Vor 25 Jahren hat die Frauen-WM 1999 den Sport von Grund auf verändert. Brasiliens Spielmacherin Sissi war einer der Stars des Turniers, wurde Torschützenkönigin. Sie hat sich fast eineinhalbstunden Zeit genommen, um mit uns zu sprechen – über das Turnier damals, die Anfänge in Brasilien und die Lage des Frauenfußballs dort vor der Heim-WM 2027 – und warum die Niederlage im Halbfinale von 1999 wahrscheinlich wegweisend für ihr restliches Leben sein sollte.
Wenn es der Verkehr erlaubt, dauert die Autofahrt von Oakland nach Walnut Creek auf der California State Route 24 kaum mehr als 20 Minuten. Das Städtchen ist nicht recht bemerkenswert, Ski-Weltmeister Daron Rahlves ist hier geboren, Tenacious-D-Bassist Kyle Gass ebenso. Und es ist die Heimat des Fußballklubs Walnut Creek Surf. Es besteht eine Kooperation zum gleichnamigen Klub in San Diego, es ist ein Nachwuchs-Klub mit zahlreichen Junioren-Altersklassen.
Sissi gehört hier zum Trainerstab. Die Brasilianerin war eine elegante, technisch extrem beschlagene Spielmacherin, eine klassische Nummer 10, auffällig wegen ihrer Glatze und eine der Stars des Frauenfußballs dieser Zeit. Ihre sieben Tore bei der WM 1999 in den Vereinigten Staaten machten sie gemeinsam mit der Chinesin Sun Wen zur Torschützenkönigin. Dieses Turnier war das erste bei den Frauen, bei dem sich die Organisatoren getraut haben, es so groß aufzuziehen wie etwa die Männer-WM in den USA fünf Jahre zuvor.
Es war ein großes Risiko, aber eines, das sich ausgezahlt hat. Namen wie Mia Hamm, Sun Wen und eben Sissi wurden über die Szene hinaus bekannt. Nun, zum 25-jährigen Jubiläum dieses Turniers, haben wir Sissi gefragt, ob sie sich mit uns unterhalten will – über das Turnier selbst, was es für sie und den Sport generell bedeutet hat – und über den Zustand des Frauenfußballs in ihrer Heimat Brasilien, die 2027 die nächste Frauen-WM ausrichten wird.
Sissi, die Frauen-WM 1999 in den USA war eine große Sache. Aber war sie wirklich der Durchbruch für den Frauenfußball als Ganzes – oder nur für den Frauenfußball in den USA
Das Turnier von 1999 hat mein Leben verändert, meine ganze Generation. Wenn ich darüber rede, was damals passiert ist, bekomme ich immer noch Gänsehaut. In diesen großen, oft ausverkauften Stadien einzulaufen – wir haben ja nie geglaubt, jemals vor so vielen Menschen zu spielen. Ich bin überzeugt, dass sich der Frauenfußball nach 1999 für immer verändert hat, wiewohl es außerhalb der Vereinigten Staaten etwas länger gedauert hat.
In Brasilien war Frauenfußball bis 1979 verboten, deutlich länger als in anderen Ländern, und es sollte bis 1983 dauern, ehe der brasilianische Verband die grundsätzlichen Regularien für den Frauenfußball verabschiedet hat. Wie sind Frauen von den Vereinen, vom Verband, von Männern ganz allgemein behandelt worden, nachdem das Verbot gekippt worden ist?
Da gab es natürlich schon Widerstände, auch weil wir unsere eigene Identität haben wollten. Wir wollten beweisen, dass wir es auch können. Wir waren die Pioniere, hatten für unsere Möglichkeiten zu kämpfen. Es war nicht leicht, aber wenn ich jetzt zurück blicke, kann ich sagen, ja, das war es Wert.
Sie waren 13 Jahre alt, als das Verbot gekippt wurde und bereits 16 Jahre alt, als der Verband grünes Licht gab. Sie haben aber doch sicher schon früher mit dem Fußball angefangen?
