Schwedischer Fallschirm für die Super-Adler

WM-SERIE, Teil 19: NIGERIA | Aneinander vorbei und ohne Teamgeist – so spielte Nigeria zuletzt, auch beim Afrika-Cup. Hölzern und statisch – so spielte das schwedische Team noch unter dem neuen Teamchef der Westafrikaner, Lars Lagerbäck. Das klingt nicht viel versprechend.

Ein Desater, schrecklich, nicht mitanzusehen – Beobachter aus aller Welt waren bei den Spielen von Nigeria beim Afrika-Cup im vergangenen Jänner in Angola schockiert. Ohne jede Leidenschaft, ohne ein nennenswertes Mittelfeld und ohne erkannbaren Spielwitz stolperten die „Super Eagles“ über den Platz. Dass sie im Viertelfinale mit einer Leistung, die mit „Arbeitsverweigerung“ wohl am treffendsten beschrieben ist, gegen das Überraschungsteam aus Sambia nach einem erbärmlichen 0:0 dann im Elfmeterschießen sogar noch weitergekommen sind, war purer Hohn.

Darum kann und darf es auch nicht verwundern, dass Teamchef Shaibu Amodu trotz des dritten Platzes nach dem Turnier mit einem ordentlichen Fußtritt aus dem Amt befördert wurde – er schaffte es nicht, das fraglos vorhandenen Potential auch nur annähernd auszuschöpfen. Dass sein Nachfolger der Schwede Lars Lagerbäck ist, der nach elf Jahren als Teamchef seines Landes gerade vor ein paar Monaten erst nach verpasster Qualifikation seinen Posten geräumt hatte, mutet angesichts der Umstände allerdings schon ein wenig überraschend an.

Denn den Nigerianern fehlte es, und das war deutlich zu erkennen, nicht am System oder an der Ordnung im Spiel. Die war klar ersichtlich und absolut nicht das Problem. Dieses stellte sich eher in überzogenem Egiosmus, aufreizender Lustlosigkeit oder schlicht unterirdischer Performance der einzelnen Spieler dar, und im mangelhaft ausgeprägten Zusammenspiel. Nun ist aber gerade Lagerbäck ein Trainer, der – typisch nordländisch – sehr auf Organistation und Ordnung im Spiel seiner Mannschaft wert legte. Ob das bei den erfolgreichen schwedischen Auftritten bei der WM2002 und der Euro2004 war, oder dem weniger gelungenen von der Euro2008: Schweden spielte immer ein eher statisches System. Der Unterschied war das Alter und die Leistungsfähigkeit der Spieler, welches das Lagerbäck’sche 4-1-3-2 nicht mehr mit ausreichend Leben füllen konnte. Aber nicht die mentale Einstellung.

Nun kommt also ein Trainer daher, der den Nigerianern das einzige beibringen kann, was objektiv ohnehin gepasst hat. Der Verdacht liegt Nahe, dass der schon öfters in Personalfragen eher konfuse Verband schnell handelte, nur um des Handelns Willen. Das hat schon beim Import von Berti Vogts und dessen Co-Trainer-Spezis Häßler und Stein nicht geklappt. Das hat auch 2002 nicht geklappt, als auch schon nach dem Afrika-Cup eben jener Shaibu Amodu gehen musste, der auch jetzt gestanzt wurde – nur, um unter dem hastig einberufenen Festus Onigbinde bei der WM in Asien mit blutleeren Auftritten Schiffbruch zu erleiden.

Blutleer waren aber auch die schwedischen Spieler der letzten Jahre – das Dilemma wird sichtbar. Waren die „Super Eagles“ in den Neunziger Jahren mit den Achtelfinal-Einzügen 1994 und 1998 sowie dem Olympiasieg von Atlanta 1996 die Nachfolger von Kamerun als bestes Team Afrikas, war die Bruchlandung, die auf die schwache WM von 2002 folgte, umso härter. In ihrer Arroganz nahmen sie bei der Ausscheidung für die Endrunde in Deutschland die Angolaner so lange nicht ernst, bis es zu spät war. In der Qualifikation für Südafrika fehlte schon die sportliche Potenz, das Ticket wurde nur durch einen sensationellen Umfaller von Konkurrent Tunesien bei Underdog Mosambik gelöst, buchstäblich in letzter Sekunde.

