Der Weltmeister-Titel von 1954 war der Triumph des sich im Aufbau befindlichen Nachkriegs-Deutschland. Jener von 1974 war der der Bonner Republik, der von 2014 war der Sieg des modernen, multikulturellen Deuschlands. Und der von 1990 war der WM-Titel der Wende. Die Siegsnacht von Rom jährt sich nun zum 25. Mal. Hier nachgezeichnet: Der Turnierverlauf aus Sicht des DFB-Teams.
In den vier Jahren vor dem Turnier in Italien hat sich das deutsche Team extrem entwickelt. War man 1986 noch mit drögem Panzerfußball und einigem Glück ins WM-Finale vorgestoßen (wo man 2:3 gegen Argentinien verlor), wurde im Mittelfeld nun deutlich mehr die spielerische Note betont. Oft wurde ohne einen dezidierten Kämpfer im Zentrum gespielt, dafür mit drei Kreativkräften. Lothar Matthäus (29) von Inter Mailand war dabei gesetzt, dazu kamen zwei aus dem Trio Uwe Bein (29, Frankfurt), Thomas Häßler (24, Köln) und Pierre Littbarski (30, Köln).
Gruppenphase
Matthäus war ein Spieler mit großer Vertikalität. Er konnte sowohl direkt hinter den Spitzen als klassischer Zehner agieren, sehr gerne ließ er sich aber auch hinter seine beiden Adjutanden zurückfallen und lenkte sein Team von hinten heraus. Das machte ihn für die Gegner in einer Zeit strikter Manndeckung sehr schwierig zu verteidigen.
Der Kontrahent im ersten Gruppenspiel war das jugoslawische Team, das als gefährlicher Geheimtipp ins Turnier gegangen war. Trainer Ivica Osim eliminierte nach den politisch aufgeheizten Prügeleien zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad einen Monat vor Turnierstart Dinamo-Star Zvonimir Boban, der dabei mittendrin war. Der Bosnier Osim ließ vier Bosnier, drei Serben, zwei Kroaten, einen Slowenen und einen Montenegriner spielen – die vor allem gegen die Urgewalt von Lothar Matthäus chancenlos waren. Der Kapitän erzielte zwei Tore, war ein permanenter Gefahrenherd und stiftete permanente Unordnung.
Deutschland ging hochverdient mit einer 2:0-Führung in die Pause, der Anschlusstreffer von Libero Jozic störte sie kaum. Als Keeper Ivkovic – bis zwei Jahren davor beim FC Tirol – eine Brehme-Flanke ausließ und Völler zum 4:1 abstaubte, war die Sache erledigt. Beckenbauer konnte in der Folge auch Littbarski und den jüngen Möller einige Minuten geben, man war direkt voll im Turnier drin und war voller Selbstvertrauen.
Nächster Gegner war der größte Außenseiter des Turniers, das Team von den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dieses bunkerte sich mit vier Manndeckern und einem Libero, dazu zwei Kettenhunden im Mittelfeld, hinten ein.
Natürlich lief das Spiel wie auf einer schiefen Ebene auf das Tor von Muhsin Musabah zu. Dass Deutschland zur Pause nur 2:0 führte – Völler und Klinsmann hatten getroffen – schmeichelte den Emiraten ziemlich, ebenso wie der Anschlusstreffer 20 Sekunden nach Beginn der zweiten Halbzeit. Libero Klaus Augenthaler hatte eine Flanke falsch berechnet, in seinem Rücken sagte Khalid Ismail „Danke“.
Wiederum aber weckte das Tor das DFB-Team nur auf – zumal Beckenbauer für die zweite Hälfte einen der zwei Manndecker rausnahm und mit Littbarski einen zusätzlichen Kreativen für das Mittelfeld brachte. Eine Minute nach dem Anschlusstreffer stellte Matthäus den Zwei-Tore-Vorsprung wieder her, nach einer Stunde markierte Bein das 4:1 und eine Viertelstunde vor Schluss Rudi Völler den 5:1-Endstand. Mit zwei Siegen und 9:2 Toren war der Gruppensieg noch nicht rechnerisch, aber de facto fixiert. Das hieß auch, dass man für zwei K.o.-Spiele in Mailand bleiben konnte.
