexistent, und zwar seit Jahren – 2019 gab es ein Tor in vier Spielen, 2023 zwei Elfmeter-Treffer und kein einziges aus dem Spiel.
Und Kanada? Ganz ehrlich: Die Truppe war in Tokio 2021 gut, aber nicht so gut, dass das einen Olympiasieg rechtfertigen würde. Kanada war nun, in Australien 2023, nicht gut – aber gar so katastrophal, dass es zwingend mit einem Vorrunden-Aus bestraft werden hätte müssen, war es zumindest zwei Spiele lang auch nicht. Dieser karmische Kuhhandel ist aber nur ein Teil der zumindest stark bewölkten Großwetterlage im kanadischen Frauenfußball.
Eine Tormaschine war Kanada noch nie, das 0:0 zum Auftakt gegen Nigeria, vergebenem Elfmeter inklusive, war kein Ruhmesblatt, aber auch keine Schandtat. Gegen Irland begann man nach McCabes direkt verwandelter Ecke quasi mit einem Rückstand, gewann noch 2:1. Wirklich in Bedrängnis gebracht hat den Olympiasieger aber Nigerias Überraschungssieg gegen Australien. Statt wie nach Papierform relativ entspannt ins letzte Spiel zu gehen, brauchte Kanada einen Punkt und Australien den Sieg.
Kanada war dem Druck nicht gewachsen, ging 0:4 ein, die WM-Karriere von Weltrekord-Spielerin Christine Sinclair endete mit einer unauffälligen Halbzeit-Auswechslung. Aber die wahren Sorgen in Kanada liegen eher im finanziell arg klammen Verband und den massiven Einschnitten im Umfeld und auch in der Nachwuchsarbeit, die damit notwendig wurden.
Bei Italien war es war, wie es zu befürchten gewesen ist, nur noch schlimmer. Teamchefin Milena Bertolini redet viel und gerne vom Enthusiasmus, den sie entfachen will. Eine klare Idee, wie man den athletischen Stil von Juventus und den spielerischen Stil der Roma zu einem funktionierenden Nationalteam formt, hat sie aber nicht. Ein Jahr nach dem Desater bei der EM wirkten die Azzurre diesmal nicht nur schlecht gecoacht, sondern in Wahrheit gar nicht gecoacht.
Man spielte plan- und ideenlos aneinander vorbei, agierte nicht als Mannschaft, Pässe gingen reihenweise ins Nirvana oder zum Gegner. Gegen Argentinien musste schon ein spätes Tor zum 1:0-Sieg herhalten, gegen Schweden bekam man beim 0:5 einen Eckball nach dem anderen eingeschenkt und beim 2:3 gegen Südafrika lieferte man einen wirklich fürchterlichen Schweinskick, ein katastrophaler Tiefpunkt. „Nach dem Eigentor zum 1:1 haben wir Panik bekommen“, sagte Kapitänin Bonansea danach im TV-Interview, „wir waren selbst unser härtester Gegner!“
USA und Spanien mit Sorgenfalten
Das könnte auch das US-Team über sich sagen. Der Rekord-Champion, in acht WM-Turnieren nie vor dem Halbfinale ausgeschieden, war buchstäblich drei Zentimeter von einem Vorrunen-Aus entfernt – wäre der Schuss von Portugals Capeta in der Nachspielzeit des 0:0 im letzten Gruppenspiel ins Tor statt an die Stange gegangen, wäre auch der Back-to-Back-Titelverteidiger schon im Flieger über die Datumsgrenze zurück in die Staaten.
Das Problem ist das selbe, das schon zu einem schlechten Olymipa-Turnier geführt hat, in dem man in drei der sechs Spiele ohne Torerfolg blieb und man mit Bronze noch gut bedient war. Der Spielaufbau ist darauf aufgebaut, dass lange Bälle aus der Abwehr oder dem Sechserraum in die Angriffsreihe kommen, oft steht in den 40 Metern dazwischen keine Mitspielerin. Die Idee von Vlatko Andonovski ist wohl, dass man mit der individuellen Qualität so den Ballbesitz im Angriffsdrittel sichern kann, wo die USA sehr gut besetzt sind.