Der Afrika-Cup legte aber die eklatanten Schwächen dann schonungslos offen: Nigeria verfügt de facto über kein Mittelfeld. Es gibt einen recht anständigen Torwart, ganz gute Verteidiger, und eine Fülle an Stürmern mit großem Potential. Aber dazwischen? Nichts. Ein John Oki Mikel ist von seinem Naturell her weder ein Spieler, der mit großer Präsenz auf dem Spielfeld Ansprüche auf eine Chef-Rolle erfüllen könnte, noch ist er von seiner Spielweise jemand, der das Spiel gestalten und seinen Stempel aufdrücken kann. So bleibt die Offensivlast an den Außenverteidigern und den Außenstürmern hängen. Wenn diese allerdings ihr Tagwerk verweigern, so wie Linksaußen Odemwingie in Angola, steht nach vorne alles still.

Das ist auch ein Dilemma für Lagerbäck. Er wird sich schon alleine aufgrund des Spielermaterials schwer tun, vom 4-3-3, wie es Adomu spielen ließ, auf sein schwedisches 4-1-3-2 umzustellen. Dazu bräuchte er zumindest zwei gelernte offensive Mittelfeldspieler von halbwegs internationalem Format – er hat aber keinen einzigen. Dafür könnte er problemlos zwei Sturmspitzen finden! Wechselt Lagerbäck auf zwei Stoßstürmer, sind dies vermutlich Yakubu Aiyegbeni, der seit vielen Jahren in England spielt, und ein beliebiger Partner. Hier fiele die Entscheidung wohl zwischen den Deutschland-Legionären Obafemi Martins (Wolfsburg) und Chinedu Obasi (Hoffenheim), wobei Martins die bessere Saison spielt, aber auch der besser Joker wäre. Odemwingie hat sich mit seinen Auftritten beim Afrika-Cup sicherlich keinen Gefallen getan, was sein Standing beim neuen Teamchef betrifft. Und Altmeister Nwankwo Kanu wird, wenn überhaupt, wohl eher nur als Maskottchen mitfahren, weniger als echte Alternative.

In Adomus 4-3-3 spielten Aiyegbeni (oder Martins) zentral, Odemwingie links und Obasi rechts, waren aber eben oft sehr auf sich alleine gestellt. Eine mutige Variante wäre, zu zwei Stürmern noch zwei weitere gelernte solche ins Mittelfeld zu geben – also etwa Aiyegbeni und Martins vorne, sowie Odemwingie (oder Victor Nsofor) UND Obasi dann auf den Seiten im Mittelfeld. Da Lagerbäck-Fußball aber grundsätzlich immer eher vorsichtiger Fußball war, ist das wohl nur die Brechstangen-Notlösung.

Wahrscheinlicher ist da schon, dass er weiterhin auf eine Solospitze baut und die Flügelstürmer ins Mittelfeld zurück zieht – zumal das auch der Defensivstärke der Mannschaft eher entgegen käme. So sind in der Zentrale zwei klassische Sechser vorgesehen, hier gibt’s – im Gegensatz zur offensiven Zentrale – wieder einige taugliche Kandidaten. Sani Kaita, der beim russischen Aufsteiger Vladikavkas spielt, und Yusuf Ayila, der seit vielen Jahren bei Dynamo Kiew sein Geld verdient, haben ihr Handwerk in den recht defensiv orientierten Ligen in Osteuropa recht gut gelernt. Erste Alternative wäre Dickson Etuhu, der bei Fulham eine recht ansprechende Saison spielt. Und in der Mitte eben John Obi Mikel von Chelsea, der ohne dominante Figuren wie Lampard, Ballack oder Joe Cole (die ein Spiel schultern könnten) neben sich aber eher wie ein Verwalter spielt, weniger als ein Ansager.

