Werden wir unseren Enkelkindern noch von diesem Turnier erzählen? Naja, eher wahrscheinlich nicht. Die EM 2016 war über weite Strecken eine ziemlich zähe Angelegenheit. Warum das so war und noch weitere Erkenntnisse der EM-Endrunde analysieren wir an dieser Stelle.
1.: Passender Sieger
Wir erinnern uns: Die EM 2004 war eine von zuweilen bedingungslocken Attacke-Fußball geprägte Veranstaltung, die letztlich vom einzigen Team gewonnen wurde, das sich ganz exakt auf jede einzelnenen Gegner eingestellt hat und die Vorgaben präzise umgesetzt hat – den Griechen (die übrigens oftmals deutlich offensiver spielten, als das in Erinnerung ist). Ein Gegensatz also.
Portugal hat nun auf eine sehr ähnliche Art und Weise gewonnen: Mit einer wahren Meisterleistung der defensivtaktischen Disziplin wurden im Achtelfinale Modric und Rakitic aus der kroatischen Gleichung genommen; man ließ Krychowiak nie das polnische Viertelfinal-Spiel diktieren, und eliminierte durch konsequentes Einkesseln im Halbfinale die Pässe von Joe Allen – womit Wales nach der Ramsey-Sperre gar nichts mehr zu Stande brachte.
Damit passt der Europameister Portugal zu einem Turnier, das sich vor allem über sehr solide, aber wenig aufregende Defensiv-Strukturen bei vielen Teams definieren lässt.
2.: Die Antwort auf den Ballbesitz-Fußball
Die letzte EM 2012 stand im Zeichen des Versuchs, sich des spanischen Ballbesitz-Fußballs zu erwehren. Es war dies die ausgehende Blütezeit des Guardiola-Barcelona, das fast eins zu eins auch in die spanische Nationalmannschaft übertragen wurde. Schon damals wurde deutlich: Teams, die ausschließlich den Druck am Strafraum absorbieren wollen (wie Frankreich im Viertelfinale), haben keine Chance – wenn doch mal ein Ball durchkommt, und das kann man nicht 90 Minuten verhindern, ist der Gegner sofort vor dem Tor.
Wer aber schon weiter vorne zumacht – also nicht vor den Stürmern, sondern vor dem Mittelfeld – schaut wesentlich sicherer aus (wie Italien in der Gruppe und vor allem Portugal im Semifinale). Diese Elemente wurden 2014 noch mit dezent eingesetzten Manndeckungen im Mittelfeld versehen (vor allem Holland machte das sehr auffällig).
Auf den Punkt gebracht: Hat man zuvor versucht, den Mittelfeld-Kreativen die Anspielstationen in der Spitze zu nehmen, wird nun versucht, schon die Mittelfeld-Kreativen aus dem Spiel zu nehmen.
Das sieht dann so aus wie in diesem Turnier: Viele Teams, die vor der Abwehr-Kette eine weitere Kette installieren, deren klare Aufgabe es ist, die Spielgestalter (die, wir wir wissen, heutzutage zumeist nicht mehr auf der Zehn daheim sind, sondern eher auf der Sechs und der Acht) zu neutralisieren – mit Manndeckungen (wie Portugal, Ungarn und zuweilen auch Nordirland), mit einer generell für die Spielweise relativ hohen Linie (wie Island das v.a. gegen England meisterhaft gespielt hat), mit giftigem Anlaufen (wie z.B. Rumänien), mit Kampfkraft und Wille (wie Irland) oder einer Mischung dieser Elemente.
3.: Weniger Pressing
Ebenfalls ein Feature des spanischen Ballbesitzspiels – das ja eigentlich die ultimative Form des Defensiv-Fußballs war – das Pressing. In den Jahren nach 2008 entstand nach und nach in fast ganz Europa sogar ein gewisser Pressing-Fetisch, der (wenn auf niedrigerem Niveau versucht, wie etwa in der österreichischen Liga) auch ins Gegenteil umschlagen kann und nur die Ungenauigkeit erhöht.
