Keine Hähne im weltmeisterlichen Hühnerstall

WM-SERIE, Teil 17: ITALIEN | Nach der mauen EM holte sich der Titelverteidiger Marcello Lippi zurück – er soll die Azzurri wieder zum Titel führen. Doch er ist längst nicht unumstritten – erst setzte er zu viel auf die Alten, jetzt probiert er den Medien zu viel herum. Lippi kann eigentlich nur verlieren.

„Ich will keine Hähne im Hühnerstall haben“, gab Marcello Lippi, der „Commisario Tecnico“ des amtierenden Weltmeisters, zuletzt zu Protokoll. Damit meint er „Spieler, die sich aufregen, wenn die ausgewechselt werden. Die sich mit den Schiedsrichtern anlegen. Die sich mit den Teamkollegen streiten, wer einen Freistoß schießen darf. Solche Spieler kann ich nicht brauchen!“ Schlechte Karten also für alternde Diven wie Francesco Totti oder Alessandro del Piero, die einige Tifosi mit Blick auf die mauen Leistungen der Nationalmannschaft in den letzten Jahren wieder fordern. Oder Luca Toni, der sich bei der Roma wieder richtig wohl fühlt. Aber voGute Karten higegen für einige international noch unbekannte Spieler. Wenn auch nicht ohne ein „Aber“ – denn wie ja nicht ganz neu sein dürfte, kommen unbekannte „Talente“ in Italien erst ins Nationalteam, wenn sie die Mitte-Zwanzig-Marke schon deutlich überschritten und stramm auf die Dreißig zugehen.

Der sportliche Niedergang der Serie A schlug sich natürlich auch auf die Nationalmannschaft nieder. War die italienische Elitelige in den Jahren bis zum WM-Triumph von Berlin noch eine der dominierenden in Europa, hat das Gesundschrumpfen in Folge des „Calciopoli“-Skandals rund um den langjährigen Juve-Manager Luciano Moggi auch den Teams einiges an sportlicher Potenz gekostet. Die großen ausländischen Stars wie Kaká von Milan waren nicht mehr zu halten. Letztes Jahr wurde gar ein Spieler, der in der brasilianischen Nationalmannschaft keinerlei Rolle spielt, bei Juventus als Heilsbringer geholt – Diego konnte die hohen Erwartungen aber natürlich nicht erfüllen.

Vor allem auf Klubebene das italienische Leistungsloch deutlich. Juventus wird von einer, bei allem Respekt vor den Leistungen, englischen Durchschnitts-Truppe wie Fulham aus der EuroLeague gekegelt, nachdem in der Champions League gegen die Bayern und Bordeaux nichts zu holen war. Milan wird von Manchester United regelrecht aus dem Stadion gepulvert. Die Roma segelt in der EuroLeague sang- und klanglos gegen Panathinaikos Athen raus – trotz Bestbesetzung. Lediglich Inter Mailand kann eine erfolgreiche Europapokal-Saison vorweisen. Dumm nur, dass bei Inter kein einziger Italiener spielt.

Hinzu kommt, dass bei Italiener ihre sprichwörtlich größten Stärke bröckelt: die Defensive. Fabio Cannavaro, mittlerweile 36 Jahre alt, ist weit über seinen Zenit hinaus, seine potentiellen Partner Nicola Legrottaglie und Giorgio Chiellini haben ganz einfach kein internationales Niveau. Und andere italienische Verteidiger gibt es bei den Spitzenteams nicht! Mit Lucio/Samuel bei Inter und Juan/Burdisso bei der Roma kämpfen zwei südamerikanische Duos um den Scudetto, bei Milan gibt’s ohnehin nur noch Notlösungen wie Oddo in der Abwehrzentrale, und allen anderen fehlt es schlicht an Klasse und internationaler Erfahung. Mit einem alten Mann und zwei Durchschnitts-Verteidigern lässt sich aber kaum noch sinnvoll ein Catenaccio aufziehen.

Kein Wunder, dass Lippi seit der geschafften Qualifikation viel probiert. Etwa mit Salvatore Bocchetti von Sampdoria. Oder mit einer Dreierkette und Leonardo Bonnucci von Aufsteiger Bari. Diese hat zuletzt recht gut funktioniert. Nach Südafrika gibt es mit Sicherheit einen massiven Generationswechsel – Cannavaro wird sicher aufhörenn, auch Zambrotta, Gattuso und Camoranesi dürften das Feld gemeinsam mit Lippi wohl räumen. Es wäre keine Überraschung, wenn der Umbruch durch ein frühes WM-Aus zusätzlich Traktion bekäme.

