Die Älteren werden sich erinnern können: 2000 und 2001 stand Valencia jeweils im Finale der Champions League, 2004 gewann der Klub den UEFA-Cup und wurde Meister. In den letzten Jahren aber: Finanzielle Troubles, Trainerverschleiß deluxe, zuweilen Abstiegsangst – und ein auf Eis gelegter Stadion-Neubau.
Und jetzt ist Valencia plötzlich wieder Zweiter in der Primera Division, ungeschlagen nach neun Spielen. Wie geht das? Hier ein kleiner Blick auf den wiedererstarkten Verein, der vor anderthalb Jahrzehnten zu den stärksten in Europa zählte.
Der Trainer
Der Aufschwung ist untrennbar mit Marcelino Garcia verbunden. Der 52-jährige Trainer, der aussieht wie Ende 30, trainierte zuvor Sevilla (2011/12) und Villarreal (2013 bis 2016, nie schlechter als Sechster), ehe er zu Saisonbeginn 2017/18 Valencia übernahm. Er verpasste dem Team eine sehr intelligente Spielweise, die vor allem auf das Schaffen von Räumen durch geschickte Laufwege jener Spieler basiert, die gerade nicht am Ball sind.
Die Schlüsselspieler
Zentral für das Spiel von Valencia ist das Duo im zentralen Mittelfeld des 4-4-2. Es sind dies Dani Parejo und Inter-Leihgabe Geoffrey Kondogbia. Auf den ersten Blick ist der relativ schmächtig wirkende Parejo der Ballverteilter und der bullige Kondogbia der Abräumer, aber dieser erste Eindruck täuscht.
Kondogbia hat zwar die Figur eines Disco-Rausschmeißers, aber er hat eine hervorragende Technik. Es ist ihm kein Problem, den Ball auf engstem Raum auch gegen mehr als einen Gegenspieler zu behaupten, er fühlt sich auch als Passgeber wohl. Vor allem aber ist die Abstimmung mit Parejo exzellent, obwohl sie erst seit ein paar Monaten zusammen spielen.
Räume schaffen
Das Haupt-Wesensmerkmal von Valencia ist eben das Manipulieren des Gegners, um Räume für sich selbst zu schaffen. Dafür ist es wichtig, dass jeder exakt weiß, was der andere macht und welche Laufwege dafür notwendig sind. Das ist dem Team schon in Fleisch und Blut übergegangen – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Marcelino erst seit ein paar Monaten im Amt ist.
Ein Beispiel aus dem Spiel gegen Real Betis am 8. Spieltag (siehe Grafik rechts): Parejo führt den Ball und es ist offensichtlich, dass er Soler anspielen will – darum steht Betis-Routinier Joaquin bei ihm. Im richtigen Moment aber startet Rechtsverteidiger Nacho Vidal einen Lauf nach vorne, Joaquín ist einen Moment im Zwiespalt und macht einen Schritt in Richtung Vidal, womit Soler nicht nur frei ist – sondern auch angespielt wird und viel Platz hat.
Aus dieser Situation in der 18. Minute des Spiels, welches Valencia am Ende 6:3 gewinnt, ist zwar nichts rausgekommen, aber es verdeutlicht, was der Plan im Aufbauspiel ist.
Gerade in Ballbesitzphasen ist es oft auffällig, wie weit Parejo und Kondogbia auseinander stehen und sich auch diagonal staffeln. All das ist dem Ziel untergeordnet, Gegenspieler zu locken und sie aus der Position zu ziehen. So entstehen Räume, die man dann entsprechend bespielen kann.
Anderes Beispiel, die Entstehung des Treffers zum 1:0 beim 4:0-Sieg gegen Sevilla am Samstag: Die Defensive von Sevilla konzentriert sich in dieser Situation auf die Valencia-Stürmer Rodrigo (eingeklemmt zwischen Mercado und Corchia) bzw. Zaza (Kjaer ist bei ihm).
