Eine WM ohne Italien! Aber warum?

„Das ist die Apokalypse“, titelte die Gazzetta dello Sport. „Eine historische Blamage“, konstatierte der Corriere della Sera. „Alle raus! Jetzt braucht es eine Revolution“, forderte Alessandro Vocalelli, Chefredakteur des Corriere dello Sport, „Das ist eine noch nie dagewesene Schande!“

Erstmals seit 60 Jahren wird eine WM-Endrunde ohne Italien stattfinden. Der viermalige Weltmeister (1934, 1938, 1982, 2006) hat im Playoff gegen Schweden 0:1 und 0:0 gespielt. Aber wie konnte es so weit kommen?

Die Spiele

Italien spielte jeweils im 3-5-2 ohne Zehner, Schweden überließ den Italienern den Ball und stellte die Anspielstationen zu. Der Ball rotierte vor allem im Hinspiel zwischen den Abwehrspielern, die nach vorne maximal noch den Sechser als Anspielstation hatten. Weil alle anderen Spieler, selbst die beiden Achter, extrem hoch positiniert waren, fanden die Italiener im Aufbau keine Anspielstation.

Obwohl das im Hinspiel schon nicht gut funktioniert hat, änderte Ventura auch für das Rückspiel nur das Personal (teilweise erzwungen, wie durch Verrattis Sperre), aber kaum die Taktik. So konnte nicht einmal Jorginho, der das Ballbesitz- und Kurzpass-Spiel von Napoli so meisterhaft orchestriert, viel retten. Es war mehr Wucht drin und Schweden agierte deutlich passiver als noch im Hinspiel, damit gab es auch einige Chancen – aber die waren eher das Produkt von Wille als von Plan. Zudem hätte der spanische Referee auch zumindest einen Elfmeter für Schweden geben müssen – und auch für die Italiener.

Der Teamchef

Torino unter Ventura, Saison 2015/16

Giampiero Ventura ist 69 Jahre alt und gehört seit Jahrzehnten zum Trainer-Inventar der Serie A. Er war schon bei Udinese und Cagliari, bei Lecce und Verona, selbst bei Napoli war er kurz schon mal verantwortlich. Seine stabilste Zeit erlebte er ab 2011 bei Torino. Er führte den Traditionsklub aus der Zweitklassigkeit zurück in die Serie A und etablierte ihn dort als soliden Mittelständler.

In seiner vierten vollen Saison bei Torino erreichte Ventura 2015 einen soliden neuten Platz, ein Jahr später (siehe Team-Grafik) einen zwölften Platz (der besser aussieht als er war). Mit der Empfehlung von diesen fünf Jahren unspektakulärer, aber kontinierlicher Arbeit wurde Ventura nach der EM in Frankreich zum Nachfolger von Antonio Conte als Commissario Tecnico gemacht.

In seinen anderthalb Jahren aber ließ Ventura vor allem zwei Dinge vermissen: Geistige Beweglichkeit und den adäquaten Umgang mit Stars. Das präzise und individuell auf das jeweilige Spiel und den Gegner abgestimmte Coaching der Prandelli-Jahre (u.a. mit dem EM-Finaleinzug 2012) und der Conte-Jahre (bei der EM 2016 Spanien eliminiert und Deutschland erst im Elferschießen unterlegen) war völlig weg.

Nach dem eleganten Prandelli und dem ständig unter Strom stehenden Conte wirkte der brummige Opa Ventura in seiner Italia-Jacke auch immer irgendwie deplaziert. Zuletzt fiel er mit der Aussage auf, dass „vom dem Moment, als wir Spanien in der Quali-Gruppe zugelost bekommen haben, klar war, dass wir ins Playoff werden müssen“. Diese Aussage ist aus zwei Gründen bemerkenswert.

Erstens spricht es – so realistisch die Einschätzung auch gewesen sein mag – Bände über das Selbstverständnis eines Trainers der italienischen Nationalmannschaft, so etwas öffentlich zu sagen. Und zweitens ist es vor dem Hintergrund dieser Aussage erstaunlich, dass die anfänglich noch guten Resultate unter Ventura (1:1 gegen Spanien, Siege in Israel und gegen Albanien, 0:0 gegen Deutschland) nicht gehalten werden konnten.