Ich bin in einer kleinen Stadt im Bundesstaat Bahia aufgewachsen. Mein Vater war Fußballer und er wollte, dass mein Bruder auch Profi wird. Ich habe sie immer auf die Probe gestellt. Wenn sie über etwas sagten, dass Mädchen es nicht könnten, habe ich gesagt: „Doch, und ich zeig’s euch.“ Sie haben also im Garten gekickt und ich wollte mitmachen, aber sie haben mich weggeschickt und gesagt, ich solle mit meinen Puppen spielen. Sie wollten mir keinen Ball geben, also habe ich die Köpfe von meinen Puppen abgerissen und habe mit denen Fußball gespielt.
Genau genommen haben Sie also mit den Puppen gespielt…
Ja! Und meine Schwester war dann sauer auf mich, weil für sie nur noch die Puppen ohne Köpfe da waren… Ich habe alles zum Kicken genommen, Socken, Klopapier, Orangen. Dann habe ich begonnen, mit den Jungs aus der Nachbarschaft zu spielen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie mich nicht mitspielen lassen, aber ganz im Gegenteil: Sie haben sich beim Wählen der Mannschaften bald um mich gestritten. Ich habe dafür Schwierigkeiten mit meiner Mutter bekommen, weil sie von den Nachbarn angepöbelt wurde, dass es sich nicht gehört, dass ich als Mädchen mit den Jungs spiele. Mir war das aber egal.
Nirgendwo auf der Welt konnten Frauen in den Achtzigern und Neunzigern vom Fußball leben, also auch nicht in Brasilien. Wie sind Sie über die Runden gekommen?
Wir mussten einfach einen Weg finden. Ich persönlich habe nicht nur Fußball gespielt, sondern auch Futsal. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, vom Futsal zu leben, hätte ich das Spiel auf dem Feld vermutlich aufgegeben. Tatsache aber ist, dass viele Spielerinnen aus meiner Generation mit dem Fußball aufgehört haben, weil es sich einfach finanziell nicht ausgegangen ist. Ich hatte neben meinen Engagement im Futsal das Glück, dass die Klubs für die ich gespielt habe – FC São Paulo, Palmeiras, Vasco da Gama – zumindest so gute Verträge gaben, dass ich durchbeißen konnte. Aber natürlich musste ich immer noch jeden Cent sparen.
Es gab also keine Strukturen, die es ermöglicht hätten, sich auf den Fußball zu konzentrieren.
Nein, für mich änderte sich das erst, als ich 2001 in die USA ging, um in San Jose in der damals neu gestarteten Profiliga WUSA zu spielen. Erst da wurde ich wirklich Profi im Wortsinn.
Sie haben die erste Frauen-WM 1991 verletzungsbedingt verpasst, waren aber beim als Test-WM fungierenden Einladungsturnier in China 1988 dabei, ebenso bei der Frauen-WM in Schweden 1995. Wie waren diese Turniere aus Ihrer Sicht?
Also, 1988 war das Motto “Mal sehen, was passiert“. Sie haben eine Gruppe aus verschiedenen Teilen des Landes zusammengestellt, der Kern stammte aber von Spielerinnen von EC Radar. Für mich ging ein Traum in Erfüllung, denn ich habe immer davon geträumt, für Brasilien zu spielen und ich hatte nicht erwartet, dass sich die Chancen tatsächlich einmal bieten würde. Es war schwierig und herausfordernd, es war in puncto Spielsystem im Grunde nichts vorhanden. Wir haben aber gut abgeschnitten, sind ins Halbfinale gekommen. Danach hat sich eben die Frage gestellt, was danach kommt.
Haben sich die Dinge verbessert?
Wir hatten keine großen Erwartungen, manches hat sich vebessert, aber nicht besonders viel. Für 1995 gab es wieder ein paar Fortschritte, aber wieder nichts Substanzielles. Was Strukturen angeht, Unterstützung, Medieninteresse – in Wahrheit gab es nichts davon. Wir hatten nicht mal unsere eigenen Trikots, sondern mussten die der Männer auftragen.
Und für die WM von 1999?
Für die haben wir uns besser vorbereiten können, weil einige der großen Vereine in Brasilien da schon Frauen-Sektionen gegründet hatten. Es waren kleine Schritte, aber immerhin.
