Nach dem 3:0 in Nordmazedonien und dem 9:0 gegen Kasachstan blicken die ÖFB-Frauen auf einen makellosen Herbst in der EM-Qualifikation zurück: Vier Spiele, vier Siege, 16:0 Tore. Ja, es ging nur gegen schwache Gegner – aber dies war bei der Erstellung des Spielplanes so angedacht, um gefahrlos taktisch experimentieren zu können.
„Die eigentliche Idee ist, gar nicht mehr in Systemen zu denken, sondern in Aufgaben“, erklärt Dominik Thalhammer: Also recht ähnlich dem „Positionsspiel“, welches Guardiola vor allem in seiner Bayern-Zeit (2013 bis 2016) an die Spitze getrieben hat – „oder vielleicht sogar noch etwas extremer als bei Guardiola“. Was als 4-3-3 angegeben wird, weil man es halt irgendwie angeben muss, ist in Wahrheit eher ein WW-System wie zu Zeiten des Wunderteams vor fast 90 Jahren. Nominell – weil eben die Aufgaben im Fokus stehen, nicht die Position an sich.
Ob Thalhammer den Reiz an Mittel- und Aufbauläufern bzw. Links- und Rechtsverbindern wiederentdeckt hat? „Wenn du es so sagen willst“, grinst er. Denn durch das Einrücken der (nominellen) Außenverteidiger entsteht eine krasse Überzahl im Zentrum, welche den Gegner in unübliche Formationen zwingt, um darauf zu reagieren. So kreieren die ÖFB-Frauen eine personelle Überlegenheit in der Mitte und/oder Platz auf den Außenbahnen. Mühle auf, Mühle zu.
Mazedonien hat zwei Klassespielerinnen (Roci und die beim Match im November verletzte Andonova), spielt ein gemessen an der fehlenden Qualität des restlichen Kaders nicht ungeschicktes, pendelndes Hybrid-System aus 4-5-1 und 5-4-1 (wiewohl die durch manche taktische Unachtsamkeit gelassenen Räume im Halbfeld von Österreich nicht gut genützt wurden) und versucht zumindest, kompakt und geradlinig zu verteidigen. So hielt man Österreich bei zwei 3:0-Siegen und wurde nicht abgeschossen. Die heillos unkompakten, defensiv oft panischen Kasachinnen liefen dafür in ein 0:9, und es hätte gut noch höher werden können.
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Kurzer Einschub: WW und WM…
Zu Zeiten des Wunderteams in den 1930ern spielte man in einem 2-3-5-System (oder „WW“, weil es zwei übereinander stehende W waren). In Österreich wurde dieses bis in die frühen 1950er beibehalten, ehe Team-Trainer Edi Frühwirth in Abwesenheit des erkrankten Verbandskapiätns Walter Nausch in der Vorbereitung für die WM 1954 auf das in anderen Ländern (und auch bei einigen heimischen Liga-Klubs, wie etwa Frühwirths Wacker) längst übliche 3-2-5 (also „WM“) umstellte.
Nausch hatte sich stets dagegen gewehrt, 1953 trennte er sich sogar vorübergehend von Frühwirth, der unbedingt endlich auch den Mittelläufer nach hinten ziehen wollte. Frühwirth (Wacker) und Co-Trainer Hans Pesser (der mit Rapid 1949 als Erster vom alten System abgegangen war) waren die Masterminds hinter dem damaligen WM-Erfolg.
Für die WM 1954 bot Frühwirth (Nausch, der halb genesen im Laufe des Turniers zum Team stieß, ließ Frühwirth werken) nur einen einzigen echten Verteidiger auf – Ernst Happel, der seinerseits keineswegs nur ein reiner Zerstörer war – und neben ihm zwei umfunktionierte Spieler, die aus der Läuferreihe vor der Abwehr kamen: Hanappi und Barschandt.
Davor postierten sich zwei spielintelligente Akteure in der Läuferreihe: Ernst Ocwirk, der zweifellos weltbeste kreative Mittelläufer seiner Zeit, und der zuverlässige Karl Koller von der Vienna. Der Fokus im ganzen Team lag also knallhart auf dem Spiel nach vorne und der Kreativität, es entsprach also der „Wiener Schule“. So sind Ergebnisse wie das 9:0 gegen Portugal in der Qualifikation und das 5:0 gegen die Tschechoslowakei in der WM-Vorrunde zu erklären, aber auch das 7:5 gegen die Schweiz im Viertel- sowie das 1:6 gegen Deutschland im Halbfinale.
Österreich war das letzte Land, das auf das WM-System umstellte und es sollte auch so ziemlich das letzte Land werden, welches das WM-System wieder zu den Akten legt: Zwölf Jahre später, als Edi Frühwirth (der zwischendurch zu Schalkes bis heute letztem Meistertrainer wurde) wieder Teamchef wurde, stellte er auf das längst weit verbreitete 4-2-4 um. Vor sämtlichen Klubs in der Liga wohlgemerkt. Kein Wunder, dass sich Österreich ab 1958 bis 1978 für keine Weltmeisterschaft qualifizieren konnte, so weit hinten, wie man war.
