WM-SERIE, Teil 8: CHILE | Drei Jahre nach dem dritten Platz des U20-Teams bei der WM in Kanada ist Chile zurück auf der großen Bühne. Mit sieben Spielern, die 2007 dabei waren, davon vier als Stammkraft – und ausgerechnet einem Teamchef aus Argentinien!
Bei ihrem letzten Auftritt vor dem großen Publikum einer Weltmeisterschaft, als „la Roja“ im Jahr 1998 in Frankreich ins Achtelfinale kam und dort Brasilien unterlegen war, gab es noch zwei absolute Weltstars in den Reihen der Chilenen – es waren die Serie-A-Stürmer Iván Zamorano (Inter) und Marcelo Salas (Lazio), die dem Team ein Gesicht gaben und als brandgefährliches Sturmduo für die nötigen Tore sorgten. Doch als sie in die Jahre kamen, fiel das Team in ein tiefes Loch. Die beiden folgenden WM-Endrunden wurden meilenweit verpasst.
Bis Kanada kam, im Sommer 2007. Dort, wo auch das österreichische Team auf sich aufmerksam machte und zweimal die Klingen mit den Jung-Chilenen kreuzte. Es gab ein 0:0 in der Gruppe und ein 1:0 für die Chilenen im kleinen Finale. Torschütze war in dieser Partie Hans Martínez von Vizemeister Universidad Católica. Er wird wohl auch bei der WM im Südafrika dabei sein, wenn auch nur als Ergänzungsspieler. Er und sechs seiner Weggefährten von damals – sie brachten den Schwung auch in die A-Nationalmannschaft werden wohl nach Südafrika mitfahren; mit Arturo Vidal, Alexis Sánchez, Carlos Carmona und Gary Medel sollten vier seiner Teamkollegen bei der WM der Großen in der Stammformation stehen. Die Qualifikation schloss Chile als Zweiter ab, nur einen einzigen Zähler hinter Brasilien.
Der Mann, der die Flut von Talenten ins Team brachte und sie dort zu einer schlagkräftigen Truppe formte, die es auch mit den ganz Großen aufnehmen kann, ist Marcelo Bielsa – ausgerechnet ein Argentinier. Nicht der erste Teamchef Chiles, der aus dem ungeliebten Nachbarland kommt. Aber der erste, der länger als ein paar Monate die Verantwortung behalten durfte! Im August 2007, wenige Wochen nach dem Erfolg der Junioren in Kanada, wurde Bielsa zum Teamchef ernannt. Für ihn ist es die zweite Weltmeisterschaft als Verantwortlicher: Mit seinem Heimatland scheriterte er 2002 in Japan als Turnierfavorit aufgrund der fürchterlichen Chancenverwertung von Crespo, Batitsuta und Co. schon in der Vorrunde. Das Olympiagold zwei Jahre danach war schließlich das Abschiedsgeschenk des Trainers, der dafür bekannt ist, an der Seitenlinie zu knien, anstatt auf der Bank zu sitzen oder davor zu stehen.
Die Chilenen vertrauten sich Bielsa an, als die Mannschaft völlig am Boden war. Nach der verpassten Qualifikation für 2006 wurde in der Mannschaft ein radikaler Schnitt vollzogen. Viele etablierte Spieler mussten den Weg freimachen für die Burschen, die den Fußball-Fans des Landes mit dem dritten Platz bei der U20-WM so große Hoffnungen gemacht haben. Und Bielsa konnte diese Hoffnungen erfüllen, weil ihn seine Schlüsselspieler nicht hängen ließen. Deren individuelle Klasse, kombiniert mit einem kompakten Konzept, machte aus dee Chilenen ein Team, dass in Südafrika sicherlich für die eine oder andere Überraschung gut ist. Im konkreten Fall bedeutet das ein 3-4-3, das seine Stärken eindeutig in der Offensive hat.
Im Tor soll Claudio Bravo dafür sorgen, dass es möglichst wenig Gegentreffer gibt. Der 27-jährige Mannschaftskapitän ist zwar mit seinen 1.83m für einen Torhüter kein Riese, sorgt aber mit einer bärenstarken Saison dafür, dass der baskische Traditionsklub Real Sociedad in souveräner Manier ins spanische Oberhaus zurückkehrt. Auf ihn wird in Südafrika einige Verantwortung zukommen, denn die Defensive ist der Schwachpunkt der Mannschaft. Bielsa tendierte immer schon zu einer Dreierkette in der Abwehr; auch bei der WM 2002 ließ er drei argentinische Innenverteidiger auflaufen und überließ die Außenpositionen in Mittelfeld und Abwehr in Personalunion den von der Grundausrichtung eher defensiven Sorín und Zanetti. Was zumindest nach hinten funktionierte, in den drei Spielen gab es nur zwei Gegentore – einen Elfmeter und einen direkten Freistoß.
