Schon wieder Italien… Deutschland versuchte im Halbfinale wohl etwas zu viel, sich auf den Gegner zu konzentrieren und vergaß darüber die eigenen Stärken aus dem Auge. Da agierte die italienische Mannschaft abgeklärter, laufstärker und vor allem mit geschicktem Aufrücken. So ist für Deutschland das geplante Finale gegen Spanien geplatzt.
Schon im Vorfeld hatte Bundestrainer Löw verlauten lassen, dass sein Team die Pässe von Andrea Pirlo so gut es geht verhindern muss. Kroos war nominell als Zehner aufgeboten, hatte aber vornehmlich die defensive Aufgabe gegen Pirlo zu erfüllen. Das Kalkül dahinter war logisch: Wenn Pirlo aufrückt, steht ihm Kroos auf den Füßen, sollte sich der Altstar von Juve zurückfallen lassen, übernahm Gomez diese Aufgabe. Und in der Tat ließ sich Pirlo in der ersten Hälfte eher zurückfallen.
Seine Pässe allerdings wurden dadurch nicht unterbunden, sie fanden nur von deutlich weiter hinten statt – und bis auf wenig Ausnahmen wurde Pirlo auf Querpässe reduziert. Die wenigen echten Zuspiele nach vorne brachten allerdings immense Gefahr, einer davon leitete das 1:0 für Italien ein.
Weil Deutschland dann sogar mit einem 0:2-Rückstand in die Pause ging, war Löw gezwungen, auf die designierte Pirlo-Deckung zu verzichten. Das hatte überhaupt keine Auswirkungen auf die Ballkontakte von Pirlo und die Anzahl der Pässe, die er schlug. Sehr wohl aber auf Ausgangspunkt und Ziel dieser Pässe: Ohne Kroos, der ihn zurück schob, konnte Pirlo mit dem Ball weiter aufrücken und ob der Tatsache, dass die Deutschen hinten aufmachen mussten, auch deutlich vertikaler. Zudem hatte er mit Diamani und Di Natale dann auch zwei frische Anspielstationen.
Fazinierend ist dabei, dass lange Bälle von Pirlo praktisch immer einen Mitspieler fanden.
Rechte deutsche Seite
Zurück zur ersten Halbzeit. Kroos stand durch seine Aufgabe logischerweise auf der Zehn, was hieß, dass Mesut Özil um ihn herum spielen musste. Das ist für ihn normalerweise kein Problem und er war auch im Viertelfinale gegen Griechenland mehr auf der Flügel unterwegs als im Zentrum. In diesem Spiel allerdings vermied es Özil, allzu viel auf die sonst verwaiste rechte Seite zu gehen. Was seltsam ist – denn mit Chiellini stand dort zwar ein gelernte Innenverteidiger. Aber erstens spielt Italien ohnehin traditionell sehr eng, was den Platz in der Mitte ziemlich zumachte (auch weil De Rossi deutlich tiefer stand als Marchisio); und zweitens hätte Gomez in der Mitte durchaus ein paar Flanken brauchen können.
Das Vakuum auf der rechten deutschen Angriffsseite füllte immer wieder Sami Khedira, der aus der Schaltzentrale hinter Özil und Kroos herausging. Die Überlegung, Chiellini dadurch an allzu viel Vorwärtsdrang zu hindern, war an sich logisch, aber Khedira fehlte dadurch im Zentrum. Ohne die Übersicht, die Ruhe am Ball und das Spielverständnis von Khedira war der formschwache Schweinsteiger im Zentrum dann alleine. So hatte Montolivo fiel Platz, um sich auszutoben und als Verbindung zu den zwei Spitzen zu agieren.
Das teilweise Fehlen von Khedira im Zentrum resultierte zwar nicht direkt in Toren, aber es hat das deutsche Spiel merklich beunruhigt – eine Unruhe, die auf die bislang so starke Innenverteidigung ausstrahlte.