Beim 0:3 in Spanien im September war man chancenlos, gegen Mazedonien spielte man daheim nur 1:1, Albanien wurde mit Mühe 1:0 besiegt – und dann kamen die beiden Matches gegen Schweden. In den letzten sechs Spielen (= 540 Minuten) gab es nur drei Tore. Und als Ventura im Rückspiel gegen Schweden einen Sieg brauchte, wollte er Sechser De Rossi einwechseln. Dieser zeigte aber nur auf Stürmer Insigne: „Ihn brauchen wir dringender!“

Man kann über taktischen Sinn und Unsinn einer Einwechslung von De Rossi oder von Insigne diskutieren (es kam dann weder der eine noch der andere) – aber das Bild unverrückbarer Autorität wird so eher nicht erzeugt. Da er in seiner Karriere fast nur Mittelständler trainiert hat, fehlt Ventura das Gespür dafür, wie er international erfahrene Leistungsträger und die noch aktiven Weltmeister De Rossi, Barzagli und Buffon von seiner Arbeit zu überzeugen.

Im Gegenteil: Es wird berichtet, dass er die wichtigen Entscheidungen immer mehr von den Spielern absegnen ließ. Urbano Cairo, als Torino-Präsident ein langjähriger Vertrauter von Ventura, sagte, Ventura fühle sich nicht als Teamchef, sondern eher als Gast im Kreise des Verbandes.

Die Italiener in der Liga

Wie viel Einsatzzeit bekommen Italiener in der Serie A? Vergleichen wir hierzu mal drei Saisonen mit einer gewissen Aussagekraft – 1994/95 (die letzte Saison vor Bosman bzw. die Spielzeit nach dem WM-Finaleinzug), dann 2005/06 (die Saison vor Calciopoli bzw. vor dem WM-Titel) und 2016/17, das letzte Jahr, deren Zahlen vollständig sind.

Vor dem Bosman-Urteil durften maximal drei Ausländer auf dem Feld stehen – das heißt, 73 Prozent der Spielzeit war für Italiener reserviert. Tatsächlich kamen 1994/95 Italiener sogar zu 82,8 Prozent zum Einsatz.

Vor dem WM-Titel 2006, als auch die Serie A in einem Hoch war (2003 rein-italienisches CL-Finale, Milan 2005 im Finale und 2007 Sieger), waren es immer noch 70,2 Prozent. In der letzten Saison, als auch ein Großteil der WM-Quali für Russland absolviert wurde, reden wir aber nur noch von 41,4 Prozent.

Der Vergleich mit anderen Top-Ligen

Merke also: Italiener haben in der Serie A einen zunehmend schweren Stand, sie sind seit Bosman sukzessive auf dem Rückgang. Nur: Das ist bei allen großen Import-Ligen so – in Spanien, Deutschland, Frankreich und ganz besonders in England.

In der letzten Saison 2016/17 spielten beispielsweise in der Bundesliga auch nicht dramatisch mehr Deutsche als Italiener in der Serie A – dennoch wurde Deutschland 2017 mit einer B-Truppe souveräner Confed-Cup-Sieger und außerdem noch U-21-Europameister, während die meisten Stammkräfte des amtierenden Weltmeisters sich am Strand die Bäuche bräunen ließen.

Also: Was ist anders?

Wechseln wir in die aktuelle Saison und sehen uns nur die Top-5 der jeweiligen Tabelle nach elf bzw. zwölf Spieltagen in diesen fünf großen Ligen an.

Angaben in Prozent

Und hier wird’s richtig auffällig. Sogar in der Premier League bekamen bei den Top-5 der Tabelle (Man City, Man Utd, Tottenham, Chelsea und Liverpool) Engländer mehr Spielzeit als Italiener in der Serie A. Zugegeben, das praktisch Engländer-lose Arsenal ist nicht in der Statistik, aber die Richtung ist erkennbar.

Azeglio Vicini 1990 (Elferschießen-Niederlage im WM-Halbfinale) und Arrigo Sacchi 1994 (Elferschießen-Niederlage im WM-Finale) konnten sich zwei komplette 23-Mann-Kader aus den besten Klubs zusammenstellen, ohne auch nur die anderen Vereine anfassen zu müssen. Giampiero Ventura kann aus den fünf bestplatzierten Klubs der Serie A derzeit exakt 13 Stammspieler zusammen kratzen.