Außerdem geht ein wildes Pressing über den ganzen Platz – wie von Klopp-Dortmund zwischen 2010 und 2012 gezeigt, aber auch in den ersten zwei, drei Koller-Jahren beim ÖFB – irrsinnig an die Substanz. Die Folge: In den letzten Jahren, vor allem aber seit der WM 2014, geht die Pressing-Welle wieder zurück. In Brasilien damals wurden wegen der klimatischen Bedingungen nur nur kurze Pressingwege gesetzt und die Formationen entsprechend angepasst (wie beim 3-5-2 von Mexiko zum Beispiel).
Nach einer körperlich und geistig sehr anstrengenden Saison und noch dazu wenig Zeit, sichere Pressing-Formationen einzuüben, verzichteten fast alle EM-Teams auf ein heftiges Pressing, um die gegnerische Spielgestaltung zu verhindern, sondern setzen eben vermehrt auf Mannorientierungen.
Auch dadurch wirkt das Spiel auf den Zuseher zurückgenommener und weniger energiegeladen, als man das in den letzten sechs bis zehn Pressing-Jahren gewohnt war. Allenfalls ein Gegenpressing nach Ballverlust ist immer noch zu sehen.
4.: Klare Trennung aktiv / reaktiv
So gut wie alle Spiele folgen dem selben Muster: Ein Team versucht, etwas zu kreieren, das andere versucht, dies zu verhindern. Die Matches, die man tatsächlich als offene Schlagabtäusche bezeichnen kann, sind an einer Hand abzuzählen (Deutschland-Italien, Kroatien-Spanien, Portugal-Ungarn… viel mehr war nicht).
Weil es leichter ist, einen guten Defensiv-Plan auszuarbeiten und umzusetzen und es entsprechend vielen reaktiven Teams gut geland, die aktiven zu neutralisieren, wurden so viele Spiele so zäh und durch die schiere Masse der vom Grundprinzip immer gleichen Partie das ganze Turnier so mühsam.
Und es wurde auch deutlich: Bei den Teams, die tatsächlich das Spiel selbst gestalten wollen, braucht es hohe Qualität und auch eine gewisse Routine auf hohem Niveau, um damit auch durch zu kommen. Das hat etwa Deutschland, Kroatien und Frankreich. Andere scheitern, wie das radikal verjüngte englische Team, die Quasi-Neulinge Österreich und die mäßig bzw. schlecht gecoachten Teams aus der Schweiz und Belgien – weil ihnen die innere, nur über Routine zu gewinnende Sicherheit fehlt, oder weil sie sich zu viel auf die individuelle Klasse verlassen.
Damit kommen jene Underdogs weit, die sich eines extrem simplen Fußballs bedienen (Island vor allem, auch Polen) – und die, die etwa nicht ganz Übliches zeigen.
5.: Unübliche Pläne werden belohnt
Immer mehr Teams weichen markant von der Norm des seit einem Jahrzehnt vorherrschenden 4-2-3-1 mit 4-4-2-Tendenzen ab, fast alle eher aus pragmatischen als aus dogmatischen Überlegungen, und im Grunde wurden auch alle für den Mut zur Norm-Abweichung belohnt.
Bei Wales ging es darum, die drei starken Mittelfeld-Leute Ramsey, Allen und Ledley allesamt einsetzen zu können und gleichzeitig Gareth Bale einen gewissen Freiraum zu gewähten. Ähnlich bei Italien: Es gibt drei Weltklasse-Innenverteidiger (die Conte schon bei Juventus zur Dreierkette zusammen gespannt hat), aber vor allem nach den Ausfällen von Verratti, Marchisio und Montolivo nur die zweite Garde im Zentrum. Also wurd um die Problemfelder herumgespielt.
Bei Nordirland spielte (wenn eine Fünferkette auf dem Feld war), der zentrale Abwehrspieler (McAuley) den Manndecker, dafür deckten seine Nebenleute im Raum ab. Auch die Umstellung von Joachim Löw auf eine deutsche Dreierkette gegen Italien passte perfekt; und sein Rückgriff auf das 4-1-4-1 der WM (mit Khedira und Kroos vor Schweinsteiger und Özil auf dem Flügel) gegen Frankreich war grundsätzlich ein guter Griff, der nur von individuellen Schnitzern torpediert wurde.