So konnte man auch das letzte Gruppenspiel gegen Kolumbien etwas lockerer angehen lassen. Generell ließ Beckenbauer seinen Spielen die ganz lange Leine. Ganz im Gegensatz zum repressiven Muff in Malente, wo Beckenbauer 1974 den Lagerkoller am eigenen Leib erfahren hatte, gewährte er als Teamchef seinen Mannen im Castello di Casiglio in der Nähe des Comosees viele Freiheiten.
Und gegen Kolumbien gewährte er Andi Brehme eine Pause. Die Südamerikaner aber hielten nichts davon, Ruhe zu geben: Für sie ging es noch um den zweiten Gruppenplatz. Die Cafeteros, damals ein mit Rauschgift-Millionen hochgepimptes Team, um den schillernden Spielmacher Carlos Valderrama kontrollierten mit schnellem Kurzpassspiel Ball und Gegner. Nur Bodo Illgner war es zu verdanken, dass Kolumbien nicht nach einer Stunde 2:0 führte, sondern es entgegen des Spielverlaufs noch immer 0:0 stand. In Minute 89 gelang dem eingewechselten Littbarski dann sogar per Weitschuss das 1:0. Immerhin kam Kolumbien dank des Ausgleichs in der Nachspielzeit durch Fredy Rincón noch zum verdienten 1:1.
K.o.-Phase
Zweifelhafter Lohn für den Gruppensieg war ein Achtelfinal-Duell gegen den erbittertsten Gegner dieser Zeit, das Team aus den Niederlanden. Zwei Jahre zuvor hatte Oranje im EM-Halfinale den EM-Gastgeber Deutschland eliminiert, in der WM-Quali für das Turnier in Italien hatte es ein 1:1 (in Rotterdam) und ein 0:0 (in München) gegeben. In der Vorrunde aber hatte es das niederländische Team nur zu drei Remis gegen Ägypten, Irland und England gebracht und rutschte nur als einer der besseren Gruppendritten in die K.o.-Phase. Einer der Hauptgründe war die schlechte Form von Marco van Basten, die ihn schon weite Teile des Frühjahrs verfolgt hatte.
Gegen den Lieblingsfeind aber war Holland wieder voll da. Der starke Start ins Spiel war auch möglich, weil Beckenbauer zwar einen dritten Manndecker eingezogen hat, aber damit das defensive Mittelfeld vollends unbesetzt blieb.
Die Vertikalläufe von Aron Winter aus dem Zentrum heraus verliefen weitgehend ungehindert und der 23-Jährige von Ajax Amsterdam hätte schon in den ersten zehn Minuten auf 2:0 stellen können, wenn nicht müssen. Zudem stifteten die permanenden Positionswechsel von Gullit und Witschge bei den deutschen Manndeckern Berthold und Buchwald – die ihre Seiten jeweils beibehielten – Verwirrung.
Nach rund 20 Minuten aber torpedierte Frank Rijkaard die holländische Dominanz, indem er Rudi Völler wiederholt in die Lockenpracht spuckte. Rijkaard sah dafür ebenso Rot wie Völler, der sich beim argentinischen Referee Loustau darüber beschwert hatte. Ohne Rijkaard musste Jan Wouters aus dem Zentrum zurück in die Abwehr, dafür rückte Winter nach hinten, um die Balance zu wahren. Vorbei war’s mit Winters Läufen in den freien Raum und damit auch mit der holländischen Dominanz.
Klinsmann, der nach Völlers Ausschluss wie aufgedreht lief, scorte kurz nach Beginn der zweiten Hälfte das 1:0, Brehme legte zehn Minuten vor Schluss das 2:0 nach – die Entscheidung in einer enorm hitzigen Partie. Das Elfmeter-Tor von Ronald Koeman in Minute 89 kam zu spät, Deutschland siegte 2:1.