Und da sind internationale Kapazunder wie Danilo D’Ambrosio und Lorenzo Pellegrini schon dabei.

Der Vollständigkeit halber: Insigne und Jorginho (Napoli), Buffon, Chiellini und Rugani (Juventus), Candreva, D’Ambrosio und Gagliardini (Inter), Immobile und Parolo (Lazio), De Rossi, El Shaarawy, Florenzi und Pellegrini (Roma).

Die Legionäre

Ein weitere Punkt ist die Anzahl der Legionäre in den anderen Top-Ligen. Die französische Ligue 1 ist im Vergleich die schwächste dieser fünf Ligen, das macht Didier Deschamps aber wohl nicht so furchtbar viel aus, weil er – wie auch seine Vorgänger wie sogar schon Aimé Jacquet beim WM-Titel 1998 – auf viele Legionäre in anderen, noch stärkeren Ligen zurück greifen kann.

Franzosen spielten in dieser Saison bereits knapp 14.000 Minuten bei den 20 Klubs, die in La Liga, Bundesliga, Serie A und Premier League jeweils unter den Top-5 liegen. Das bedeutet im Schnitt: Ein französischer Stammspieler bei JEDEM dieser 20 europäischen Top-Klubs.

Noch besser hat es Spaniens Teamchef Julen Lopetegui: Er könnte einen 23-Mann-Kader nur aus Legionären bei europäischen Spitzenklubs zusammen stellen, ohne auch nur einen einzigen Spieler aus der heimischen (sehr starken) Liga zu nominieren.

De Gea – Azpilicueta, Javi Martinez, Albiol, Moreno – Thiago, Herrera, Fàbregas – Silva, Morata, Pedro. Nur mal so als Beispiel

Italien kommt dafür auf den Gegenwert von sieben Stammkräften bei diesen Klubs, und da ist der offiziell als Italiener geführte Daniel Caligiuri (Schalke) ebenso inkludiert wie die Villarreal-Teilzeitkräfte Nicola Sansone und Roberto Soriano.

Stammspielende Legionäre bei Top-Klubs sind Verratti und Thiago von PSG (wobei Thiago auch schon 35 ist), Zaza von Valencia, Zappacosta von Chelsea und Raggi von Frankreichs Meister Monaco. Dazu käme noch Mario Balotelli von Nizza, aber Balotelli ist halt Balotelli.

Die Deutschen haben quantitativ zwar auch nicht viel mehr an Legionären zu bieten, aber qualitativ. Kroos von Real Madrid, Khedira von Juventus, Özil von Arsenal, ter Stegen von Barcelona, Sané und Gündogan von Man City, Can von Liverpool, Rüdiger von Chelsea. Da ist was geboten. Und: Bei den heimischen Top-Klubs spielen doppelt fast so viele Deutsche wie Italiener bei den Serie-A-Spitzenteams.

Was kommt nach?

Sicher, bei Milan kommen noch vier weitere Italiener dazu (Bonucci, Borini, Donnarumma und Romagnoli), aber wie man es auch dreht und wendet: Da fehlt in der Spitze einfach die Qualität.

Und kommt was nach? Italien stand 2013 im Finale der U-21-Europameisterschaft und unterlag dort Spanien. Viele Spanier von damals wurden Stammkräfte von Top-Klubs: De Gea (Man Utd), Isco (Real), Thiago (Bayern), Moreno (Liverpool), Bartra (Dortmund), Morata (Real und Juve), Koke (Atlético). Auch Montoya (Valencia), Martinez und Illarramendi (Real Sociedad) sind bei guten Teams in der spanischen Liga aktiv. Cristian Tello hat als „erfolglosester“ Kicker der spanischen Final-Elf Leihen zum FC Porto und zur Fiorentina hinter sich.

