Inter kommt bei Tottenham mit 0:3 unter die Räder und muss froh sein, dass die sportliche Verprügelung nicht noch viel schlimmer ausgefallen ist. Unglaubliche Stellungsfehler, keinerlei körperliches Dagegenhalten, heillose Überforderung mit dem Tempo des Gegners, null Präsenz im Mittelfeld. Was in diesem Spiel passiert ist, ist nichts weniger als der sportliche Offenbarungseid eines Klubs, der von zweieinhalb Jahren noch Champions League, Meisterschaft und Pokal gewonnen hat.
Dass sich Inter von Beginn an darauf verlegte, Tottenham den Ball zu überlassen, mag nicht besonders überraschend sein. Erstaunlich war aber schon, mit war für einer lethargischen Passivität das geschah. Und wie überfordert die Nerazzurri waren, obwohl die Spurs zu Beginn vielleicht irgendwo zwischen drittem und viertem Gang unterwegs waren.
Inters Zentrum extrem passiv
Das Mittelfeld im 4-2-3-1 von Stramaccioni hielt Sicherheitsabstand zu den Gegenspielern und übte nicht den geringsten Druck auf die Spielgestaltung der Spurs aus. Kovacic, Neuzugang von Dinamo Zagreb, musste als Zehner spielen, fühlt sich aber als Achter deutlich wohler, zudem kennt er die Intensität der Spurs kaum. Estebán Cambiasso und vor allem Walter Gargano erwiesen sich hinter dem Jungspund als völlig Fehlbesetzungen, was das Kontrollieren von Bale anging. Vor allem aber ließen sie sich fast jedes Mal übertölpeln, wenn Parker und/oder Dembélé auf Seiten der Spurs anzogen und einen schnellen Ball Richtung Bale oder Defoe spielten.
Pressing gab es so gut wie gar nicht: Kovacic bewegte sich hie und da mal zaghaft auf Gegenspieler zu, bremste aber schon Meter vorher wieder ab. Das kostete den Spurs nicht mal ein Wimpernzucken. Sie konnten ungehindert den Ball kontrollieren und mit einem plötzlichen Vertikal-Pass mit größter Leichtigkeit Löcher in die Zentrale von Inter reißen.
Juan Jesus heillos überfordert
Weil sich Stamm-Linksverteidiger Yuto Nagatomo zuletzt im Derby gegen Milan eine vermutlich saisonbeendende Verletzung zugezogen hat und Walter Samuel noch nicht fit war, musste Strama improsivieren. Heißt: Juan Jesus musste auf die Position des Linksverteidigers. Der U-20-Weltmeister von 2011 war allerdings heillos überfordert. Die schnellen Läufe von Lennon waren für den Brasilianer nie vorhersehbar, er kam kaum in die Zweikämpfe. Vor allem aber ließ er jede Übersicht vermissen, wenn er sich ein ums andere Mal brutal aus der Position ziehen ließ – wie vor dem 0:2.
Was allerdings nicht alleine die Schuld des zur Halbzeit logischerweise ausgewechselten Juan Jesus war, sondern auch in den Verantwortungsbereich seiner Nebenleute liegt. Álvaro Pereira nahm es trotz der offensichtlichen Hilflosigkeit seines Hintermanns mit dem Abdecken des von Juan Jesus freiwerdenden Raumes nicht so genau, Cambiasso interessierte sich nur für das Zentrum, und Chivu machte auch keine Anstalten, dem Brasilianer zur Seite zu stehen.
Auch die rechte Abwehrseite hielt nicht
Auf der rechten Seite gab es zwar Routine ohne Ende, aber Javier Zanetti hatte mit Spurs-Linksaußen Gylfi Sigurðsson alle Hände voll zu tun und wurde dem Isländer doch nicht Herr. Was natürlich auch hieß, dass er nach vorne nichts anbieten konnte. Sehr zum Leidwesen von Ricky Alvarez. Der junge Argentinier war mit einigem Getöse im Sommer von Velez Sarsfield gekommen, und seither wundern sich alle, wozu das ganze Tamtam eigentlich gut war – denn Alvarez ist alles andere als die erhoffte Verstärkung.