Damals hatte er auch adäquate Verteidiger zur Verfügung, mit den Chilenen ist dies aber die Problemposition; die hälfte der Kandidaten sind eigentlich gelernte Mittelfeldspieler. Echte Außenverteidiger gibt es im kompletten Kader nicht. Hinzu kommt, dass keiner eine angemessene Körpergröße hat, um bei Standardsituationen hohe Bälle konsequent verteidigen zu können – was bei den Gruppengegnern, die allesamt nicht für Brechstangen-Fußball bekannt sind, aber eher eine untergeordnete Rolle spielen dürfte. Am ehesten könnte das gegen die Schweizer zum Problem werden, wenn man etwa an Philippe Senderos denkt. Die drei Herren, die vor Torhüter Bravo aufräumen sollen, werden von Waldo Ponce geführt: Der 27-Jährige von Vélez Sársfield ist einer der routinierteren in der ausgeprochen jungen Mannschaft. Im zur Seite stehen Gonzalo Jara von West Bromwich und Gary Medel, der bei der U20-WM in Kanada noch im defensiven Mittelfeld agierte.
Er tat dies zusammen mit Carlos Carmona, der diese Position jetzt einnehmen dürfte. Er ist von den vier potentiellen Stammkräften aus der Bronze-Truppe von 2007 aber der größte Wackelkandidat, weil er „nur“ der Ersatzmann für Claudio Maldonado ist. Der Brasilien-Legionär ist mit 30 Jahren der älteste in der Mannschaft und eigentlich für diese Position vorgesehen, ein Kreuzbandriss kostet ihm aber viel Vorbereitungszeit. Und selbst wenn Maldonado fit werden sollte, wäre es eine knappe Angelegenheit. Eine dritte Möglichkeit für die defensive Mittelfeldzentrale ist Arturo Vidal. Der Leverkusener, der in Kanada eine der ganz zentralen Figuren war, ist so etwas wie die Allzweckwaffe von Marcelo Bielsa. Er kann in der Zentralverteidigung spielen, am besten ist er wohl als Sechser, aber im Normalfall wird Vidal zum Notnagel auf der linken Seite. Rodrigo Tello von Besiktas Istanbul könnte das zwar auch, der 30-jährige ist wegen Schwächen in der Rückwärtsbewegung aber bei Bielsa nicht gut gelitten und kam unter ihm nur sporadisch zum Einsatz.
Auf der rechten Seite agiert Rodrigo Millar. Er ist der einzige Fixstarter, der in der Heimat spielt – bei Rekordmeister Colo Colo; dem Klub, wo die meisten Nationalspieler in ihrer Karriere schon unter Vertrag standen. Das offensive Hirn der Mannschaft stellt in der Zentrale Matías Fernández dar. Der Freistoßspezialist mit dem markanten Muttermal im Mundwinkel spielt bei Sporting Lissabon und hat bei Villarreal auch schon Erfahrung in der spanischen Primera División sammeln können. Er hat vor sich noch drei offensive Optionen stehen – denn Bielsa lässt mit echten Außenstürmern spielen.
Was natürlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass die Außen im Mittelfeld eher defensiv besetzt sind. An Alexis Sánchez und Jean Beausejour bleibt daher viel Laufarbeit hängen. Beausejour, Sohn eines Haitianers (daher der französische Name), hat auf seiner linken Seite Mark González (der sinnigerweise „Speedy“ genannt wird) verdrängt, Sánchez hat als Rechtsaußen keine relevante Konkurrenz. Sollte Bielsa im Spielverlauf gezwungen sein, auf zwei echte Stürmer umzustellen, würde Beausejour ins linke Mittelfeld rücken und Sánchez den zweiten echten Stürmer geben – neben Topscorer Humberto Suazo. Er ist mit zehn Treffern bester Torschütze der Südamerika-Qualifikation und versucht sich mit seinen 28 Jahren nun erstmals in Europa; Suazo wechselte im Winter zu Real Saragossa.
