Gehört die Fiorentina zu den besten Teams der Serie A? Nein, tut sie nicht. Die individuelle Qualität ist bestenfalls gehobene Mittelklasse, wenn überhaupt. Sehr wohl gehört die Viola aber zu den interessantesten Teams aus Italien. Das liegt an Vincenzo Italiano.
Der 45-jährige Glatzkopf sucht nach der ultimativen Kontrolle. Er will den Raum kontrollieren, das Tempo kontrollieren, und damit das Spiel. Schon bei Spezia – jenes Team, das er erst in die Serie A führte und dann dort hielt, ehe er 2021 nach Florenz ging – hatte den vierthöchsten Ballbesitz-Wert der Liga, in seinen beiden Jahren am Arno hatte nur Napoli länger den Ball als die Fiorentina.
Italiano versucht dabei, sein Spiel auf die Stärken der Spieler zu trimmen, nicht die Top-Spieler für sein Spiel zu holen – weil sich die Fiorentina das auch gar nicht leisten kann.
Überladungen herstellen
Beispiel das Match gegen Lazio im Herbst. Da rückte Innenverteidiger Igor weit nach vorne und engte die Kreise von Milinković-Savić ein, während das nominelle Mittelfeld im 4-3-3-System weit auseinander zog; ein Achter sicherte tief ab, der andere rückte weit auf und Amrabat (der mit Marokko danach eine großartige WM spielen sollte) fungierte als Bindeglied. Gleichzeitig rückte Linksverteidiger Biraghi, so es die Gelegenheit erlaubte, weit auf – er, Mandragora und Kouamé sorgten für massive Überladungen auf dem Flügel.
Die Fiorentina hatte fast 62 Prozent Ballbesitz, kam 18-mal (!) im gegnerischen Strafraum zum Abschluss, hatte einen ungemein niedrigen PPDA-Wert von 6,8 und provozierte damit neun Ballgewinne im Angriffsdrittel, spielte Maurizio Sarris späteren Vizemeister komplett her – und verlor 0:4.
Biraghi und die schiefe Formation
Jener Spieler, an dem die Balance bei der Fiorentina hängt, ist Linksverteidiger und Kapitän Cristiano Biraghi. Dieser sorgt für 0,18 Expected Assists pro 90 Minuten, ist damit ligaweit auf Platz 38 – allerdings als klar bester Außenverteidiger in einer Viererkette. Die Inter-Wingbacks Dimarco (0,32) und Dumfries (0,27) sowie Valentino Lazaro von Torino (0,19) haben mehr, spielen aber in einem Dreierketten-System in einer offensiveren Rolle.
Das gleichen der linke Achter (in der Regel Mandragora) aus, indem er am Flügel absichert sowie der linke Innenverteidiger (Igor bzw. Ranieri), die in den Sechserraum vorrückt und die DM-Agenden übernimmt. Normalerweise ist es (anders als im angesprochenen Lazio-Spiel) Bonaventura als Achter von der rechten Seite, der sich höher positioniert. Das geht so weit, dass im Frühjahr aus dem 4-3-3 immer mehr ein 4-2-3-1 geworden ist.
Erstaunlich bei Biraghis Flanken und den damit verbundenen Assists ist, dass er weder bei den Vorwärts-Dribblings noch bei den im Angriffsdrittel empfangenen Pässe zu den absoluten High-Volume-Außenverteidigern gehört, sehr wohl aber bei den Pässen im Angriffsdrittel.
Hohe Linie, hohes Pressing
Das liegt an der hohen Linie, die Italiano spielen will. Das geht auch schon mal schief – siehe die 90. Minute im Conference-League-Finale gegen West Ham sowie beide Halbfinals gegen Basel. Ein häufig gewähltes Stilelement ist dabei, dass sich eine Kette von sechs Viola-Spielern (Stürmer, Zehner, beide Flügelspieler, ein Achter und ein AV) zwischen den gegnerischen Linien postiert, um die Abwehr-Kette des Kontrahenten zu überladen.