Lippi hat in der Qualifikation lange den verdienten Spielern von 2006 vertraut, eher er sich an einen seiner Grundsätze erinnert hat: Die Mannschaft ist wichtiger als die Spieler. Darum die Aussage mit den Hähnen, die er nicht haben will. Nun versucht er, mit dem schnellen Einbau von (zumindest halbwegs) jungem Talent den Erfolgshuger in den Kader zurückzubringen, der den alten Herren offenbar schon abging. Beim letzten entscheidenden Quali-Spiel gegen Irland standen zehn Spieler in der Startformation, die in Deutschland den Titel geholt hatten – nur Angelo Palombo kam neu hinein. Seither blieb kein Stein auf dem anderen, obwohl anzunehmen ist, dass die meisten Positionen bei der Endrunde dann doch wieder von den bewährten Kräften ausgefüllt werden.

Bleiben am Ende also doch wieder noch die Gerupften von Juve, der Roma und diversen Underdogs. Im Tor ist eigentlich Altmeister Gigi Buffon eingeplant. Warum Manchester City für den mittlerweile kaum noch mehr als durchschnittlichen und äußerst verletzungsanfälligen Torhüter aberwitzige Summen bieten, bleibt vorerst das Geheimnis der Scheichs. Sollte Buffon, was ja nicht ganz unwahrscheinlich ist, ausfallen, schlägt die Stunde von Federico Marchetti. Noch nie gehört? Kein Wunder, der 27-Jährige spielt bei Cagliari und hat genau null Europapokalspiele in den Beinen.

In der Abwehr hat sich zuletzt die Dreiervariante als Lippis bevorzugte Formation herauskristallisiert. Er zieht dabei die Außenverteidiger etwas nach vorne und opfert dafür einen nominellen Mittelfeldspieler. Fabio Cannavaro und Giorgio Chiellini dürften gesetzt sein, um die dritte Position hat wohl mit Nicola Legrottaglie ein weitere Juve-Verteidiger die besten Karten. Seine Konkurrenten sind Bocchetti von Genoa und der routiniertere Bonera von Milan, einer der beiden wird aber sehr wahrscheinlich den Sprung in den Kader nicht schaffen.

Auf der defensiveren Position der rechten Seite ist es Gianluca Zambrotta, der seine ziemlich sicher letzte WM-Endrunde spielen wird. Um den Stammplatz auf der linken Seite rittern der der junge Domenico Criscito und Fabio Grosso. Letzterer ist zwar deutlich routinierter und war einer der Schlüsselfiguren beim Titel vor vier Jahren, er ist aber nicht unschuldig daran, dass sich Juventus zuletzt im freien Fall befand.

Auch das nominelle Mittelfeld ist überlicherweise eher defensiv ausgerichtet, im Normalfall mit einem echten Sechser (Gattuso oder De Rossi, alternativ auch Montolivo) und einem etwa vorgerückten Spielgestalter. Hier ist Freisoßkünstler Andrea Pirlo gesetzt, wenn er nicht auf der Sechserposition spielt. Sollte das der Fall sein, darf Angelo Palombo spät, aber doch mit 28 Jahren noch auf WM-Auftritte hoffen. Da sowohl die Außenverteidiger allerdings durchaus Stärken auch in der Offensive haben und Pirlo als Impulsgeber für die Offensive gedacht ist, kann diese Linie – wenn man will – auch als reines Vierermittelfeld interpretiert werden. Ganz aus ihrer Haut können die Italiener, die über Jahrzehnte über eine dichte Abwehr zum Erfolg kamen, nicht heraus.

In der Offensive selbst setzt Lippi auf ein Dreiergespann. Und auch auf den Platz der Außenstürmer hat Lippi die Auswahl, je nachdem, wie er das Spiel anlegt. Gerade in der Vorrunde gegen auf dem Papier deutlich unterlegene Mannschaften wird er aber kaum auf den defensiveren Camoranesi zurückgreifen – zumal der 33-jährige gebürtige Argentinier ja auch nicht jünger wird. Nein, da stehen schon genug Spieler mit Defensiv-Anlagen auf dem Platz, hier dürfen sich die reinen Offensiv-Spieler austoben. Ein solcher geborener Flügelstürmer ist etwa Antonio di Natale von Udinese, der schon seit längerem als Linksaußen eigentlich gesetzt ist. Rechts ist der Platz von Wandervogel Fabio Quagliarella, der im Moment bei Napoli unter Vertrag steht, aber auch Simone Pepe ist nicht ohne Chance.