Wie war Ihre persönliche Vorbereitung für die WM 1999?
Das ist eine lustige Geschichte, denn ehe ich ins Trainingscamp einrückte, hatte ich einen Unfall beim Futsal. Ich war die Nacht über im Krankenhaus und die Ärzte sagten, sie müssten operieren, weil ich eine Fraktur unter dem Auge hatte. Ich sagte: „Nein, das geht nicht! Es ist WM und ich muss ins Trainingslager!” Also habe ich unterschrieben, dass ich das Krankenhaus gegen ärztlichen Rat verlasse. Es war das Verrückteste, was ich jemals gemacht habe.
Sie haben also die WM 1999 mit einer Knochenfraktur im Gesicht gespielt?
Ja, haben ich. Als ich eingerückt bin, habe ich dem Teamarzt nichts davon gesagt, außer ein paar Mitspielerinnen wusste niemand davon. Ich hatte das Gefühl, dass etwas Besonderes passieren würde. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich fühlte, dass es meine Gelegenheit war, Großes zu vollbringen und ich wusste ja nicht, ob ich noch jemals wieder die Chance dafür haben würde. Ich gebe aber zu, dass ich etwas besorgt war, dass mich jemand schwer foulte.
Hätte Sie also jemand umgetreten wie es Australiens Alicia Ferguson im letzten Gruppenspiel mit Chinas Bai Jie gemacht hat – wobei sich die Chinesin eine Gehirnerschütterung zuzog – wäre das für Sie sehr problematisch gewesen?
Ganz genau. Aber auf dem Feld kann ich Ich selbst sein, mich ausleben. Fußball hat mir so viel Freude gegeben! Und auf dem Feld habe ich auch gar nicht über die Verletzung nachgedacht, ich wollte einfach spielen und Brasilien repräsentieren. Es waren einige der besten Tage, der besten Erinnerungen in meinem Leben.
Im ersten Spiel gab es einen 7:1-Kantersieg gegen Mexiko, danach gab es einen ungefährdeten 2:0-Sieg gegen Italien – damit war Brasilien bereits fix im Viertelfinale. Zu welchem Zeitpunkt im Turnier haben Sie erstmals gedacht, dass Brasilien wirklich weit kommen kann? Denn einerseits war die WM 1995 mit dem Vorrunden-Aus ein sportlicher Fehlschlag, andererseits hatte Brasilien bei Olympia in Atlanta 1996 schon das deutsche Team eliminieren können.
Das war wohl, als wir das 3:3 gegen Deutschland im letzten Gruppenspiel erreicht haben, das war ein wildes Spiel, wir haben in der Nachspielzeit ausgeglichen. Es gab zwei Länder, bei denen wir besonders heiß waren, sie zu besiegen – Deutschland und die USA. Und da besonders die Amerikanerinnen, jeder wollte die schlagen, weil sie die Besten waren. Aber nach dem Match gegen Deutschland habe ich gesagt, ja, wir haben eine Chance. Man fängt an, groß zu träumen. Warum auch nicht?
Sie wussten, dass es wohl einen Punkt gegen Deutschland braucht, um nicht im Viertelfinale schon gegen die USA spielen zu müssen. War das ein Thema?
Wir haben das schon mit dem Trainerstab besprochen, aber ganz ehrlich, es war uns relativ egal. Wenn man bei einer WM erfolgreich sein will, muss man so oder so die besten Teams besiegen.
Die Mannschaft, die Brasilien damals hatte – Sie selbst natürlich, Pretina und Katia als Stürmerinnen vor Ihnen, Formiga hinter Ihnen, Elane als Libero, Maravilha im Tor – wie sind Sie persönlich und auf dem Feld miteinander klar gekommen und wie war das Verhältnis mit Trainer Wilsinho?