Ihm fehlt es an Robustheit und Physis, ihm fehlt es massiv am Spielwitz, ihm fehlt es an der Abstimmung mit seinen Mitspielern und ihm fehlt es auch an der Defensiv-Arbeit. Und das wahrlich erschreckende daran: Er und Zanetti hatten es mit Siguðsson zu tun, einem sehr interessanten und sehr spielintelligenten Akteur – aber nicht mit der ungeheuren Wucht und dem Tempo, das ein Gareth Bale mitbringt. Dieser war in der Offensiv-Zentrale aufgestellt und unterstützte dort den oft etwas eigensinnigen Defoe.
Stramas Umstellungen
Inter konnte nach einer katastrophalen ersten Hälfte von Glück reden, nicht noch viel höher als 0:2 im Rückstand zu liegen. Stramaccioni nahm zur Pause eben Juan Jesus vom Feld und brachte Rodrigo Palacio; dafür ging Pereira nach hinten und der neue Mann gab ein Mittelding aus Linksaußen und zweitem Stürmer neben Cassano. Damit war Pereira zur Defensiv-Arbeit gezwungen und diese Aufgabe erfüllte er auch einigermaßen.
Wenig später musste auch Kovacic weichen, für ihn kam Guarín und damit mehr endlich die lange vermisste physische Präsenz ins davor de facto nicht vorhandene Inter-Mittelfeld. Nach etwas mehr als einer Stunde nahm Strama dann auch den inferioren Alvarez raus und zog Zanetti nach vorne, mit Jonathan kam ein kraftvoller neuer Linksverteidiger. Damit hatte Inter nun die Außenbahnen halbwegs im Griff.
Ob das alles genug gewesen wäre, hätte nicht Tottenham nach dem 3:0 kurz nach Beginn der zweiten Hälfte die Intensität zurückgeschraubt und Defoe einige gute Chancen verstolpert, ist letztlich müßig. Inter spielte mit einem etwas schiefen 4-1-3-2 fertig und kam mit dem 0:3 noch recht billig davon.
Fazit: Inter braucht kompletten Re-Boot
Tottenham war glänzend. Kraftvoll, mit Vorwärtsdrang, mit Intensität und mit der nötigen Cleverness, die Schwachstellen von Inter zu erkennen und anzubohren. Nur: Dass die Spurs unter André Villas-Boas eine richtig gute Truppe sind, ist weithin bekannt.
Darum sagt dieses Spiel auch viel mehr über Inter als über Tottenham. Natürlich ist die Europa League für Inter nicht so wichtig wie die Serie A, in der die Mailänder immer noch um die Champions-League-Plätze kämpfen (was an sich schon nicht für die Serie A spricht). Aber sich so bereitwillig schlachten zu lassen, ein so williges Opferlamm zu geben, ist nicht nur damit zu erklären, dass man das Spiel nicht mit dem allerletzten Ernst bestritten hat.
Nein: Inter hat ganz massive Probleme. Der Kader ist überaltert und für den internaionalen Vergleich – vor allem in jenem mit der Premier League oder auch der deutschen Bundesliga – viel zu langsam. Die Zeit von Leuten wie Chivu, Cambiasso, Stankovic, Gargano und auch Zanetti ist vorbei. Es gibt keine Präsenz im Mittelfeld, kein Tempo, kein Pressing. Vor dieser Saison und auch im Winter hat man bei Inter versucht, mit punktuellen Veränderungen das seit dem Triple 2010 völlig entgleiste Team zurück auf Schiene zu bringen.
Die sportliche Verpügelung der White Hart Lane sagt: Nicht mal annähernd gelungen. Da braucht’s einen kompletten Re-Boot.
(phe)