Vor dem Viertelfinale gegen das Team der Tschechoslowakei – die CSFR hatte im Achtelfinale Überraschungsteam Costa Rica locker 4:1 besiegt – gewährte Beckenbauer dem Kader zwei Tage komplett frei. Der souveräne Turnierverlauf aber ließ die Leichtigkeit in Leichtsinn überschlagen. Deutschland dominierte den Nachbarn zu Beginn klar, kam nach einem von Matthäus verwandelten Elfmeter (Straka hatte Klinsmann gefoult) nach einer knappen halben Stunde zum 1:0.
In der Folge aber stellte man das Spiel ein. Es folgten billige Ballverluste, das tschechoslowakische Team kam auf, auch nach dem Ausschluss für den unbeherrschten Lubomir Moravcik nach 70 Minuten durch den österreichischen Referee Helmut Kohl. Nach dem 1:0-Sieg wollten die deutschen Spieler in der Kabine feiern, aber Beckenbauer bekam einen legendären Wutausbruch. Er trat auf Eisboxen ein, fuchtelte wie wild: „So ein schlechtes Spiel hab‘ ich ja überhaupt noch nie gesehen! So werden wir im Halbfinale aus dem Stadion geschossen“, soll der Teamchef gebrüllt haben. Vor allem Uwe Bein dürfte sich den Zorn des Kaisers zugezogen haben. Der als schlampiges Genie bekannte Frankfurter spielte fortan keine WM-Minute mehr.
Für das Halbfinale musste man erstmals raus aus Mailand, es wartete England – ausgerechnet in Turin. Fünf Jahre nach dem Heysel-Desaster sorgte eine Heerschaar von 8.000 Sicherheitskräfte dafür, dass Juventus-Fans von den englischen Anhängern abgeschirmt wurden – was nicht ganz gelang, es gab einige Ausschreitungen und auch Festnahmen. Auf dem Feld passten sich die Three Lions in dem Turnier den anderen Trend an: Libero und zwei Manndecker waren nun auch bei Teamchef Bobby Robson gefragt.
Auch, wenn beim 2:1 nach Verlängerung im Viertelfinale gegen Kamerun viel Glück dabei dabei: Diese Maßnahme verlieh England eine große Stabilität. Im Mittelfeld gab es mit Chris Waddle und dem bei diesem Turnier groß aufspielenden Paul Gascoigne zwei kreative Spieler hinter dem Sturmduo mit Lineker und (dem sich gerne etwas zurückfallen lassenden) Beardsley. Zudem konnten die Außenverteidiger guten Gewissens aufrücken.
Deutschland geriet gegen die selbstbewussten Engländer dann auch schnell unter Druck. Über Platt und Waddle lief der Ball gut, Kohler hatte mit Lineker alle Hände voll zu tun. Zudem spielte Deutschland ab der 30. Minute auch einige Zeit mit zehn Mann, weil Völler behandelt wurde. Im Laufduell bekam er einen Tritt von seinem Bewacher Des Walker ab, nach langer Behandlung gab Völler aber doch w.o., und Kalle Riedle kam ins Spiel.
Nach dem Seitenwechsel spielte Häßler deutlich höher, so drückte man das englische Mittelfeld etwas nach hinten und auch Lothar Matthäus – vor der Pause zur Wirkungslosigkeit verurteilt – kam besser ins Spiel. Nach einer Stunde wurde der neue Schwung mit dem 1:0 belohnt: Brehmes abgefälschter Schuss schlug hinter dem 40-jährigen englischen Keeper Peter Shilton ein.
Robson switchte danach doch wieder auf ein 4-4-2, Trevor Steven kam für Libero Terry Butcher (der diese Rolle vor allem in der Spieleröffnung schon arg hölzern spielte). Als es schon nach einem knappen deutschen Sieg aussah, traf nach 80 Minuten aber Gary Lineker doch noch zum 1:1 – Jürgen Kohlers verunglückter Rettungsversuch landete beim ehemaligen Barcelona-Stürmer, der musste nur noch einschießen. England nahm wieder Dampf raus, war mit der Verlängerung erst einmal zufrieden.
