Es dauerte 120 Minuten und neun Elfmeter. Doch am Ende hat das letzte Viertelfinale des Turniers mit Italien einen verdienten Sieger gefunden, weil die Azzurri, von einer recht aktiven englischen Anfangsphase einmal abgesehen, deutlich mehr für das Spiel taten. Überraschend war das nicht, schließlich war England schon in der Gruppenphase eine der unprickelndsten Mannschaften des Turniers.
Dass die Engländer gegen das von Haus aus sehr eng angelegte Spiel der Italiener das Zentrum verdichten würden, war klar – umso mehr kam auf die Flügel an. Und hier versuchte Hodgson sehr wohl, den natürlichen Nachteil des typisch italienischen 4-3-1-2 auszunützen: Anders als in den Gruppenspielen waren Ashley Cole und vor allem Glen Johnson extrem aktiv nach vorne, unterstützten Young und Milner nach Kräften und stellten so 2-gegen-1-Situationen gegen die italienischen Außenverteidiger her.
Damit hatte Italien zunächst große Probleme, weil es selbst nicht nach Wunsch gelang, einerseits in den Rücken der aufgerückten Engländer zu kommen. Was aber nichts daran änderte, dass auch sie über die Flügel das Spiel nach vorne tragen wollten: Abate und Balzaretti hatten durchaus Platz, weil die Engländer gegen den Ball vornehmlich gegen das Zentrum arbeiteten. Durch die guten Laufwege und die starke Technik von Balotelli und Cassano wurden auch Italien durchaus gefährlich.
Pirlo und De Rossi
Dass Italien vor allem nach dem Umschalten von Offensive auf Defensive immer wieder auf den Flügeln überrannt wurden, minderte sich erst, als De Rossi und Marchisio begannen, dort abzusichern, sobald Abate und Balzaretti aufgerückt waren. So konnten die Engländer nicht mehr ungehindert nach vorne preschen, die Italiener bekamen Kontrolle und Struktur in ihr Mittelfeld und damit zunehmend die Kontrolle im Spiel.
Auffallend war dabei, dass De Rossi oft sehr weit hinten blieb, kaum höher stand als Pirlo und dessen Position übernahm, wenn Pirlo horizontal verschob. Vor allem auf die eigenen rechte Seite wich er immer wieder aus, was möglich war, da Marchisio sich deutlich weiter nach vorne schob als De Rossi auf der anderen Seite. Im Gegenzug ließ sich Montolivo gerne in jenes Halbfeld zurückfallen, in dem Pirlo gerade nicht war.
Die Rolle von Montolivo
Die Rolle des 27-Jährigen, der nach sieben Jahren bei der Fiorentina (wo er übrigens unter Prandelli den Durchbruch geschafft hatte) für die neue Saison zu Milan wechselt, war überhaupt sehr interessant und sie sagt auch einiges über das Spiel der Italiener aus. Er war zwar nominell als Trequartista aufgestellt, also als Zehner hinter den zwei Spitzen, aber diese Rolle ist nicht die von Montolivo.
Er ist eher jemand, der mit guten Pässen aus dem Halbfeld heraus das Spiel lenkt. Außerdem hatte er zwischen Gerrard und Parker auch so gut wie nie den Platz, sich gewinnbringend in dieser Zone zu bewegen. Also verteilte er nicht aus dem Zentrum heraus die Bälle nach vorne, sondern wich auf die Flügel aus oder ließ sich zurückfallen.
Erstaunlich ist dabei auch der Unterschied in seinen Pässen, abhängig davon, ober er auf die linke Seite (mit Balzaretti und dem eher defensiven De Rossi) ging, oder auf die rechte Seite (mit Abate und dem höher agierenden Marchisio). Auf dem rechten Flügel nämlich spielte Montolivo hauptsächlich vertikale Pässe, oft in den Lauf von Abate und auch von Cassano. Links hingegen war das alles eher horziontal, ohne wirklichen Zug zum Tor.
Was sich dann natürlich auch fortsetzte: Während Abate immer versucht war, Flanken in den Strafraum zu bringen, traute sich Balzaretti das wesentlich weniger zu. Wenig Wunder also, dass die Abate-Seite jene war, die den Engländern viel mehr Kopfzerbrechen bereiten muste.