Die Stärke der Chilenen besteht zweifelsfrei in der flinken und auch treffsicheren Offensiv-Abteilung, zudem kann Fernández mit seinen Freistößen auch aus ruhenden Bällen Gefahr erzeugen. Die große Chance für die Südamerikaner besteht in der Tatsache, dass sie in ihrer Gruppe mit Spanien, Honduras und der Schweiz zwar auf technisch beschlagene und taktisch gut geschulte Gegner treffen, aber sich eher weniger vor körperlich robuste Kanten mit dem Körperbau eines Henkers fürchten müssen – zumal auch sie selbst gut mit dem Ball umgehen können. Natürlich, die Spanier sind rein von ihrer Klasse natürlich deutlich über Chile zu stellen – aber Bielsas Team hat zweifelsfrei das Potential, um die Gruppenphase zu überstehen. Einiges spricht dafür: Einen Auftaktsieg gegen Außenseiter Honduras vorausgesetzt, wäre mit einem Sieg im Schlüsselspiel gegen die Schweizer mit großer Wahrscheinlichkeit schon alles klar.
Und selbst, wenn es gegen die Eidgenossen „nur“ eine Punkteteilung gäbe, kann man mit etwas Verwegenheit noch auf Hilfe aus einer anderen Gruppe hoffen. Denn sollte Brasiliens Mannschaft in ihrer Hammergruppe den Gruppensieg verpassen, würden die Spanier den Gruppensieg ihrerseits wohl im direkten Duell nicht ganz ungern an Chile weiterreichen, um der Seleção auszuweichen. Doch so oder so: Diese Mannschaft hat Zukunft. Die vielen aufstrebenden Jungstars, die aus der Mannschaft nicht mehr wegzudenken sind, haben das Durchschnittsalter auf unter 25 Jahre gedrückt. Die „Roja“ ist in der aktuellen Form eine Zukunftsaktie.
Eine, die in Südafrika schon steigen kann. Und wenn nicht, dort zumindest viel lernt.
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CHILE
rotes Trikot, blaue Hose, Brooks – Platzierung im ELO-Ranking: 11.
Spiele in Südafrika:
Honduras (Mittagsspiel Mi 16/06 in Nelspruit)
Schweiz (Nachmittagsspiel Mo 21/06 in Port Elizabeth)
Spanien (Abendspiel Fr 25/06 in Pretoria)
TEAM: Tor: Claudio Bravo (27, Real Sociedad), Miguel Pinto (26, Universidad), Christopher Toselli (22, Uni Católica). Abwehr: Roberto Cereceda (25, Colo Colo), Pablo Contreras (31, Paok Saloniki), Ismael Fuentes (28, Uni Católica), Mauricio Isla (22, Udinese), Gonzalo Jara (24, West Bromwich), Gary Medel (22, Boca Juniors), Waldo Ponce (27, Vélez Sársfield). Mittelfeld: Carlos Carmona (23, Reggina), Matías Fernández (24, Sporting Lissabon), Gonzalo Fierro (27, Flamengo), Manuel Iturra (26, Universidad), Claudio Maldonado (30, Flamengo Rio), Hans Martínez (23, Uni Católica), Rodrigo Millar (28, Colo Colo), Arturo Vidal (23, Leverkusen), Rodrigo Tello (30, Besiktas). Angriff: Jean Beausejour (26, Club América), Mark González (26, ZSKA Moskau), Fabián Orellana (24, Xerez), Esteban Paredes (29, Colo Colo), Alexis Sánchez (21, Udinese), Humberto Suazo (29, Saragossa), Jorge Valdivia (26, Al-Ain).
Teamchef: Marcelo Bielsa (54, Argentinier, seit August 2007)
Qualifikation: 0:2 in Argentinien, 2:0 gegen Peru, 2:2 in Uruguay, 0:3 gegen Paraguay, 2:0 in Bolivien, 3:2 in Venezuela, 0:3 gegen Brasilien, 4:0 gegen Kolumbien, 0:1 in Ecuador, 1:0 gegen Argentinien, 3:1 in Peru, 0:0 gegen Uruguay, 2:0 in Paraguay, 4:0 gegen Bolivien, 2:2 gegen Venezuela, 2:4 in Brasilien, 4:2 in Kolumbien und 1:0 gegen Ecuador.
Endrundenteilnahmen: 7 (1930 Vorrunde, 50 Vorrunde, 62 Dritter, 66 Vorrunde, 74 Vorrunde, 82 Vorrunde, 98 Achtelfinale)
>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Elfenbeinküste, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile
* Anm.: Die Platzierungen im ELO-Ranking beziehen sich auf den Zeitpunkt der Auslosung.