Nach 15 Jahren im Amt als Bundestrainer beim DFB wird Joachim Löw den Posten nach der EM in diesem Sommer verlassen. Sein Beitrag zu den Erfolgen und der über weite Strecken bestehenden Konstanz auf hohem Niveau wird Fachkreise noch lange beschäftigen. Löw steht aber nicht nur für einen WM-Titel, ein EM-Finale und vier erreichte Halbfinals, sondern auch für den Wandel in der Wahrnehmung des deutschen Nationalteams, seit er 2004 als Assistent von Jürgen Klinsmann zur Mannschaft gestoßen ist.
Der DFB, der Löw mit Klinsmann vor 17 Jahren verpflichtet hat, war ein unbewegliches Altherren-Gefüge, das sich mit dem Wandel der Fußballwelt und dem Aus des ur-deutschen Libero noch nicht abgefunden hatte. Der überdrehte Klinsmann brachte einen neuen Ton in die öffentliche Wahrnehmung, der schwäbisch-trockene Löw in der Folge eine gutmütige, strebsame und weltoffene Note. Ab 2010 war er so ein wenig der der „Papa Schlumpf“, der wohlmeindene Leiter einer lustigen Rasselbande. Der allseits beliebte Bundes-Jogi.
Es war der frische Wind, den der deutsche Fußball gebraucht hat, begleitet von Erfolgen, die der durch EM-Vorrunden-Klatschen und WM-Viertelfinal-Blamagen durchgeschüttelten deutschen Fußballseele gutgetan haben. Dass er sich von Kameras schön sichtbar in Szene gesetzt in der Nase bohrt, am Gemächt kratzt, auf den Hintern greift und an seinem Achselschweiß riecht, mag man zwar unappetitlich gefunden haben, wurde aber auch als ein Zeichen betrachtet, dass es halt menschelt.
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Unter der Leitung von Teammanager Oliver Bierhoff wurde jedoch vor allem nach dem WM-Titel 2014 eine zunehmende Entfremdung von der Basis vorangetrieben. Der DFB im Allgemeinen und das Umfeld der Nationalmannschaft im Speziellen gab sich immer unnahbarer und man umgab sich immer mehr mit der kühlen Aura eines Großkonzerns, nur noch seinen eigenen Interessen verpflichtet, ohne Gehör für Stimmen und ohne Gespür für die Stimmungen auf den Tribünen und den TV-Geräten.
Das zunehmend als überheblich empfundene Abtun von Kritik – etwa an der Herangehensweise zur WM-Blamage von 2018 oder dem planlos wirkenden Neuaufbau danach – hatte etwas von „Was interessiert es die Eiche, wenn sich die Wildsau an ihr kratzt.“
Das durch offenkundige Korruption angekratzte Image des DFB (WM-Affäre Beckenbauer und der unrühmliche Abgang von DFB-Präsident Niersbach ebenso wie die erratische und selbstgefällige Führung von Niersbachs Nachfolger Reinhard Grindel sowie der aktulle Machtkampf zwischen Präsident Keller und Generalsekretär Curtius) sind nicht Löw anzulasten. Aber die jugendliche Energie, sich in der Wahrnehmung von den negativen Gravitationskräften im DFB abzusetzen, hatte Löw auch nicht mehr.
Aus dem Jogi Löw, der als 44-Jähriger mit dem Schwung eines 30-Jährigen in den DFB kam, ist ein 61-Jähriger Alt-Bundestrainer geworden, der vermutlich selbst weiß, dass er des bestmögilchen Zeitpunkt zum Absprung versäumt haben dürfte – es sein denn, es folgt nun doch noch eine krönende EM.