Podolski schwach, Marchisio weltklasse
Anders als die rechte deutsche Seite war die linke zwar besetzt, aber im Grunde nur nominell. An Lukas Podolski lief das Spiel komplett vorbei. Zum einen durch den generellen Rechtsdrall im deutschen Spiel, zum anderen aber auch deshalb, weil er sich zu wenig anbot und nie seine gegenüber Balzaretti überlegene individuelle Klasse ausspielen konnte. Und das, obwohl Balzaretti nicht nur der wahrscheinlich schwächste Italiener ist, sondern der gelernte Linksverteidiger wegen Abates Verletzung auch noch auf der für ihn ungewohnen Seite spielen musste.
Was für das Nicht-Vorhanden-Sein von Podolski ebenfalls von großer Bedeutung war: Die absolut überragende Leistung von Claudio Marchisio. Der 26-Jährige vom italienischen Meister Juventus war überall zu finden, half hinten, ging nach vorne, deckte vor Balzaretti die Flanke ab, zeigte exzellentes Stellungsspiel und warf sich, wenn nötig, mit voller Konsequenz in die Zweikämpfe. Außerdem spulte er in beiden Halbzeiten die meisten Meter seiner Mannschaft ab (6,2 km in der ersten und 6,0 km in der zweiten Hälfte).
Druck durch konsequentes Aufrücken
Überhaupt, die italienische Laufarbeit. Dass die Azzurri gegenüber den Deutschen zwei Tage weniger Pause hatten und obendrein im Viertelfinale noch in die Verlängerung gehen hatten müssen, war in keiner Phase des Spiels zu merken. Im Gegenteil: Italien lief den Gegner in Grund und Boden; pro Halbzeit liefen sie ihren deutschen Gegenspielern über drei Kilometer davon.
Was natürlich vor allem eine Folge des konsequenten Aufrückens der italienischen Mannschaft war. Das hatten schon im ersten Halbfinale die Portugiesen gegen Spanien mit einigem Erfolg praktiziert, und das machten nun auch die Italiener. Praktisch die komplette italienische Mannschaft rückte, wenn sich der Ball vom eigenen Tor weg bewegte, ebenso mit nach vorne. Das machte es bei Ballverlust wesentlich leichte, die Räume für den deutschen Spielaufbau sofort eng zu machen – und Deutschland fand kein passendes Mittel dagegen.
Womit Prandelli seinen Worten Taten folgen ließ – schließlich hatte er angekündigt, die Deutschen nicht tief zu empfangen. Das hatte er als nicht Zielführend gesehen. Das Aufrücken aber war goldrichtig.
Cassano und Balotelli
Genauso wenig wie für die beiden italienischen Sturmspitzen. In der deutschen Bundesliga spielen nur vier von 18 Teams konsequent mit zwei echten Stürmern (M’gladbach, Hamburg, Bremen und Hannover). Das heißt: Im Liga-Alltag hat des die deutsche Defensive nur selten mit zwei echten Stürmern zu tun. Und vor allem nicht mit solchen Kalibern wie Cassano und Balotelli. Die beiden decken einen enormen Raum ab, schaffen mit ihren oft unerwarteten Laufwegen permanent Unordnung beim Gegner und sind technisch absolut hochklassig.
Hummels und Badstuber hatten damit einige Probleme. Beim ersten Gegentor stellten sie sich zwar richtig (Hummels half Boateng gegen Cassano, Badstuber übernahm im Zentrum Balotelli), gingen aber beide nicht konsequent genug in den Zweikampf; beim zweiten Gegentor war man im Umschalten nach einer eigenen Standard-Situation nicht auf Balotelli gefasst.
Die beiden außerhalb des Spielfeldes eher zweifelhaften Figuren harmonieren auf dem Platz prächtig. Wahrscheinlich gerade weil sie beides Instikt-Fußballer sind.
Umstellungen
Mit 0:2 im Rückstand musste Joachim Löw natürlich reagieren. Für die zweite Hälfte brachte er statt des eher unglücklichen Gomez und der komplett unsichtbaren Podolski mit Klose und Reus gleich zwei neue Spieler. Das hieß, dass man die Manndeckung für Pirlo, wie erwähnt, weitgehend aufgab und sich darauf konzentrierte, das eigene Spiel wieder vermehrt zur Geltung zu bringen. Reus ging auf die rechte Seite, Kroos wich tendenziell auf die linke Seite aus und Özil war nun zumeist der Zehner. Alleine: Das deutsche Spiel blieb relativ eng.