Zu der hohen Linie gehört auch ein intensives Pressing, das in Italien niemand so konsequent zeigt wie Italianos Fiorentina: Der PPDA-Wert von 10,6 ist Top-Wert der Liga, sogar noch vor Napoli. Hier wird Italiano zum Dogmatiker: Die hohe Linie, das Gegenpressing im Angriffsdrittel, die dadurch ausgeübte Kontrolle über die Räume in der gegnerischen Hälfte, sind für ihn unverrückbare Grundpfeiler. Das Risiko von Gegentoren aus Kontern geht er ein, weil der Benefit durch die hohe Linie in Form von Torchancen für ihn höherwertig ist.
Ist es das? Nun, das ist Interpretationssache. Aus 51 Gegentoren in seiner ersten Saison in Florenz sind 43 in der abgelaufenen Liga-Saison geworden, obwohl die Fiorentina dank der Finaleinzüge im Pokal und der Conference League auf 60 Pflichtspiele gekommen ist (im Jahr davor waren es nur 44) und die Belastung entsprechend höher war. Eine Zahl sticht heraus: Fiorentina ließ in der abgelaufenen Saison 9,1 Torschüsse pro Match zu – das sind ligaweit die wenigsten, noch weniger sogar als der überlegene Meister Napoli (Quelle: Opta). Der Umkehrschluss ist, dass wenn der Gegner zum Abschluss kommt, dann in guten Positionen
Andererseits hat die Offensive erst nach der WM-Pause mit den guten Zahlen der Defensive nachziehen können. Hatte die Fiorentina vor der WM nur die elftmeisten Tore in der Serie A erzielt, war es danach der viertbeste Wert.
Wohin geht die Reise?
Seit dem ersten Jahr unter Stefano Pioli (2017/18) war die Fiorentina nicht mehr so stark wie nun unter Italiano, der sein schwieriges zweites Jahr – anders als Pioli damals, bei dem der plötzliche Tod von Kapitän Davide Astori im Frühjahr 2018 die sportliche Entwicklung überlagert und es in der zweiten Saison in Richtung Abstiegsgefahr ging – mit tonnenweise Matches gut überstanden hat. Und dass Pioli kein schlechter Mann ist, zeigt er seit Jahren beim AC Milan.
Die Spielweise der Fiorentina ist jener von Napoli in vielen Aspekten sehr ähnlich. Kein Wunder also, dass Italiano als heißester Kandidat auf die Spalletti-Nachfolge am Vesuv gehandelt wurde, ehe er sich kurz nach dem Finale gegen West Ham auf ein weiteres Jahr in Florenz committed hat.
Bisher hat Italiano jedes Jahr einen Schritt nach vorne gemacht: 2019 mit Trapani in die Serie B aufgestiegen, 2020 mit Spezia in die Serie A aufgestiegen, 2021 mit Spezia die Liga gehalten, 2022 die Fiorentina auf Kurs gebracht und 2023 in zwei Finals eingezogen. An seiner fachlichen Eignung für ein echtes Top-Team kann kaum noch ein Zweifel bestehen, lediglich hinter seiner menschlichen Kompatibiliät mit Stars bestehen leise Fragezeichen.
Mit 45 Jahren ist Italiano für einen Serie-A-Trainer eher auf der jüngeren Seite und seine Vorstellung vom Spiel schließen an die relativ junge Tradition von Maurizio Sarri, Roberto de Zerbi, Gianpiero Gasperini und Luciano Spalletti an. Bei der Fiorentina muss man von einer gläsernen Decke ausgehen, viel höher als Platz sieben wird es normalerweise nicht gehen, zumal sich der Verein nach den Fehlern der Vergangenheit vernünftigerweise nicht in finanzielle Abenteuer stürzt.
Andererseits: Das Frühjahr 2023 war sehr vielversprechend und es wird spannend sein, was eine punktuell verstärkte Fiorentina ohne Europacup in der Serie A ausrichten kann – denn eine gläserne Decke analog zur Fiorentina hat man vor einigen Jahren ja auch Atalanta zugeschrieben.