Und hinten, da steht die humorlose und recht sichere Viererkette vor dem für afrikanische Verhältnisse recht ordentlichen Torhüter Vincent Enyama. Das Klischee vom unsicheren afrikanischen Torhüter ist zwar ein trauriges, aber der Afrika-Cup hat gezeigt, dass es leider nicht von Ungefähr kommt – Enyeama, der in Israel bei Hapoel Tel-Aviv die unumstrittene Nummer eins ist, stellt da eine solide Ausnahme dar. Vor ihm in der Zentrale sind die Premier-League-Verteidiger Joseph Yobo (Everton) und Danny Shittu (Bolton) die favorisierten Innenverteidiger; mit Nwaneri, Apam oder eventuell sogar dem Salzburger Afolabi gibt es aber Alternativen. Etwas dünner wird die Sache hingegen außen. Yusuf Mohamad (rechts) war im Jänner einer der wenigen, die nicht völlig abfielen; links wurde Taye Taiwo, Stammspieler vom angehenden französischen Meister Olympique Marseille, zuletzt vom unbekannteren Elderson Echiéjilé von Stade Rennes verdrängt. Das kann aber unter dem neuen Teamchef schon wieder ganz anders ein.

Objektiv betrachtet haben die Nigerianer – anders als vor acht Jahren, als sie mit England, Argentinien und Schweden drei echt schwere Gegner bekamen – diesmal das Glück gehabt, einer eher leichteren Gruppe zugelost zu werden. Zumindest gegen die Griechen im zweiten Spiel sind die „Super Eagles“ kein Außenseiter. Zu diesem Zeitpunkt ist das Spiel gegen die unberechenbaren Argentinier aber schon Geschichte, und starten die Westafrikaner hier mit einer Niederlage, könnte die Luft in der Gruppe schon recht dünn werden. Und bei einer Pleite auch gegen die Griechen könnte das letzte Spiel gegen Südkorea schon nur noch kosmetischen Wert haben.

Vor acht Jahren machte Nigeria einen sportlich wenig aufregenden Eindruck. Beim Afrikacup vor wenigen Monaten einen erschreckend harmlosen, wie schon in der Qualifikation für Südafrika. Und ein kühler Nordländer soll dem Team flammenden Teamgeist vermitteln? Na, mal sehen.

Wahrscheinlicher ist es, dass die „Super Eagles“ auch diesmal nicht so super sind – und der schwedische Fallschirm die Bruchlandung nicht stoppen wird können.

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NIGERIA
ganz in grün, adidas – Platzierung im ELO-Ranking: 28.

Spiele in Südafrika:
Argentinien (Nachmittagsspiel Sa 12/06 in Johannesburg/E)
Griechenland (Nachmittagsspiel Do 17/06 in Bloemfontein)
Südkorea (Abendspiel Di 22/06 in Durban)

TEAM: Tor: Dele Aiyenugba (26, Bnei-Yehuda), Austin Ejide (26, H. Petach-Tikva), Vincent Enyeama (27, H. Tel-Aviv). Abwehr: Rabiu Afolabi (30, Salzburg), Onyekachi Apam (23, Nizza), Elderson Echiéjilé (22, Rennes), Yusuf Mohamad (26, Sion), Obinna Nwaneri (28, Sion), Chidi Odiah (26, ZSKA Moskau), Taye Taiwo (25, Marseille), Danny Shittu (29, Bolton), Joseph Yobo (29, Everton). Mittelfeld: Yussuf Ayila (25, Dynamo Kiew), Dickson Etuhu (28, Fulham), Sani Kaita (24, Vladikavkas), John Obi Mikel (23, Chelsea), Seyi Olofinjana (29, Hull), Kalu Uche (27, Almería). Angriff: Yakubu Aiyegbeni (27, Everton), Nwankwo Kanu (33, Portsmouth), Obafemi Martins (25, Wolfsburg), Victor Nsofor-Obinna (23, Málaga), Chinedu Obasi (24, Hoffenheim), Peter Odemwingie (28, Lok Moskau), Ikechukwu Uche (26, Saragossa).

Teamchef: Lars Lagerbäck (61, Schwede, seit Februar 2010)

Qualifikation: 2:0 gegen Südafrika, 1:0 in Sierra Leone, 1:0 in und 2:0 gegen Äquatorialguinea, 1:0 in Südafrika, 4:1 gegen Sierra Leone. 0:0 in Mosambik, 3:0 gegen Kenia, 0:0 und 2:2 gegen Tunesien, 1:0 gegen Mosambik, 3:2 in Kenia.

Endrundenteilnahmen: 3 (1994 und 98 Achtelfinale, 2002 Vorrunde)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.