WM 2006 – Klinsmanns Assistent
Nach dem Debakel des Vorrunden-Aus bei der EM 2004 und dem Ende der Ära Völler suchte der DFB einen Trainer, der ein am Boden liegendes Team innerhalb von zwei Jahren fit für die WM im eigenen Land machen kann. Die Wahl auf Jürgen Klinsmann wurde von der Liga mit breiter Ablehnung quittert, und auch mit dem an sich angedachten Trainer Holger Osieck kam sich Klinsmann über die Verteilung der Kompetenzen in die Haare, noch ehe es zur Finalisierung des Deals kam. Klinsmann schnappte sich Löw, mit dem zusammen er den Trainerkurs absolvierte und DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder nickte die Personalie ab. Alle drei – Klinsmann, Löw und vor allem „MV“ – waren eng mit dem VfB Stuttgart verbandelt.
Die fußballerisch schwer rückwärtsgewandte deutsche Öffentlichkeit amüsierte sich über die modernen Trainingsmethoden, die Klinsmann mitsamt seinen amerikanischen Athletik-Trainern mitgebracht hat (Stichwort „Gummi-Twist“) und auf dem Weg zur WM gab es diverse peinliche Niederlagen (1:4 gegen Italien, 1:5 gegen Rumänien), aber gemeinsam mit Löw – der für die taktisch-inhaltlichen Agenden verantwortlich war – wurde eine klare, nach vorne gerichtete Spielidee entwickelt. Es folgte die endgültige Lösung von Libero-ähnlichen Systemen, mit einem 4-4-2 mit Fokus auf schnelles Umschaltspiel ging man in die WM und steigerte sich von Spiel zu Spiel. Die erste Halbzeit im Achtelfinale gegen Schweden war wohl die beste deutsche Leistung in über einem Jahrzehnt, Argentinien wurde im Viertelfinale im Elferschießen niedergerungen, im Halbfinale gegen Italien hielt man bis zur 119. Minute ein (zunehmend schmeichelhaftes) 0:0. Es gab den dritten Platz, Klinsmann trat zurück, Löw rückte auf.
EM 2008: Mit mäßigem Fußball ins Finale
Die EM in Österreich und der Schweiz 2008 war das erste Turnier mit Löw als Bundestrainer. Das flache 4-4-2 von 2006 hatte grundsätzlich weiter Bestand, wurde in den Vorrunde vor allem bei der Niederlage gegen Kroatien als nicht zukunftstauglich enttarnt. Im Viertelfinale gegen Portugal erfolgte daher die Umstellung auf ein 4-2-3-1 mit einer doppelten defensifen Absicherung hinter Ballack; Mario Gomez verlor seinen Platz als zweite Sturmspitze neben Klose. Die zunehmende Stabilität sorgte zwar nicht für weniger Gegentore, aber die adaptierte Aufgabenverteilung erlaubte mehr offensive Verve. Beim 3:2 im Viertelfinale gegen Portugal glänzte Bastian Schweinsteiger, beim wilden 3:2 im Halbfinale gegen die Türkei rettete Lahm den Sieg. Im Endspiel verlor Deutschland in der Folge 0:1 gegen Spanien.
WM 2010 – Der Durchbruch
Wenige Wochen vor der WM in Südafrika wurde Michael Ballack im FA-Cup-Finale von Kevin-Prince Boateng so ungeschickt umgetreten, dass er für die WM ausfiel. Der Ausfall vom (neben Miro Klose) einzigen deutschen Fußballer seiner Generation, dem man guten Gewissens internationale Klasse unterstellen konnte, wurde aber zum Glücksfall. Ohne den nicht mehr besonders schnellen 33-Jährigen, sondern mit Bastian Schweinsteiger (der bei Bayern von Louis van Gaal zur Acht umfunktioniert wurde) und dem wuseligen Mesut Özil im Zentrum ging das blitzschnelle Umschaltspiel richtig auf. England wurde (einer, ähem, spannenden Schiedsrichter-Entscheidung inklusive) im Achtelfinale 4:1 abmontiert, ein von Maradona horrend löchrig gecoachtes Argentinien im Viertelfinale 4:0. Im Halbfinale (ohne den gesperrten Müller) setzte es aber wieder ein 0:1 gegen Spanien. Das frische Auftreten einer angriffigen und sehr jungen Mannschaft (Schnitt 24,8 Jahre) sorgte aber für viele Sympathie-Punkte.