Diese Abweichler haben allesamt mehr erreicht als ihnen vor dem Turnier zugetraut wurde. Bis auf Deutschland natürlich, aber als Weltmeister kann man Erwartungen ja auch schwer übertreffen.
6.: Echte Stars ordnen sich unter
Ob Cristiano Ronaldo oder Gareth Bale, ob Robert Lewandowski oder Marek Hamsik: Individuelles Genie ist immer noch wichtig und kann in engen Spielen entscheidend sein; aber jeder stellte sich voll in den Dienst der Mannschaft und tat alles, um die taktischen Vorgaben bestmöglich umzusetzen.
Dass es wenige spektakuläre Einzelaktionen der Ausnahmekönner gab, sondern sie sich wie selbstverständlich als Teil der Mannschaft sahen und sich auch im Verbund so verhielten, trug zusätlich zur durchschnittlichen Wahrnehmung des Niveaus bei. Spektakuläre Solos der Marke Messi, Maradona oder Robben gab es nicht.
Kaum jemand fiel wirklich aus diesem Muster raus. Eventuell kann man Eden Hazard nehmen, der zwar einige glänzende Aktionen hatte, aber in einer geteilten Mannschaft nicht gerade als Integrationsfigur glänzte – trotz Kapitänsbinde. Bei Zlatan Ibrahimovic fehlte einfach die Qualität der Mitspieler, bei Arda Turan genauso.
7.: Schlechtes Coaching verliert Spiele
Ja, eh klar, das war in Wahrheit schon immer so. Aber es war nie so wahr wie heute: War es früher noch möglich, dass individuelles Genie ein schlecht gecoachtes Team retten kann – oft auch über mehrere Runden hinweg – geht das nun endgültig nicht mehr.
Parade-Beispiel dafür war Belgien: Ein vor Klasse und Talent nur so strotzender Kader, aber ein Tölpel auf der Trainerbank. Das geht sich gegen deutlich schwächer besetzte Teams wie Irland, Schweden und Ungarn noch aus, aber wenn dann gut vorbereitete Gegner kommen (wie Italien oder Wales), geht sofort das Licht aus.
Bei Erik Hamrén (der nun endlich seinen Job als schwedischer Coach los ist) ist seit zwei, drei Jahren deutliches Desinteresse zu spüren; bei Pavel Vrbas Tschechen gab es keine Abstimmung im Zentrum. Auch Roy Hodgson – einer der größeren Innovatoren in den 1980ern und 90ern – befindet sich nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
8.: Aufstockung und Modus
Es ist nicht so, dass iie Erweiterung des Turniers von 16 auf 24 Teams einen größeren Haufen von minderbemittelten Teams zum Turnier brachte – ein, zwei Teams, die deutlich abfallen gab es auch bei den 16er-Turnieren immer – aber eben mehr, die ihr Heil vornehmlich in der Abwehr-Arbeit suchen. Die Teams 17 bis 22 ziehen das Niveau nicht dramatisch runter.
Sehr wohl drückte aber der Modus auf die Risikobereitschaft einiger Teams in der Gruppenphase. Es ist nicht so wie früher, als man bei der WM 1986 sogar mit zwei Remis und einer Niederlage noch als besserer Dritter ins Achtelfinale kam (Uruguay und Bulgarien bedanken sich bei der Zweipunkte-Regel). Aber vor allem jene Teams, die im ersten Durchgang verloren haben, müssten im zweiten Spiel schon einiges riskieren, um im Rennen um die Top-2 zu bleiben.
Rumänien hätte gegen die Schweiz mehr machen müssen, Tschechien gegen Kroatien genauso, Österreich gegen Portugal detto. Und auch im dritten Durchgang hätten diverse Teams deutlich mehr für das Achtelfinale tun müssen als die Slowaken beim 0:0 gegen England, beispielsweise. Dass es in der K.o.-Phase vermehrt um Sicherheit geht, ist wiederum logisch und war auch bei 16er-Turnieren nicht anders.