Die meisten Spielerinnen haben im Verein beim FC São Paulo zusammen gespielt. Wir kannten uns, es gab einen Gemeinschaftssinn, ein gegenseitiges Verständnis. Wir waren wie eine Familie mit einem gemeinsamen Ziel. Es war wohl die beste Gruppe, mit der ich je arbeiten durfte! Im Grunde war es der FC São Paulo, nur mit anderem Trainer. Wir hatten uns auf Wilsinho einzustellen, aber er hat auch unsere Ideen angenommen und uns die Freiheit eingeräumt, wir selbst zu sein. Das sah man auch.
Inwiefern?
Nun, Formiga und ich beispielweise waren gute Freunde. Sie sagte immer: “Hey, wenn dir jemand blöd kommt, keine Sorge, ich bin da für dich!“ Dank ihr konnte ich noch mehr glänzen, weil ich wusste, sie hält mir den Rücken frei. Sie sagt: „Ich mache die Drecksarbeit für dich, damit du das Spiel machen kannst.“ Sie ist unglaublich und ihre Mitspielerinnen sollten noch zwei Jahrzehnte von ihr profitieren.
Im Viertelfinale gegen Nigeria lagen Sie zur Halbzeit schon komfortabel 3:0 in Führung, aber Nigeria kämpfte sich zurück und erzwang die Verlängerung. Wie ist das geschehen?
Man muss halt das ganze Spiel hindurch fokussiert bleiben. Es braucht nur eine Sekunde der Unaufmerksamkeit und man macht dumme Fehler, weil man nicht aufpasst und abgelenkt wird. Ich denke, genau das ist uns passiert.
In der 104. Minute erzielten Sie das berühmte Freistoß-Tor zum 4:3, es war das Golden Goal. Sie waren offenkundig die beste Standard-Schützin des Turniers, aber wie wurden Sie so gut bei Freistößen?
Ich habe viel trainert. Ich bin jeden Tag nach dem Training noch mit den Torhüterinnen geblieben, um Freistöße aus allen Positionen zu trainieren, Eckbälle, alles. Weil ich wusste, dass ein Spiel von solchen Details entschieden werden kann. Ich und unsere Torhüterin Maravilha haben uns duelliert, wir beide waren extrem ehrgeizig, jeder wollte die andere im Training besiegen. Als also gegen Nigeria dieses Foul an Maycon passierte, habe ich es sofort gewusst. Ich habe sogar zu ihr gesagt: „Du wirst sehen, jetzt ist es gleich vorbei!“ Ich wusste es einfach, weil ich es immer und immer wieder geübt hatte. Einige Zeit später habe ich Mercy Akide getroffen, die damals Nigerias Spielmacherin war, und sie hat mir gesagt: „Du hast dafür gesorgt, dass unsere Torhüterin danach den ganzen Tag geheult hat!“
Im Halbfinale ging es gegen die USA, das Match hat für Brasilien schlecht begonnen, das US-Team ist nach einem Fehlgriff von Maravilha früh in Führung gegangen. Brasilien war danach gut im Spiel, es hat aber nicht ganz gereicht. Wie erinnern Sie sich an dieses Spiel?
Wir haben sie uns genau angesehen, haben die TV-Bilder analysiert. Wir waren bereit und fokussiert, aber wir wussten auch, dass sie ein tollen Team waren und die Fans im Rücken hatten.
Damit lastete aber auch der ganze Druck auf deren Schultern.
Ganz genau. Wir haben uns gesagt, wir sind die Außenseiter, haben nichts mehr zu verlieren, halten uns an unseren Plan. Wir wussten, wen wir stoppen mussten. Sie aber auch. Brandi Chastain hat mir später erzählt, dass sie explizit angewiesen waren, keine Freistöße in Strafraumnähe herzugeben. Einige Situationen sind nicht zu unseren Gunsten ausgegangen und wir haben verloren.
Ein Qualitätsunterschied zwischen den Teams war kaum zu erkennen.
Es war recht ausgeglichen. Wir waren stolz auf uns, es war ein gutes Turnier für Brasilien. Als wir vor der WM Brasilien verlassen haben, waren die Erwartungen gering, die Leute haben erwartet, dass wir schnell wieder daheim sein würden. Wir sind aber bis zum Ende geblieben, haben das Spiel um den dritten Platz gegen Norwegen gewonnen.