EM 2012 – Interne Spannungen
In die EM in Polen und der Ukraine ging man als logischer Co-Favorit neben Spanien. Was man im Lager des DFB erst Jahre später einräumte, war aber schon während des Turnieres spürbar: Die Spannungen zwischen dem Bayern-Block und der Dortmund-Delegation, die sich zu diesem Zeitpunkt in einer heftigen Rivalität befanden – Dortmund war 2011 und 2012 Meister geworden – wurde von Löw und seinem Team unterschätzt. Dennoch kam man ohne nennenswerte Probleme bis ins Halbfinale gegen Italien. Dieses wurde zu einer der berüchtigsten Löw-Niederlagen, denn er hatte das Match vercoacht: Er ließ Müller draußen, schob Özil auf die rechte Seite und stellte Kroos als Kettenhund für Pirlo auf. Jedes Spielflusses beraubt, verlor Deutschland 1:2.
WM 2014 – Der große Titel
Das ständige Scheitern vor der Ziellinie wurde schön langsam zum wiederkehrenden Thema und die Frage, ob Löw wirklich gut genug für die fraglos beste deutsche Spielergeneration seit Jahrzehnten ist, wurde immer lauter gestellt. Die WM in Brasilien war gefühlt die letzte Chance, prägende Spieler wie Lahm, Schweinsteiger und Klose noch zu einem Titel zu führen und auch sich selbst den Job zu retten. Aus den Erfahrungen von 2012 heraus wurde vor allem auf ein gutes internes Klima geachtet (die Ferienhaus-WG in Campo Bahia erhielt beinahe Kultstatus). Man schwankte zwischen vollster Souveränitat (wie beim 4:0 gegen Portugal) und schlimmem Schwimmen (wie beim 2:2 gegen Ghana oder beim zittrigen 2:1 gegen Algerien im Achtelfinale). Löw ließ den rekonvaleszenten Khedira zunächst draußen und stellte Lahm ins Zentrum, mit einem fitten Khedira in der WM-Finalphase flutschte es aber – vor allem beim 7:1 im Halbfinale gegen Brasilien. Das Finale gegen Argentinien wurde zum Abnütztungskampf, Götzes Tor in der Verlängerung machte Deutschland zum vierten Mal zum Weltmeister.
EM 2016 – Sehr stabil und mit Pech
Kapitän Lahm und Routinier Klose traten nach dem WM-Titel aus der Nationalmannschaft zurück, Schweinsteiger wurde 2015 bei Bayern ausgemustert und spielte bei Manchester United unter Mourinho keine Rolle. Der restliche Stamm war aber jung genug, um neue Kräfte – wie Joshua Kimmich – sanft einbauen zu können. Bei der EM in Frankreich war das DFB-Team das stabilste von allen, erlöste sich im Viertelfinale mit dem Sieg im Elfmeterschießen auch von seinem althergebrachten Italien-Trauma und hatte im Halbfinale Frankreich recht sicher im Griff. Kurz vor dem Pausenpfiff brachte eine harsche Handspiel-Entscheidung gegen Schweinsteiger – der nur deshalb erstmals im Turnier in der Start-Elf stand, weil sich Khedira im Viertelfinale verletzt hatte – und der resultierende Elfmeter den 0:1-Rückstand. Deutschland blieb am Drücker, bis Neuer eine Flanke zu kurz genau vor die Füße von Griezmann klärte. Das 0:2, das Aus, und beim DFB war mit hin- und hergerissen zwischen einem zu schwachen Abschneiden gemessen an den Leistungen und der Erkenntnis, dass man sich eigentlich nichts vorzuwerfen brauchte.