Erlahmende Flügel und der Walcott-Boykott
Was sich gegen Ende der ersten Hälfte schon angedeutet hatte, setzte sich in der zweiten Halbzeit fort: Die Flügel der Engländer erlahmten immer mehr. Johnson und Cole hielten sich immer mehr zurück, wordurch die Italiener immer mehr Kontrolle ausüben konnten. So brachte Hodgson nach genau einer Stunde Carroll für Welbeck (wohl um einen Anspielpunkt für lange Bälle zu haben) und Walcott statt Milner – um wieder für etwas Schwung über jene Seite zu veranstalten, über die die Italiener ohnehin nicht viel Konkretes angeboten haben.
Doch warum auch immer – aber Walcott wurde, sobald er im Spiel war, von seiner Mannschaft richtiggehend boykottiert. Es war, als herrschte ein Verbot, den Ball auch nur in die Nähe von Walcott zu spielen, so sehr wurde fast krampfhaft versucht, Entlastungsangriffe über die andere Seite aufzuziehen. Durch die gute Defensiv-Arbeit von Marchisio war da aber nicht viel möglich.
Drei Neue für Italien
Prandelli brachte in der Folge mit Diamanti und Nocerino (statt Cassano und De Rossi) ebenfalls zwei neue Spieler. Diese beiden wurden deutlich besser eingebunden als das neue Duo bei England: Diamanti spielte tiefer als Cassano und stellte mit seiner Wucht etwas mehr Körperlichkeit entgegen als das Cassano möglich war. Noch wichtiger war aber zunächst die Rolle von Antonio Nocerino: Er spielte eine wesentlich vorgerücktere Rolle als De Rossi vor ihm, statt kluger Pässe waren nun tatsächliche Vorstöße gefragt. Da die Engländer aber standhielten, ging es mit einem 0:0 in die Verlängerung
Dafür kam statt des immer aktiven, aber langsam etwas müde werdenden Abate mit Christian Maggio ein gelernter Wing-Back für die rechte Seite. Nun waren also Maggio und Diamanti für die rechte Außenbahn zuständig, Nocerino und Balzaretti für die linke; Montolivo und Marchisio sicherten ab.
Vor allem Maggio belebte das italienische Spiel. Was aber nichts daran änderte, dass die restliche Mannschaft immer müder wurde. Italien dominierte die Partie zwar nach Belieben, es fehlte aber die Konsequenz und der echte Zug zum Tor – selbst gegen einen Gegner, der schon längst stehend K.o. war. Womit es ins Elfmeterschießen ging – das mit den Italienern jene Mannschaft völlig zu Recht gewann, die zuvor die klar aktivere gewesen war.
Fazit: Italien bleibt interessant, England bleibt langweilig
Das Bemühen war bei den Engländern erkennbar, den systembedingten Vorteil auf den Außenbahnen auszunützen – allerdings zu wenig konsequent und vor allem zu wenig lang. Eine halbe Stunde, dann war der Spuk vorbei, und es spielte nur noch Italien. Diese Squadra Azzurra ist individuell sicherlich weit von der Klasse der Spanier und der Deutschen entfernt, aber durch ihre taktische Flexibilität kann sie den Turnier-Favoriten auf jeden Fall zumindest äußerst unangenehm werden.
Die Engländer fahren (mal wieder) nach einem verlorenen Elfmeterschießen heim. Beschweren darf sich dort aber keiner: Angesichts des Chaos im Vorfeld des Turniers ist der Viertelfinal-Einzug ohnehin ein herzeigbares Ergebnis. Einen Funkenflug, eine Initialzündung für eine mögliche bessere Zukunft konnten die Three Lions aber nicht setzen. Die unglaublich biedere, um nicht zu sagen todlangweilige Spielweise von Roy Hodgson hat funktioniert, um den sportlichen Totalschaden bei diesem Turnier abzuwenden. Zu mehr ist sie aber nicht gut.
Von eingefleischten England-Fans einmal abgesehen wird diesem Team aber keiner nachtrauern.
(phe)