Rodrigo kommt dem ballführenden Murillo entgegen, nimmt sowohl Mercado als auch Corchia mit, während keiner auf den in die Tiefe in den frei werdenden Raum sprintenden Guedes achtet. Murillo spielt Rodrigo an, der legt den Ball auf den gegenläufig sprintenden Guedes ab, und dieser hat freie Bahn zum Strafraum. Kjaer kann nicht mehr retten, Guedes trifft zum 1:0.
Dabei hatte Sevilla bis zu dieser Situation in der 42. Minute das Raumschaff-Spiel der Valencianos eigentlich ganz gut im Griff gehabt. Aber eine Situation, in der sich Sevilla locken lässt, war ausreichend.
Denn Valencia braucht extrem wenige gute Chancen, um das Maximum herauszuholen: In der ganzen Liga hat kein Team seinen Expected-Goals-Wert um mehr tatsächliche Treffer überschritten als Valencia. Obwohl da die beiden späten Tore gegen Sevilla (85., 90.) und Betis in der Vorwoche (88., 90.) dabei sind: Das sagt schon was aus.
Genauso wie die Tatsache, dass kein Team der Liga mehr Tore aus dem Spiel erzielt hat als Valencia. Nicht einmal Barcelona!
Die Flügelspieler
Goncalo Guedes, 20-jähriger Leihspieler von Paris St. Germain, hat in dieser Saison nicht nur drei Tore erzielt, sondern auch fünf Assists beigesteuert – damit ist er der zweitbeste Torvorbereiter der Liga (nach absoluten Zahlen) bzw. der effizienteste der ganzen Liga (alle 100 Minuten ein Assist, im Schnitt).
Sein Gegenpart auf der rechten Seite, der ebenfalls erst 20-jährige Eigenbau-Spieler Carlos Soler, kommt ebenfalls auf überdurchschnittliche Zahlen: 1,5 Torschussvorlagen pro Spiel (Guedes hat 2,1), dazu verliert er weniger oft den Ball als Guedes und er hat auch bereits vier Assists auf dem Konto.
Vor allem aber ist es im Aufbau die Aufgabe dieser beiden, durch ihr Positionsspiel Räume zu schaffen und diese, wenn möglich, auch selbst zu nützen. Nicht selten stehen sie auffällig weit vom zentralen Duo Kondogbia/Parejo entfernt, um Gegenspieler zu binden und damit wiederum in den Halbfeldern Löcher zu reißen.
Und, um für Seitenverlagerungen anspielbar zu sein. Denn solche 40-Meter-Pässe auf die ballfernen Außenspieler gehören genauso zum Reservoir von Valencia – vor allem, wenn es sich rund um den Ball staut.
Wenig Ballbesitz
Valencia hatte in den ersten neun Spielen 46,8 Prozent Ballbesitz – kein einziges Team aus den Top-10 in der Tabelle hatte weniger. Nur in zwei Spielen hatte man die Kugel länger als der Gegner, in zwei Partien hingegen sogar weniger als 40 Prozent.
Hier spielt Marcelino die Grundstruktur des 4-4-2 aus. Zwei Ketten, die eng stehen und gut verschieben, wenig Gelegenheit für Pässe zwischen die Linien lassen und den Gegner auf Vertikalpässe im Mittelfeld limitieren. Situativ aber rücken einzelne Spieler aus dem Verbund heraus. Dann nämlich, wenn ein Gegenspieler Anzeichen liefert, kurz zu überlegen, kurz zögert und/oder sich die Anspieloptionen des Gegners gerade ungünstig platziert haben.
Wenn Valencia den Ball gewonnen hat, geht’s ab: Kein Team in Spanien hat in der laufenden Saison mehr Kontertore erzielt als Valencia.
Zwei Beispiele
Dass sich Valencia leichter tut, wenn man weniger Ballbesitz hat, zeigte das Spiel auswärts bei Real Betis.
Die Beticos sind ein Team, das eher über Ballbesitz kommt; Sechser Guardado kippt ab, die Außenverteidiger rücken nach vorne und die Außenstürmer rücken ein. Die drei Betis-Spieler in der Offensivreihe aber wurden zwischen den Valencia-Ketten eingeklemmt und es ging nichts weiter. Valencia ließ Betis 20 Minuten lang anrennen, ehe sie mit ihren Laufwegen die Räume schufen und Betis zurückdrängten.