WM 2018 – Die Blamage
2016 kam Deutschland mit einer notdürftig zusammengestellten U-23-Auswahl ins Olympia-Finale, 2017 gewann man mit einer frisierten U-21-Mannschaft den Confederations-Cup und wurde zeitgleich mit der eigentlichen U-21 auch noch Europameister. Im Vorfeld der WM in Russland waren die Leistungen zwar nicht berauschend – wie bei der Test-Niederlage in Österreich – aber man war eben Deutschland, eine Turniermannschaft, und wenn es zählt, war man immer da. Die offen zur Schau gestellte Entspanntheit sollte sich aber schnell rächen, denn man wirkte bei der WM tatsächlich unvorbereitet und überheblich. Der Auftaktniederlage gegen Mexiko folgte ein Last-Minute-Sieg gegen Schweden. Ein Sieg gegen das bereits ausgeschiedene Team aus Südkorea würde für das Achtelfinale reichen, aber wieder wirkte das DFB-Team gleichermaßen fahrig wie in Sicherheit gewogen. Südkorea ging 1:0 in Führung, Panik breitete sich aus, Deutschland verlor und war ausgeschieden.
Der letzte Hammerschlag
Zum ersten Mal schien das Ende der Ära Löw nach einem Turnier eine realistische Möglichkeit und der DFB hatte alle Mühe, Löws Verbleib zu verkaufen und den noch dazu in den Monaten nach der WM-Blamage folgenden Abstieg aus der A-Gruppe der Nations League wegzumoderieren. In der EM-Qualifikation profitierte man vom Auftakt-Sieg gegen Holland und kam nie in ernsthafte Gefahr, die EM zu verpassen. Aber die Ausbootung von Müller, Boateng und Hummels, ohne eine sichtbare Richtung beim Neuaufbau erkennen zu lassen, ließen die Kritik trotzdem immer lauter werden.
Der letzte, echte Hammerschlag auf die Amtszeit von Joachim Löw war das 0:6 in Spanien im November 2020 in der Nations League. Spätestens hier schien das nahende Ende der Ära Löw gekommen. Und tatsächlich war es das 189. und letzte Spiel, bevor der mittlerweile 61-Jährige seinen Rücktritt angekündigt hat, der nach der auf diesen Sommer verschobenen EM vollzogen wird.
Einmal von der Vergangenheit in die Avantgarde und wieder zurück
Ein großer taktischer Innovator war Löw nicht. Aber er hat es immer verstanden, die Trends der Avantgarde zu erkennen und sie für das DFB-Team umzusetzen. Er fügte zusammen, was zunächst Louis van Gaal, dann Jürgen Klopp und Jupp Heynckes und schließlich Pep Guardiola zu den beiden Spitzenteams Bayern und Dortmund brachten.
Nachdem 2015 Klopp Dortmund verlassen hatte und 2016 Guardiola die Bayern hinter sich ließ, folgte bei beiden Teams eine offene Identitätssuche mit teils heftigen Stilbrüchen. Tuchel und Bosz mit intensivem Druckspiel, dann Stöger und Favre mit zurückgenommenem Fußball bei Dortmund. In München der gemütliche Ancelotti und der überforderte Kovac, dazwischen der alte Heynckes bei Bayern.
Löw fand keine zusammen passenden Strategien vor, die er bei der Nationalmannschaft implementieren konnte und verließ sich darauf, dass es im Zweifel mit individueller Klasse auch geht – was 2018 zum großen Schiffbruch führte, und mehr als notdürftig zusammen geflickt ist das Schiff bis heute nicht.
2004 ist Löw in einen starren DFB gekommen, der sich selbst neu suchen musste, das aber im Grunde seines Herzens nicht wollte. 2021 verlässt Löw einen DFB, der wieder zu einem unbeweglichen Monolithen mit zweifelhaftem Problembewusstsein geworden ist.
Einmal im Kreis, wenn man so will.
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