Spielen wir mal “Was wäre, wenn“. Wenn Sie an diesem Tag die USA besiegt hätten, wäre dann die 2001 gestartete Profi-Liga WUSA überhaupt zu Stand gekommen? Denn wenn nicht, hätten Sie womöglich nie die Gelegenheit gehabt, in die Staaten zu kommen und dort Profi zu werden.
Das ist eine gute Frage. Ich bin nicht sicher. Ich denke, dass wir dank den Amerikanerinnen die erste Profiliga bekommen haben. Ich weiß es nicht.
Sie haben nie darüber nachgedacht, richtig?
Nein, um ehrlich zu sein, das ist das erste Mal, dass ich das gefragt werde. Die US-Spielerinnen haben damals für ihre Liga und für sich selbst gekämpft, sind sogar gegen ihren Verband vor Gericht gezogen. Wir müssen dankbar sein für diese Gruppe Spielerinnen. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich ohne sie jemals hierher gekommen wäre.
Also: Die WM 1999 hat ihren Anteil, aber was den Frauenfußball wirklich verändert hat, war wohl diese Gruppe von US-Spielerinnen damals?
Absolut. Als ich nach San Jose kam und mit Brandi Chastain gespielt habe, hat sie erzählt, was alles passisert ist. Darum werde ich für immer dankbar sein. In der weltweit ersten Frauen-Profiliga zu spielen, mit den Besten der Besten… Das war etwas ganz Besonderes. Darum sage ich ihnen auch immer, wenn ich sie sehe: „All das ist wegen euch passiert und die Leute dürfen das niemals vergessen!“
Hat die WM 1999 und Ihr persönlicher Erfolg auch in Brasilien mittel- und langfristig verändert, oder passierte das erst in der Zeit von Marta oder gar noch später?
Es hat sich was verbessert, aber nicht viel. Und um ehrlich zu sein, wir kämpfen immer noch um Verbesserungen. Es gibt nicht viele Vereine, die sich wirklich zum Frauenfußball committen. Was die Strukturen angeht, was Wettbewerbe angeht, sind wir noch nicht da, wo wir hin müssen. Vielleicht ändert sich das jetzt, wo wir den Zuschlag für die Ausrichtung der WM 2027 erhalten haben. Das ist meine Hoffnung und die von vielen Spielerinnen in Brasilien.
Es ist in Brasilien aber immer noch besser als in anderen südamerikansichen Ländern, wenn man etwa an Argentinien oder Kolumbien denkt.
Sicher, keine Frage. Und ich finde das so schade, weil es so viele tolle Spielerinnen gibt, so viel Talente. Darum ist es ja so ärgerlich.
Sind Sie optimistisch, was die Aussichten in Brasilien angeht?
Ich träume davon, dass Brasilien etwas Großes gewinnt. Es gibt keine Formiga mehr, auch keine Marta, aber wenn man sich unsere jungen Spielerinnen ansieht, die haben richtig Qualität. Es kommen viele neue, junge Kräfte nach. Aber sie brauchen die Unterstützung, nicht nur finanziell, sondern in allen Bereichen. Warum verlassen denn so viele Spielerinnen Brasilien und suchen anderswo ihre Chancen? Weil es diese Chancen in Brasilien nicht gibt. Natürlich ist es besser, als es früher war, aber schauen Sie nach England, nach Spanien. Das müssen die Vorbilder für Brasilien sein.
Also: Während andere Länder in den letzten zehn Jahren investiert haben, hat es Brasilien verabsäumt, diesbezüglich nachzuziehen?
Ja.
Warum?
Wegen unsere Kultur. Die Menschen in Brasilien sind so kritisch. Auch im Männerbereich. Jetzt haben wir alles, was wir uns damals gewünscht hätten. Aber man stelle sich vor, wir hätten diese Unterstützung damals schon gehabt.
Sehen Sie die Möglichkeit, dass 2027 für Brasilien einen Effekt haben könnte wie 1999 für die USA?