In der Realität gelingt das aber nicht, die steil gehenden Achter drängen die Flügelstürmerinnen nach außen, die Gegner wissen um diese Strategie und können sie entsprechend verteidigen. Beim 1:1 im zweiten Spiel gegen Holland (nachdem die USA mit einem un-bemerkenswerten 3:0 gegen Vietnam gestartet waren) legten die Schwächen erstmals bei diesem Turnier so richtig offen.
Im Zentrum verwickelten Roord, Van de Donk und Groenen ihre Gegenspielerinnen sofort in Zweikämpfe, die Wing-Backs drängten die US-Außenverteidigerinnen nach hinten und erschwerten damit deren öffenden Diagonalpässe ins Angriffsdrittel. Die Unterlegenheit war nicht so schlimm wie bei der üblen 0:3-Zurichtung gegen Schweden bei Olympia vor zwei Jahren. Das 1:1 sorgte aber dafür, dass Holland den Grundstein zum Gruppensieg gelegt hat und die USA nun das Achtelfinale gegen eben jenes clevere Team aus Schweden vor der Brust hat.
Das fraglos bemerkenswerteste Match der Vorrunde fand, ebenso wie USA-Holland, in Neuseelands Hauptstadt Wellington statt – nämlich das 4:0 von Japan gegen Spanien. Die Nadeshiko kamen nur auf 23 Prozent Ballbesitz, fuhren aber dennoch den auch in der Höhe verdienten Kantersieg ein.
Das 5-4-1 der Japanerinnen nahm Spanien jeden Raum im Angriffsdrittel. Es gelang den Spanerinnen nie, Tempo aufzubauen und Risikopässe scheuen sie ohnehin – umso mehr, nachdem ihnen schon vor der Pause drei Ballverluste in Form von blitzschnellen Gegenstößen und drei Gegentoren um die Ohren geflogen waren, in der Schlussphase setzte der Weltmeister von 2011 sogar noch ein viertes Tor drauf. Reaktion von Jorge Vilda? Keine. Hilflos spielte man 943 Pässe (gegenüber Japans 272), kam aber kaum ein einziges Mal zu einer echten Torchance.
Ein Spiel, in dem es außer der Verteilung der Achtelfinal-Gegner Schweiz und Norwegen um nichts ging, wurde zu einer schlimmen Schramme für Spanien und einer Machtdemonstration für Japan. Spanien wird zumindest das Halbfinale brauchen, damit dieses Spiel nicht die überlagernde Erinnerung an dieses Turnier bleibt. Japan hat ein Ausrufezeichen gesetzt, nach den erratischen letzten Jahren – als sich Top- und Flop-Leistungen stets abwechselten – aber wohl noch nicht ganz den „Benefit of the Doubt“. Fix ist aber, dass jetzt niemand gerne gegen die Nadeshiko spielen wird. Weder Norwegen noch, in einem möglichen Viertelfinale, der Sieger aus Schweden gegen USA.
Die starken Außenseiter
Vier Teams, mit denen nicht wirklich zu rechnen war, haben die Vorrunde also statt höher eingeschätzten Teilnehmern überstanden: Das afrikanische Trio mit Nigeria (gegen Kanada), Südafrika (gegen Italien) und Marokko (gegenüber Deutschland) sowie Jamaika (gegen Brasilien). Drei von ihnen trotzten großen Schwierigkeiten im Vorfeld und einem Verband, der eher gegen sie als für sie arbeitet.
Jamaika zum Beispiel. Das 0:0 zum Auftakt gegen Frankreich, der erste Punkt bei der zweiten WM-Teilnahme, war schon ein schöner Erfolg und das 1:0 gegen Panama – wohlgemerkt ohne die gesperrte Bunny Shaw, der einzigen Weltklasse-Spielerin im Kader – war schon fast Pflicht. Wirklich erstaunlich war aber, mit welcher Ruhe und Abgeklärtheit man im entscheidenden Spiel Brasilien einfach an sich abprallen ließ. Vor vier Jahren, beim ersten WM-Spiel, war man mit dem 0:3 gegen die Seleção noch gut bedient. Jetzt hat man Brasilien eliminiert, in drei Auftritten kein einziges Gegentor kassiert und noch dazu im Achtelfinale mit Kolumbien den vermeintlich schwächsten Gruppensieger als Gegner.