Italien? Immobile, Verratti, Insigne und Florenzi sind zu Nationalspielern geworden. Borini ist nach Wanderjahren in der Premier League bei Milan untergekommen. Sonst sieht’s dünn aus: Giulio Donati spielt in Mainz, Luca Caldirola ist mit Bremen fast und mit Darmstadt tatsächlich abgestiegen, Matteo Bianchetti ist mit Verona frisch aufgestiegen, Fausto Rossi ist nie über die Serie B hinaus gekommen, Francesco Bardi in Wahrheit auch nicht.

Immerhin, Vasco Regini ist Kapitän von Mittelständler Sampdoria; eine Antwort auf die Frage „Wer kommt nach Chiellini, Bonucci und Barzagli?“ ist aber auch er nicht.

In diesem Sommer erreichte wieder eine italienische U-21 zumindest das Halbfinale der U-21-EM, und auch diesem Team werden sicherlich einige den Umbau des Nationalteams bestreiten. Torhüter Gigio Donnarumma (Milan) dürfte so oder so die nächsten 15 Jahre das Team-Tor hüten, Innenverteidiger Daniele Rugani hat sich bei Juventus schon festgespielt, Sechser Roberto Gagliardini bei Inter auch, Achter Lorenzo Pellegrini kommt bei der Roma zu guten Minuten, Offensiv-Allrounder Federico Bernardeschi war bis zu seinem Wechsel zur Juve bei der Fiorentina nicht mehr wegzudenken.

Nur: Ob sie auch das Zeug dazu haben, Italien wieder auf die Füße zu bringen, kann man zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch nicht abschließend beurteilen.

Umdenken oder Weiterwurschteln

Das Scheitren der Squadra Azzurra ist also durchaus ein Schock. Aber es ist nicht so, dass es ein Team erwischt, bei dem sich nicht seit Jahren deutliche Probleme ankündigen. Das Vorrunden-Aus bei der WM 2014 wurde auf unglücklichen Spielverlauf und die schwüle Amazonas-Hitze von Manaus geschoben, bei den EM-Turnieren 2012 und 2016 sah Italien vor allem dank sehr gutem Coaching besser aus als Italien war.

Zähe Spiele und knappe, erwürgte Siege gegen Mittelklasse-Gegner gelten schon sprichwörtlich als italienisch. Man springt eben nur so hoch wie man muss und am Ende steht der pragmatische Zweckfußball in Italien eben doch über dem Spektakel und dem Vorwärtsdrang. So wurden Spiele wie die zähen 1:0-Siege gegen Albanien und Israel zuletzt zwar registriert, aber mehr auch nicht. Wurde ja eh gewonnen. Und das peinliche 1:1 gegen Mazedonien? Ma dai, aber was soll’s, Gruppensieg war ja eh schon vorher weg.

Also: Italien hat große Probleme, die sich seit Jahren abzeichnen, die aber bis jetzt noch nicht zum großen Knall geführt haben. Die Felder sind klar und mannigfaltig, aber für fast keine gibt es eine schnelle Lösung. Es fängt im Nachwuchsbereich an, zieht sich durch fast die ganze Serie A (nur noch zwei Klubs kommen auf die Prä-Bosman-Quote von 73 Prozent Italiener, Sassuolo und Crotone).

Mit einem Dinosaurier wie Carlo Tavecchio an der Verbands-Spitze und einem Liga-Chef Maurizio Beretta, der kaum echte Macht hat, steht zu befürchten, dass sich kaum etwas wirklich ändert. Es wird ein neuer Trainer kommen (Carlo Ancelotti ist im Gespräch), es werden neue Spieler kommen. Aber: Gerade bei den Mittelständlern, wo durchschnittliche Legionäre (überwiegend aus Osteuropa – jede dritte Legionärs-Minute in der Serie A entfällt auf Spieler aus dem ehemaligen Ostblock) statt sicher nicht viel schlechteren Italienern spielen, müsste ein Umdenken her.

Im Grunde ist Italien in einer ähnlichen Situation wie Österreich Mitte der Nuller-Jahre, als der Österreicher-Topf eingeführt wurde. Zufall ist die aktuelle Situation Italiens nicht. Und ohne langfristigen Plan wird Italien kaum nachhaltig wieder aus dieser Lage herauskommen. Aber Italien wäre nicht Italien, wenn nicht wort- und gestenreich einfach so weiter gewurschtelt würde wie bisher.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.