Das ist schon möglich. Aber die Chance wird verloren sein, wenn wir uns nicht für 2027 vorbereiten, und zwar ab jetzt. Nein, besser schon ab gestern! Wir dürfen nicht warten, dass das Turnier kommt und dann auf das Beste hoffen. Die USA hat sich für 1999 vorbereitet. Alle haben gesagt, dass sie verrückt sind, in diese riesigen Stadien zu gehen, aber man hat gesehen, was es für ein Erfolg wurde. Die WM 2027 ist eine Chance für Brasilien, vielleicht die einzige. Entscheidend ist, wie es jene Leute handhaben, die für den Frauenfußball in Brasilien verantwortlich sind. Wenn sie das jetzt nicht richtig machen… Aber man muss positiv bleiben und ich bin ein positiver Mensch. Ich hoffe, dass 2027 ein Erfolg wird.
Sie selbst haben auch bei Olympia 2000 in Sydney gespielt, wo Brasilien wiederum ins Halbfinale gekommen ist. Danach sind sie nie wieder für Brasilien aufgelaufen, obwohl sie in den USA regelmäßig auf höchstem Niveau gespielt haben. Warum?
Nun, 1999 war sehr gut, 2000 nicht. In Sydney war ich eine klare Führungsspielerin. Hinter den Kulissen sind einige Dinge passiert, und ich habe beschlossen, für mich und die anderen Spielerinnen einzustehen, auch für die, die nach uns kommen würden. Ich habe dem Verband meine Bedenken aufgezeigt und habe einen hohen Preis dafür bezahlt, zu sagen: „Das ist nicht gut genug!“
Hatte die Unruhe im Umfeld Auswirkungen auf Ihre Leistungen am Feld?
Durchaus, ich war nicht so gut wie ich es mir gewünscht hätte. Nach dem Turnier haben sie gesagt, ich wäre ein schlechter Einfluss für die Gruppe und würde Probleme verursachen. Aber ich wollte nur helfen, Veränderungen anstoßen. Ich habe versucht zu vermitteln, dass wir mehr Unterstützung brauchen und dass das, was der Verband bietet, nicht alles ist, was er bieten kann. Als ich einige Monate später in die USA gegangen bin, habe ich wohl meinen besten Fußball gespielt, weil ich reifer war und mich auf den Fußball konzentrieren konnte.
Ist es Ihnen leicht gefallen, Brasilien zu verlassen und in die Staaten zu gehen?
Oh nein, ich hatte große Angst, alles hinter mir zu lassen und ich konnte auch die Sprache nicht gut. Es war damals nicht leicht, aber es war das Beste, was ich jemals gemacht habe. Ich bin nicht nur als Sportlerin gewachsen, sondern auch als Mensch. Und ich konnte beweisen, dass ich mich durchsetzen kann, obwohl in der Heimat viele an mir gezweifelt haben. Das war mir ein zusätzlicher Ansporn, es allen zu zeigen. Durchhaltevermögen ist eine meiner großen Stärken und in der amerikanischen Profi-Liga zu spielen, war erfüllend.
Gab es jemals die Chance, ins brasilianische Team zurückzukehren?
Ich wurde Jahre später tatsächlich noch einmal einberufen, aber sie haben Spiele mit mir gespielt, und sowas hasse ich. Ich dachte, ich könnte zeigen, dass ich dazu gehöre und ich hätte es geliebt, gemeinsam mit Marta zu spielen, aber es ist nicht dazu gekommen. Dass es nach 17 Jahren, in denen ich alles für das Team gegeben habe, auf diese Weise endet, war sehr frustrierend.
Kann man sagen, dass die brasilianische Öffentlichkeit ein gespanntes Verhältnis zu Ihnen hatte?
Nun, es ist… Sehen Sie, ich habe mir niemals – auch nicht in meiner eigenen Familie – von jemandem vorschreiben lassen, wie ich mit anzuziehen hätte oder wie ich mich benehmen solle. Ich habe schon mit meiner Großmutter darüber gestritten, es ging also schon damit los, als ich noch klein war! Wenn mir eine Gesellschaft vorschreiben will, wie ich sein soll oder wie ich aussehen soll, sage ich: Kommt gar nicht in Frage!
Als Sie sich vor der WM 1999 eine Glatze geschoren haben, hat das sicher für hitzige Reaktionen in Brasilien gesorgt.