Dass Nigeria grundsätzlich gute Qualität besitzt, steht außer Frage. Aber in der starken Gruppe und mit dem Wirbel um den offenen Krieg zwischen Verband und Trainerstab? Nichts davon war zu merken: Nigeria trotzte Kanada gleich mal ein 0:0 ab und nützte dann die australischen Unsicherheiten aus, gewann 3:2 gegen den Gastgeber. Damit konnte schon nicht mehr viel schief gehen, ein kontrolliertes 0:0 gegen Irland am Ende reichte, selbst eine knappe Niederlage hätte keinen Unterschied mehr gemacht. Zum dritten Mal nach 1999 (hauchdünn gegen Brasilien verloren) und 2019 (chancenlos gegen Deutschland) steht Nigeria nun in der K.o.-Runde.
Erstmals beim zweiten Antreten hat das auch Südafrika geschafft, obwohl der Verband die Überweisung der von der FIFA für die Spielerinnen vorgesehenen Prämien verweigerte und mit Rauswurf drohte, als die Aktiven ihr Recht mit Nachdruck einforderten. Gegen Schweden lag man schon vorne und kassierte erst ganz spät das 1:2, gegen Argentinien war man klar überlegen und ließ eine 2:0-Führung liegen, kassierte noch das 2:2. Im entscheidenden Match gegen ein verunsichertes Italien machte man es umgekehrt, drehte ein frühes 0:1 in einen späten 3:2-Sieg um, entnervte die Azzurre zwar nicht mit großartigen spielerischen Elementen, dafür mit Coolness und Selbstberherrschung. Der Lohn ist ein Achtelfinale gegen Holland.
Und Marokko belohnte sich einmal mehr für das enorme Investment, mit dem man den Frauenfußball dort in kürzester Zeit auf ein hohes Level hievte. Beim 0:6 gegen Deutschland zahlte man noch Lehrgeld, aber dann folgten zwei 1:0-Siege gegen Südkorea und Kolumbien und damit der sensationelle Einzug in die K.o.-Runde. Nebenbei schrieb Nouhaila Benzina Geschichte, indem sie die erste WM-Spielerin mit Hijab wurde (und zwei starke Partien in der Innenverteidigung absolvierte).
Die beiden Gastgeber-Teams
Australien als Gruppensieger weiter; Neuseeland schafft den ersten Sieg, scheidet aber aus: Genau das konnte man von den beiden Gastgeber-Teams erwarten. Ihre Wege dahin waren aber doch deutlich anders als erwartet.
Neuseeland hat bei der sechsten WM-Teilnahme nun doch endlich das erste Mal ein Match gewonnen – es war aber nicht der programmierte Erfolg gegen Neuling Philippinen, sondern ein 1:0 gleich im Eröffnungsmatch gegen die hoch gehandelte Offensive aus Norwegen. Der Eden Park in Auckland bebte, nun lebte womöglich sogar eine Chance auf den Gruppensieg. In den Matches gegen die Philippinen und die Schweiz wurde aber die große Schwäche deutlich, nämlich das Aufbauspiel. Bei allem Bemühen kamen die Football Ferns kaum gefährlich vor das gegnerische Tor, blieben in beiden Partien ohne Treffer und kassierten gegen die Philippinen sogar eines.
Dennoch hatte man erstmals seit Langem das Gefühl, dass wirklich 270 Minuten lang alles probiert wurde, anstatt – wie leider so oft – nicht an die Chance zu glauben und sich aus Angst vor der eigenen Courage passiv im Schneckenhaus zu verstecken. Im Ganzen war es ein spürbarer Schritt nach vorne für Neuseeland.
Bei Australien fehlte die an einer Wadenzerrung laborierende Stürmerin Sam Kerr an allen Ecken und Enden. Das ganze Angriffsspiel ist auf die Strafraum-Kobra zugeschnitten und ohne sie gab es niemanden, der diese Rolle ausfüllen hätte können. Gegen Irland sicherte ein schmeichelhafter Elfmeter den 1:0-Sieg, ehe gegen Nigeria mehr Spielerinnen aufrückten, um Kerrs Fehlen in der Strafraumbesetzung zu kompensieren und Nigeria den Platz im Rückraum zum 3:2-Sieg nützte.