Anders gesagt: Deutschland versuchte weiterhin, die Italiener in deren ureigenstem Kerngebiet, dem Spiel durch die Mitte, zu bezwingen – aber das kann Italien immer noch besser. Zumal Prandelli nach rund einer Stunde auf das sich etwas veränderte Spiel reagierte und seinerseits zwei neue Spieler brachte: Diamanti kam einmal mehr für Cassano und gesellte sich wie gewohnt etwas näher zum Mittelfeld und auf die halbrechte Seite, und für den sehr ordentlichen Montolivo kam mit Thiago Motta ein Spieler, der es perfekt versteht, Bälle abzulegen und mit kurzen Pässen dem Spiel Struktur zu verleihen.
Deutschland spielte nun zwar etwas flüssiger, aber Italien verstand es immer noch, auch in den späteren Phasen der Partie weit aufzurücken – ein Umstand, der den Deutschen psychisch sichtlich zu schaffen machte. Nicht nur, weil es das eigene Spiel massiv behinderte. Sonder auch, weil die Italiener somit sagten: „Sehr her, wir sind immer noch fit!“
Brechstange
In der letzten Viertelstunde gab es für die Deutschen dann nur noch die Brechstange. Müller war für Boateng gekommen und dieser besetzte nun die rechte Seite, Reus ging ins Sturm-Zentrum zu Klose, Özil und Lahm kamen eher über links. Struktur hatte das sonst so durchgeplante deutsche Spiel nun natürlich nicht mehr, das ist in einer solchen Situation aber zu einem gewissen Grad wohl auch erwünscht. Schließlich hatte eben dieses durchgeplante Spiel in den 75 Minuten zuvor keine Wirkung erzielt.
Die Folge der Umstellung auf ein System, was man als 2-4-4 bezeichnen kann, hatte natürlich zur Folge, dass dir frisch eingewechselten und damit läuferisch den Gegenspielern nun natürlich haushoch überlegenen Diamanti und Di Natale Räume zum Kontern boten – spätestens hier hätte Italien den Sack zu machen müssen.
Dennoch musste man auch nach dem von Özil verwandelten Handelfmeter in der Nachspielzeit nicht mehr wirklich zittern. Italien war die cleverere Mannschaft und sich damit den Sieg verdient.
Fazit: Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht
Da versucht man einmal, sich als deutscher Teamchef in seiner Herangehensweise an ein Spiel auf die Eigenheiten des Gegners einzugehen – und schon geht’s schief. Durch die Manndeckung für Pirlo wurde dieser zwar zumeist zu Querpässen gezwungen, aber es wurde verabsäumt, die anderen drei Spieler im italienischen Mittelfeld (der überragende Marchisio, der fleißige Montolivo und der sichere De Rossi) aus der Gleichung zu nehmen, indem man sie aus ihrer Position zieht, sie zum Helfen auf den Flügel zieht.
Es ist bemerkenswert, dass Löw gerade gegen die für ihre Enge bekannten Italiener selbst den Weg über die Mitte suchen wollte und nicht den vielen Platz auf den Flanken nützte – Vor allem, wenn die Azzurri aufrückten. Es kamen keine Lochpässe von Özil in den Rücken der Abwehr, wenn diese hoch stand. Es wurde komplett verabsäumt, Balzaretti zu testen. Es wurde durch den zeitweisen Rechtsdrall von Khedira, als dieser das Vakuum auf der Außenbahn etwas füllen wollte, das defensive Zentrum preisgegeben.
Die Italiener machten nichts, mit dem man nicht rechnen konnte: Dass Teams von Cesare Prandelli nicht tief stehen, wusste man. Dass sich die Italiener auf die Mitte konzentrieren, um auf den Flanken Räume für die sehr mobilen Stürmer zu schaffen, wusste man auch. Alleine, dass die körperliche Verfassung dermaßen herausragend ist, mag als „erstaunlich“ durchgehen.
So bleibt nach dem vierten Semifinale, das Deutschland hintereinander erreicht hat, zum dritten Mal die Erkenntnis, dass der Gegner besser war. Diesmal vielleicht weniger von der individuellen Qualität, sondern von der inhaltlichen Herangehensweise.
Und damit war gerade bei den taktisch eigentlich so sicheren Deutschen nicht zu rechnen.
(phe)