Zur Halbzeit stand es 2:0 (Eckball und Weitschuss), nach 75 Minuten 4:0 (noch eine Ecke und ein Konter), dazwischen hat Betis auch noch einen Elfmeter vergeben. Durch Schlampigkeiten nach der klaren Führung kam Betis zwar noch auf 3:4 heran, aber eine gut genützte Umschaltsituation und ein weiterer Konter stellten den 6:3-Endstand her.
Ein Paradebeispiel für Valencia in dieser Saison: Wenig zulassen, den Gegner durch geschickte Laufwege verunsichern, und aus wenigen gefährlichen Situationen viel machen.
Ein völlig anderes Spiel, wenn auch mit sehr ähnlichem Resultat, war eine Woche später das Match gegen Betis‘ Lokalrivalen Sevilla.
Sevilla-Coach Berizzo nahm nämlich Kondogbia und Parejo in Manndeckung und hinderte die beiden somit daran, ihre Regisseur-Rolle einzunehmen. Überdies zwang man Valencia den Ballbesitz auf. Es entwickelte sich eine intensive Partie mit wenig Spielfluss und noch weniger Torszenen. Sevilla pflegt nach den spielstarken Jahren unter Emery und Sampaoli nun eher einen physischen Stil. Erst kurz vor der Pause konnte Valencia erstmals den Raum so öffnen, dass man vor das Tor kam und Guedes schloss auch gleich sehenswert ab – es war die oben beschriebene Situation.
Zu Beginn der zweiten Hälfte gelang es Guedes und Rodrigo am gegnerischen Strafraum, erst sich selbst freizuspielen und dann Zaza mit einem Lochpass vor das Tor zu schicken, der Italiener traf mit seinem achten Saisontor zum 2:0 – die Vorentscheidung. In der restlichen Spielzeit konnte man das nun zum Agieren gezwungene Sevilla mit dem ureigensten Defensiv-Spiel kontrollieren und schraubte durch zwei späte Konter das Ergebnis sogar noch auf 4:0 hoch.
Wie nachhaltig ist dieser Lauf?
Nach einem Viertel der Saison liegt Valencia also auf dem zweiten Tabellenplatz, vier Punkte hinter Leader Barcelona und einen vor Real Madrid. Dass man am Saisonende tatsächlich Zweiter wird, ist äußerst unwahrscheinlich.
Zum einen, weil Real Madrid bisher nur wegen deren schwacher Chancenverwertung hinter Valencia liegt. Und zum anderen, weil die Kadertiefe bei Valencia nicht gegeben ist. Marcelino wählt in jedem Spiel zwischen drei Innenverteidigern (Murillo, Gabriel und Garay) sowie zwei Rechtsverteidigern (Montoya und Nacho Vidal) aus, dazu bringt er meist halb durch die zweite Halbzeit Jungstar Santi Mina und den Brasilianer Andreas Pereira. Im Grunde spielen immer die selben 14 Akteure.
Früher oder später kommen Verletzte und Sperren. Früher oder später wird Valencia höchstwahrscheinlich die Chancenverwertung einholen, die in der bisherigen Saison überdurchschnittlich effizient war. Früher oder später werden Spiele kommen, wo man nicht – wie gegen Sevilla – zwar nicht zur Geltung kommt, aber dennoch aus zwei Szenen zwei Tore macht.
Aber: Die Spielweise, die bisher an den Tag gelegte mentale Stabilität (bis auf die zehn Wackel-Minuten gegen Betis) und auch die statistischen Werte legen die Vermutung nahe, dass Valencia durchaus eine realistische Chance hat, den vierten oder (angesichts der aktuellen Schwäche von Atlético Madrid) sogar den dritten Platz erreichen zu können. Auch deshalb, weil man selbst keinen Europacup spielt und sich körperlich und geistig voll auf die Liga konzentrieren kann.