Was es bei einem 24er-Feld für Alternativen gäbe? Zwei Varianten drängen sich auf. Zum einen vier Sechsergruppen. Der Modus wäre geradliniger, aber es gäbe viele bedeutungslose Spiele gegen Ende der Gruppenphase. Oder, wie bei der WM 1982, dass die Top-2 jeder Gruppe in eine Zwischenrunde mit vier Dreiergruppen gehen, deren Sieger im Semifinale stehen.
Nimmt man den Modus von 1982 her, hätten die Zwischenrunden-Gruppen 2016 übrigens so ausgesehen: Gruppe 1 mit Frankreich, Deutschland und Island. Gruppe 2 mit Wales, Kroatien und Belgien. Gruppe 3 mit Polen, Schweiz und Ungarn. Gruppe 4 mit Italien, Spanien und England. Klingt spaßig, eigentlich – weil man gewinnen muss, und es nicht reicht, nicht zu verlieren.
9.: Mentale Müdigkeit
Besonders auffällig war es bei den drei EM-Feldspielern, die bei den Bayern quasi die Saison durchspielen mussten – Müller, Alaba und Lewandowski: Sie wirkten überspielt, mental müde, deutlich nicht auf der Höhe ihres Schaffens. Alle haben sie an die 5.000 Pflichtspiel-Minuten in den Beinen, noch dazu im geistig anspruchsvollen Guardiola-Stil.
Allerdings: Es war nicht so wie zum Beispiel bei der WM 2002, wo nach einer auf 17 Spiele aufgeblähten CL-Saison, einem ungewöhnlich frühen WM-Start schon in Mai und der klimatischen Bedingungen so gut wie niemand in guter Form zur Endrunde kam. Vom Bayern-Trio abgesehen, waren es bei praktisch allen Teams und Spielern eher taktische und individuelle Schwächen als plötzliche geistige Langamkeit. Allerdings: Torschützenkönig Antoine Griezmann hat zwar mehr Einsätze in den Beinen als das müde Bayern-Trio, aber fast 700 Pflichtspiel-Minuten weniger.
Für Thomas Müller wäre es also besser gewesen, er wäre noch ein wenig häufiger ausgewechselt worden. Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich Peps Spieler von Manchester City bei der WM 2018 präsentieren.
10.: Starke Referees
Bei WM-Turnieren regelmäßig ein Quell von Ärgernis, aber bei EM-Endrunden oft sehr solide: Diese Schiedsrichter-These bestätigte sich wieder. Die 18 Schiedsrichter in Frankreich waren fast nie ein wirkliches Thema, selbst die schwächsten Leistungen waren schlimmstenfalls mäßig (wie Cakir bei Italien-Spanien, wie Velasco Carballo bei Kroatien-Portugal oder wie Turpin bei Österreich-Ungarn), aber keineswegs skandalös.
Nun wissen wir zwar spätestens seit Brasilien 2014, dass eine gute Liga noch lange kein Garant für gute Referee-Leistungen bei Endrunden ist und eine kleine Liga nicht heißt, dass man automatisch einen überforderten Schiedsrichter stellt. Aber das permanente Stahlbad Champions League sowie die hervorragende Betreuung inklusive taktischer Vor- und Nachbereitung beim EM-Turnier minimiert die Chance von völligen Fehlleistungen.
Genauso wie vernünftige Vorgaben und der bewusst nicht-profilierungssüchtige Führungsstil von UEFA-Referee-Chef Pierluigi Collina, der in völligem Gegensatz zu seinem FIFA-Gegenstück Massimo Busacca steht.
So geht es weiter
In anderthalb Monaten startet Europa als letzter Kontinent in die Qualifikation für die WM-Endrunde in Russland 2018. Europameister Portugal bekommt es dabei mit der Schweiz und Ungarn zu tun; Frankreich mit Holland und Schweden; Deutschland mit Tschechien und Nordirland; Spanien mit Italien und Albanien. 13 UEFA-Teams werden gemeinsam mit dem Gastgeber in Russland dabei sein.