Um den einen Platz im Sturmzentrum herrscht ein dichtes Gedränge: Alberto Gilardino dürfte hier im Normalfall die Nase vorne haben, aber mit Iaquinta und Rossi – dem einzigen Spieler im Kader, der nicht in der Serie A spielt – hat „Gila“ durchaus Konkurrenz. Auch Marco Borriello von Milan macht sich noch Hoffnungen, auf den WM-Zug aufspringen zu können, und nachdem nun auch Juve-Brasilianer Amauri einen italienischen Pass sein Eigen nennen kann, ist auch er noch mit im Rennen.

Es ist aber auch nicht ganz ausgeschlossen, dass Lippi zwei Zentrumsstürmern sein Vertrauen ausspricht. Allerdings wohl nur, wenn es notwendig ist, das defensiv interpretierte 3-4-3 in ein etwas mutigeres 4-4-2 umstellt – dann würde der dritten Innenverteidiger eben für eine zweite echte Spitze weichen. Durchaus denkbar, das Lippi das gegen die eher leichten Gruppengegner das ausprobiert, für den Fall, dass es in einem Achtelfinale etwa gegen Dänemark oder gar Holland notwendig würde.

Sicher ist aber, wie erwähnt, dass nach der Endrunde in Südafrika der ganz große Schnitt einfach kommen muss. Spieler wie Marchionni, Criscito oder Zauberzweg Giovinco, aber auch Molinaro (der den Schritt nach Deutschland genommen hat) und Biondini brennen darauf, die gefühlten Großväter aus dem Mannschaft zu spielen, die ihnen wohl bei der Endrunde in Südafrika den Platz schon eher versperren. Und sicher ist noch eines:

Italien ist im WM-Rennen ein krasser Außenseiter. Auch als Titelverteidiger.

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ITALIEN
blaues Trikot, weiße Hose, Puma – Platzierung im ELO-Ranking: 6.

Spiele in Südafrika:
Paraguay (Abendspiel Mo 14/06 in Kapstadt)
Neuseeland (Nachmittagspiel So 20/06 in Nelspruit)
Slowakei (Nachmittagsspiel Do 24/06 in Johannesburg/E)

TEAM: Tor: Gigi Buffon (32, Juventus), Morgan de Sanctis (33, Napoli), Federico Marchetti (27, Cagliari). Abwehr: Salvatore Bocchetti (23, Genoa), Daniele Bonera (29, Milan), Fabio Cannavaro (36, Juventus), Giorgio Chiellini (25, Juventus), Domenico Criscito (23, Genoa), Fabio Grosso (32, Juventus), Nicola Legrottaglie (33, Juventus), Gianluca Zambrotta (33, Milan). Mittelfeld: Mauro Camoranesi (33, Juventus),  Daniele de Rossi (26, Roma), Gennaro Gattuso (32, Milan), Christian Maggio (28, Napoli), Riccardo Montolivo (25, Fiorentina), Angelo Palombo (28, Sampdoria), Simone Pepe (26, Udinese), Andrea Pirlo (31, Milan). Angriff: Antonio di Natale (32, Udinese), Alberto Gilardino (27, Fiorentina), Vincenzo Iaquinta (30, Juventus), Fabio Quagliarella (27, Napoli), Giampaolo Pazzini (25, Sampdoria), Giuseppe Rossi (23, Villarreal).

Teamchef: Marcello Lippi (62, Italiener, seit August 2008)

Qualifikation: 2:1 in Zypern, 2:0 gegen Georgien, 0:0 in Bulgarien, 2:1 gegen und 2:0 in Montenegro, 1:1 gegen Irland, 2:0 in Georgien, 2:0 gegen Bulgarien, 2:2 in Irland, 3:2 in Zypern.

Endrundenteilnahmen: 16 (1934 und 38 Weltmeister, 50 und 54 Vorrunde, 62 und 66 Vorrunde, 70 Finale, 74 Vorrunde, 78 Vierter, 82 Weltmeister, 86 Achtelfinale, 90 Dritter, 94 Finale, 98 Viertelfinale, 2002 Achtelfinale, 06 Weltmeister)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.