Dort aber übernahm Deutschland wieder die Kontrolle, dazu holte sich Paul Gascoigne eine gelbe Karte ab – im Finale wäre er damit gesperrt gewesen. Wie ein Schlag wirkte sich das auf das ganze Team aus, so schien es. Im Elferschießen scheiterte erst Stuart Pearce, dann Chris Waddle. Alle Deutschen trafen, somit war der Platz im Finale gebucht.
Das Finale
Im Turnierverlauf lief sich alles auf ein Endspiel zwischen Deutschland und Italien hinaus – die beiden souveränsten und auch unterhaltsamsten Teams des Turniers. Aber der Titelverteidiger hatte etwas dagegen, obwohl Argentinien zwischen dem Titel 1986 und Turnierstart 1990 insgesamt 26 von 32 absolvierten Spielen nicht gewann und im Eröffnungsspiel dem Kamerun unterlag. In der Folge schmuggelte man sich als Gruppendritter ins Achtelfinale, mit einem glücklichen 1:0 über Brasilien ins Viertelfinale und per Elfmeterschießen gegen Jugoslawien und Italien ins Finale.
All das mit einem zynischen, beinahe ekelhaften Anti-Fußball. Vor Libero Juan Simon standen vier eisenharte Verteidiger, davor drei dezidiert defensive Mittelfeld-Leute. Vor Spielmacher Maradona spielte nur eine Spitze – Claudio Caniggia, der im Finale aber ebenso gesperrt war wie Abfangjäger Ricardo Giusti, Rechtsverteidiger Julio Olarticoechea und Sechser Sergio Batista.
Ohne so viele Spieler verlegte sich Argentinien im Finale umso mehr auf Verteidigen, Treten, Kämpfen, Schimpfen und Theatralik. Selbst die italienischen Zuseher in Rom standen wie ein Mann hinter Deutschland, Maradona etwa wurde bei jedem Ballkontakt gnadenlos niedergepfiffen. Zudem wich ihm Guido Buchwald nicht von der Seite – der große Star der Mannschaft war überhaupt kein Faktor. Nicht selten stand Gustavo Dezotti von Serie-A-Absteiger Cremonese, der Caniggia vertrat, als einziger Argentinier in der gegnerischen Hälfte.
Dieser Spielweise fiel schon nach einer Stunde der für Ruggeri eingewechselte Pedro Monzón per Gelb-Rot zum Opfer, dazu hätte es nach einem Foul am nach vorne stürmenden Libero Augenthaler in Minute 61 einen Elfmeter für Deutschland geben müssen, die Pfeife des mexikanischen Referees Edgaro Codesal Mendez blieb aber stumm.
Anders in der 83. Minute, als Sensini in einem Laufduell Völler einen leichten Rempler gab. Codesal zögerte keinen Moment und zeigte sofort auf den Punkt. Lothar Matthäus, der etatmäßige Elferschütze, wollte nicht antreten – er fühlte sich nicht sicher genug. Dafür schnappte sich Andi Brehme – Klubkollege von Matthäus und Klinsmann bei Inter Mailand – den Ball. Keeper Sergio Goycoechea erahnte zwar die richtige Ecke, aber Brehme knallte die Kugel unhaltbar zwischen den aus Sicht des Schützen linken Pfosten und den heranfliegenden Keeper – das hochverdiente 1:0.
Direkt danach griff der entnervte Dezotti von hinten um Kohlers Hals herum an dessen Kragen und riss den deutschen Verteidiger nieder – auch hier zögerte Cosedal nicht und warf den zweiten Argentinier aus dem Spiel. Troglio und Dezotti, beide um einen Kopf größer als der Referee, brüllten auf den graumelierten Mexikaner ein, ehe Maradona alle anderen wegdrängte. Nur nicht noch einen dritten Spieler verlieren, schien der Kapitän zu denken.
So oder so: Einige Minuten später war das Spiel vorbei und Deutschland Weltmeister. Noch ein paar Minuten später empfing Matthäus den WM-Pokal aus den Händen von Italiens Staatspräsident Francesco Cossiga.
Und noch ein paar Minuten danach wanderte Franz Beckenbauer einsam durch den Mittelkreis des Olympiastadions von Rom.