So brauchte es gegen Kanada zwingend einen Sieg, Kerr saß für den Notfall wieder auf der Bank, aber dieser Notfall ergab sich nicht. Australien erzwang die schnelle Führung, konnte sich dann auf die Kernkompetenz des Defensiv-Gut-Stehens verlegen, entnervte damit die kanadischen Kontrahentinnen, legte das zweite Tor nach und brach damit Kanada endültig.
Vor dem Achtelfinale gegen Dänemark hat Kerr nun sieben weitere Tage Zeit gehabt, ihre Wade auszukurieren.
Das Leben der Anderen
Die Schweiz zeigte nach vorne nicht viel und nach hinten genug, war aber weder wirklich überzeugend noch aufregend. Norwegen hatte seinen schon fast üblichen Gnatsch (diesmal in den Hauptrollen: Barcelona-Star Caroline Hansen und Teamchefin Hege Riise). Dünnen Darbietungen gegen Neuseeland und die Schweiz folgte ein 6:0 gegen die Philippinen ohne die angeschlagene Ada Hegerberg. Dänemark gewann die Schnittpartie gegen China dank eines späten Treffers, war gegen England okay und gegen Haiti das Stückchen besser, wird es gegen Australien aber schwer haben.
Schweden zitterte gegen Südafrika, deutete beim 5:0 gegen Italien seine Gefährlichkeit an, war aber vor dem Achtelfinale gegen die USA auch noch nicht auf hohem Niveau gefordert. Frankreich schon, man bestand den Test gegen Brasilien – gegen Jamaika war man zuvor nicht durchgekommen, danach schenkten die Reservisten Panama sechs Stück ein und kassierten einen Freistoß, einen Elfer und eine Ecke. Irland kämpfte wie erwartet brav, verlor nur knapp gegen Australien und Kanada und trotzte Nigeria einen Punkt ab, zudem scorte Katie McCabe eine direkte Ecke. Portugal versetzte der USA einen mächtigen Schreck, forderte auch Holland und wird in der Nations League eine große Herausforderung für Österreich.
Vietnam war komplett chancenlos und auf WM-Niveau erwartungsgemäß überfordert, war aber auch das einzige Team, dem es so ging. Die Philippinen rechtfertigten ihre Teilnahme mit einem couragierten Auftritt gegen die Schweiz und dem Sieg gegen Neuseeland. Südkorea zeigte gegen Kolumbien (0:2) und Marokko (0:1) sehr wenig, riss im letzten Spiel aber Deutschland mit ins Aus – ähnlich wie die Männer 2018.
Sambia war gegen Spanien und Japan wie erwartet chancenlos, bestätigte den zumindest offensiv sehr soliden Eindruck von Olympia 2021 und gewann verdient gegen Costa Rica. Die Ticas gehören ihrerseits hingegen zu den Enttäuschungen des Turniers und Teamchefin Amelia Valverde machte mehr das Schicksal als die Leistungen dafür verantwortlich – das ist, wie die Darbietungen, zu wenig.
Anders war es bei Haiti, der Debütant steht zwar punkt- und torlos da, hat sich aber dreimal sehr ordentlich präsentiert. Auch Panama freute sich sichtlich über die drei Tore gegen Frankreich, verlor zwar gegen Jamaika, präsentierte sich aber insgesamt besser, als es die fehlenden Strukturen im Verband nahelegen würden. Und Argentinien zeigte (wie schon beim 3:3 gegen Schottland vor vier Jahren) Moral und holte beim 2:2 gegen Südafrika in einem verloren geglaubten Spiel noch einen Punkt, wehrte sich gut gegen Italien und hielt stabil, aber doch mit etwas zu wenig Ambition, die Niederlage gegen Schweden im Rahmen. Kein Erfolg, aber auch kein Fehlschlag.
Immer noch viele Kandidaten da
Die Vorrunde bot viel mehr Überraschungen, als man in den auf dem Papier überwiegend recht straightforward wirkenden Gruppen zu erwarten war. Trotz der vielen Aussetzer sind aber immer noch viele Mannschaften dabei, denen man den Titel ernsthaft zutrauen kann: England und Frankreich, Holland und Schweden, der USA trotz allem immer noch, Japan sicher und Australien wohl genauso.
Das Feld ist groß. Das verspricht eine spannende K.o.-Phase.