…und was das mit den ÖFB-Frauen zu tun hat
Im Sommer 2016 fing Thalhammer dann bei den Frauen an, mit einem WM-System zu experimentieren – so beispielsweise in der zweiten Hälfte des Quali-Spieles gegen Israel, aber auch ein halbes Jahr später in der unmittelbaren EM-Vorbereitung im Match gegen Schottland.
Auch damals war die Idee schon gewesen, weniger Abwehrspielerinnen zu haben, um dafür im Mittelfeld eine Überzahl herzustellen. Dies geschah damals mittels eines flexiblen Quadrats an vier zentralen Mittelfeldspielerinnen.
Thalhammer ist mit dem Switch auf die WW-Formation nun quasi den umgekehrten Weg zu damals gegangen: Aus einer experimentellen Dreierkette hinten und einem Vierer-Zentrum ist nun eine Zweierkette in der Abwehr und ein Fünfer-Zentrum geworden.
Sprich: Frühwirth hat damals aus einem WW ein WM und später ein 4-2-4 gemacht. Thalhammer machte in den letzten Jahren aus einem 4-4-2 und einem 4-3-3 ein experimentelles WM-System, und nun einen ganzen Quali-Herbst lang sowas wie ein WW-System.
Schnaderbeck und Aschauer (bzw. Puntigam, die im Heimspiel gegen Mazedonien dort spielte), die offiziell als Außenverteidigerinnen aufgeboten waren, rücken in den Sechserraum ein. So entsteht quasi ein 2-5-3 mit fünf zentralen Mittelfeldakteuren. Dies nimmt jedem Gegner dort die Luft zum atmen.
Wie damals kommt die Breite fast ausschließlich von den Außenstürmern. Thalhammer: „Sie sind die einzigen, die nicht so flexibel agieren können. Und: Sie müssen Tempo haben!“ Das Tempo und das furchtlose Suchen von 1-gegen-1-Situationen sind genau die Stärke von Julia Hickelsberger, die alle Herbst-Spiele gestartet hat und auch fünfmal getroffen hat, alleine viermal gegen Kasachstan. Wie damals in der „Wiener Schule“ ist alles auf Kreativität und das Spiel nach vorne ausgerichtet.
Der Nachteil an der Sache ist, dass defensiv ein gewisses Risiko besteht. Dies ist der Grund, warum man darauf achtete, nur gegen die schwächeren Teams in diesem Herbst zu spielen, um diese Herangehensweise gefahrlos testen zu können. „Die Spielerinnen lernen, selbstständig Dreiecke zu bilden und nicht nur eingeübte Passwege zu stellen. Das ist ein großer, weiterer Schritt in Richtung Flexibilität und Systemunabhängigkeit“, erklärt Thalhammer: „Es ist ungemein spannend, dies zu entwickeln.“
Zudem sind auch die fünf zentralen Mittelfeldleute nicht sklavisch an ihre Position gebunden. Da taucht schon mal Aschauer auf der Zehn auf, Puntigam auf der Acht oder Zadrazil auf der Sechs. „Wir konnten nicht vorhersehen, wie die schwächeren Teams, vor allem Mazedonien und Kasachstan, auf unsere Formationen reagieren“, so Thalhammer.
Das wird im Frühjahr in den beiden Spielen gegen die Französinnen wohl besser zu prognostizieren sein: Denen ist es wurscht, wie der Gegner spielt. Und, wie bei der WM zu sehen, wird seitens der Teamchefin Corinne Diacre auch nicht auf den Gegner reagiert. Das könnte eine Chance für Österreich sein.
Die Lage in der EM-Qualifikation
In der Qualifikation für die EM 2021 in England ist nun Winterpause. Man kann schon absehen, in welche Richtung sich die Gruppen bewegen und wie sich das Rennen der Gruppenzweiten entwickelt. Neben den neun Gruppensiegern sind die drei besten Zweiten direkt bei der EM dabei, die sechs restlichen spielen im Playoff um drei weitere EM-Tickets.
Mit Titelverteidiger und WM-Finalist Holland, Rekord-Europameister Deutschland, dem WM-Dritten Schweden, aber auch Norwegen und Frankreich sind die meisten Gruppenfavoriten noch makellos. Spanien ist in Polen nicht über ein 0:0 hinausgekommen, das ist für Spanien aber zu verkraften. Belgien und die Schweiz haben sich noch nicht getroffen, Italien und Dänemark auch nicht, auch Schweden und Island haben noch beide direkten Duelle vor sich. Ebenso Frankreich und Österreich.
Polen (Top-Stürmerin Pajor, Top-Goalie Kiedrzynek, sonst eher Durchschnitt) hat Spanien ein 0:0 abgerungen und damit schon einen Punkt mehr gemacht, als man erwarten kann. Dafür haben Finnland (gerade noch ein 1:1 in Portugal gerettet), Irland (in der Nachspielzeit das 1:1 in Griechenland kassiert) und Wales (zweimal Remis gegen Nordirland) schon Federn lassen.