Ich habe das aber aus ganz anderen Gründen getan, ich wollte nicht provozieren. Ich habe ein Versprechen abgegeben, und ein solches halte ich auch ein. Es ging um ein Kind, elf Jahre alt, das das Opfer von gezieltem Mobbing war, weil es keine Haare hatte. Aber die Menschen haben das nicht verstanden, haben nur gesagt: „Meine Güte, warum muss sie nur so sein?“ Darum ging es mir aber gar nicht.
Sie wurden aber zum Vorbild, besonders für Mädchen. Sie haben mit Ihrem Auftreten vermittelt: „Sei du selbst, stehe für dich und deine Überzeugungen ein und kämpfe für deine Ziele.“ Korrekt?
Das ist absolut korrekt. Auch heute ist meine Botschaft an meine Spielerinnen die gleiche: Ich versuche nicht, dich zu ändern. Du musst du selbst sein und lass dir von niemandem sagen, du könntest das nicht. Ich habe die volle Verantwortung für meine Handlungen übernommen. Und wenn mich jemand nicht mag, na und, ist mir egal. Ich muss mir nur selbst gegenüber loyal sein und zu jenen Menschen, die mich lieben.
Es hat Sie zu der Person gemacht, die Sie heute sind.
Genau! Das bin ich, das ist meine Identität. Ich habe niemals jemandem erlaubt, mich zu ändern. Auch nicht meiner Großmutter!
Sind Sie noch in Kontakt mit Ihren Mitspielerinnen oder mit anderen, so wie Marta?
Mit den meisten Teamkolleginnen, ja. Dank der modernen Technik ist das ja viel einfacher als früher und ich bin auch immer noch sehr eng mit Formiga. Ich hatte einige Male die Gelegenheit, mich mit Marta zu treffen, als sie in den USA gespielt hat. Einige Menschen haben versucht, Zwietracht zwischen uns zu schüren, aber für mich gab es niemals eine Konkurrenz zwischen Marta und mir.
Wie auch? Sie und Marta haben zu unterschiedlichen Epochen gespielt, auch etwas unterschiedliche Positionen.
Ja, aber Menschen kreieren gerne Kontroversen. Ich finde, man muss nicht jemanden klein halten, um andere hochzujubeln, das ergibt doch gar keinen Sinn. Ich habe damals gemacht, was ich für richtig hielt, so wie Marta zu ihrer Zeit und so wie es die nächste nach Marta tun wird. Und die Menschen müssen das akzeptieren.
Sind weibliche Spielerinnen geerdeter als Männer, eben weil sie für alles kämpfen müssen und wissen, dass sie in ihrer aktiven Zeit nicht genug Geld verdienen, um nach der Karriere davon leben zu können?
Wir sind geerdeter, ja. Müssen wir sein. Viele vergleichen uns dauernd mit den Männern, aber man muss beides für sich selbst sehen und wie man sieht, kommen die Menschen nun auch in immer größerer Zahl, um Frauenfußball zu sehen. Außerdem sind wie für die Fans nahbarer, bei den Männern ist es ja wirklich schwierig geworden. Aber wir kämpfen immer noch für Equal Pay, da ist immer noch ein gigantischer Unterschied und es gibt immer noch so viele Menschen, die alles debattieren wollen. Nein, nein, nein, nein! Wie ich sagte, wir wollen unsere eigene Identität. Aber der Sport ist der selbe.
Letzte Frage: Wenn es eine Revanchge gäbe von dem Halbfinale von 1999, Brasilien gegen USA, zum 25-jährigen Jubiläum, mit allen Spielerinnen von damals – Sie selbst, Pretinha oder Formiga genauso wie Mia Hamm, Brandi Chastain oder Cindy Parlow-Cone… wer würde gewinnen?
Brasilien! Gar keine Frage, natürlich Brasilien. Auch mit allen Rückenschmerzen, angeschlagenen Knien, was man in unserem Alter halt so hat. Weil ich überzeugt bin, dass Formiga immer noch voll auf der Höhe ist. Also, ja, Brasilien, gar kein Zweifel!