Die Faustregel ist: Wer gegen die schwächeren Gruppengegner durchgewinnt, ist unter den besten Zweiten. Andererseits gibt es nun neun statt wie sonst sieben Gruppen, wodurch die Gruppen eher schwächer und die realistischen Chancen auf Patzer auch weniger geworden sind. Realistischerweise werden sich also die fünf Teams um die drei Direkt-Plätze streiten: Österreich, Polen, Island sowie die Zweiten aus Belgien/Schweiz und Italien/Dänemark.
Oder natürlich, Österreich wird vor Frankreich Gruppensieger. Dann ist die Rechnerei obsolet.
Was sich in der WoSo-Welt sonst tut
Weltmeister USA hat nach dem Rücktritt der doppelten Weltmeister-Teamchefin Jill Ellis im hoch angesehenen Vlatko Andonovski (zuletzt lange bei NWSL-Klub Seattle Reign) einen Nachfolger präsentiert, der den sich anbahnenden Generationswechsel moderieren soll und höchstwahrscheinlich auch sehr gut wird. Die Liga hat zum dritten Mal in vier Jahren das Team der North Carolina Courage gewonnen, im Finale gab es einen 4:0-Kantersieg gegen Chicago.
In Europa sind die ersten zwei K.o.-Runden der Women’s Champions League absolviert, im Viertelfinale (im März) sind die erwarteten Namen: 2x Frankreich (Lyon und PSG), 2x Deutschland (Bayern mit Wenninger sowie Wolfsburg), 2x Spanien (Atletico Madrid und Barcelona) und 1x England (Arsenal mit Zinsberger und Schaderbeck), dazu die Losglücks-Ritter aus Glasgow.
Manchester City ist hat knapp gegen Atletico Madrid gescheitert, die Italienischen Großklubs Juventus und Fiorentina waren gegen Barcelona und Arsenal schon in der ersten Runde völlig chancenlos. Und Schwedens Klubs hinken immer weiter hinterher: Der letztjähige Sensations-Meister Piteå sowie Göteborg sind schon in der 1. Runde gescheitert, die eigentlichen Top-Klubs Rosengård und Linköping werden regelmäßig von zahlungskräftigeren Klubs im Ausland gerupft.
Und aus österreichischer Sicht hat es zumindest den ersten Hauptrunden-Sieg seit 2014 gegeben, das 2:1 von St. Pölten bei Twente Enschede war nach dem 2:4 daheim im Hinspiel aber nicht genug. Damit ist nun endgültig der zweite Europacup-Platz futsch und der Meister muss schon in der Vorqualifikation ran – ab 2021 wird der Europacup aber ohnehin umfassend reformiert. Eine Gruppenphase bahnt sich an, die Top-Ligen werden dann drei statt wie bisher zwei Teilnehmer stellen dürfen.
Anderswo ist gerade die Olympia-Qualifikation voll im Gange. In Afrika (ein Team fix, eines im Playoff) hat es da schon diverse Überraschungen gegeben: Die Favoriten aus Nigeria und Südafrika haben jeweils im Elferschießen gegen die Côte d’Ivoire bzw. Botswana verloren. Im Finale stehen sich nun Kamerun (das waren die, die im WM-Achtelfinale gegen England nach VAR-Entscheidungen fast abgetreten wären) und der krasse Außenseiter Sambia gegenüber. Der Sieger fährt zum Olympia-Turnier nach Tokio, der Verlierer spielt im Playoff gegen Chile.
In Asien (Japan + zwei Qualifikanten) gibt es nach diversen komplizierten Vorrunden nun zwei Finalrunden-Gruppen, die im Februar ausgespielt werden. In Südkorea treffen Südkorea, Nordkorea, Vietnam und Myanmar auf einander. In China sind es China, Australien, Thailand und Taiwan. Die beiden Gruppensieger treffen dann im März auf die beiden Gruppenzweiten und die Sieger dieser beiden Finalduelle dürfen dann in Tokio mitspielen.
Bereits qualifiziert sind Gastgeber Japan, dazu aus Europa Holland, Schweden und England, Ozeanien-Meister Neuseeland sowie aus Südamerika Brasilien.
In der Concacaf-Zone findet das Quali-Turnier im Februar statt. Dass sich Weltmeister USA sowie Kanada die beiden zur Verfügung stehenden Tickets holen, ist Formsache. Interessanter wird sein, ob die WM-Quali-Flops von Mexiko und Costa Rica sowie die überraschende WM-Teilnahme von Jamaika (wo die WM-Prämien nicht ausbezahlt wurden und die Spielerinnen daher streiken, zudem fiel eine Teamspielerin in Kingston einem Messerattentat zum Opfer) tatsächlich nur Ausrutscher waren.