VAR – Ballverliebt https://ballverliebt.eu Fußball. Fußball. Fußball. Wed, 14 Jul 2021 21:11:42 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.7.1 Was uns die EM 2021 gezeigt hat: Die große Abschluss-Bilanz https://ballverliebt.eu/2021/07/13/was-uns-die-em-2021-gezeigt-hat-die-grosse-abschluss-bilanz/ https://ballverliebt.eu/2021/07/13/was-uns-die-em-2021-gezeigt-hat-die-grosse-abschluss-bilanz/#comments Tue, 13 Jul 2021 20:59:04 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=17697 Was uns die EM 2021 gezeigt hat: Die große Abschluss-Bilanz weiterlesen ]]> Die zweite EM mit 24 Teams ist vorüber, Italien hat sie gewonnen und es waren unerwartet viele attraktive Spiele dabei. Ein Turnier, dass vor Beginn „niemand so ganz dringend gebraucht hat“, wurde zu einer flotten Angelegenheit, von der man such – sportlich betrachtet, denn volle Stadien wirken in Corona-Zeiten immer noch befremdlich bis beklemmend – gerne mitreißen ließ.

Und was hat uns dieses Turnier gelehrt? Hier unsere gewohnte Abschluss-Bilanz.

Offensive sorgt für attraktive Spiele

142 Tore. Nach der historisch zähen EM vor fünf Jahren folgte nun die torreichste, seit sie 1980 als echtes Endrunden-Turnier ausgetragen wird. Und das nach einer super-vollgepackten Saison, in der die gleiche Anzahl Spiele in ein bis zwei Monaten weniger Zeit durchgepeitscht worden war. Was ist da los?

Banal gesagt: Der Nationalteam-Fußball folgt tendenziell dem Klubfußball. Die Ausschläge sind wegen der geringen Sample Size größer, aber die Tendenz bleibt. In den großen vier Ligen ist die Zahl der Tore pro Spiel von 2,72 (2001) bis auf die Marke von 2,49 (2007) gesunken, ehe sie bis 2017 wieder auf 2,84 hochschnellte – seither pendelt die Zahl zwischen 2,7 und 2,8.

Bei den Großturnieren war der Höhepunkt 2000 mit 2,74 bis zur Trendwende 2010 mit 2,27 gesunken, seither geht sie wieder nach oben – bis eben nun auf 2,78. Es gab einen Ausschlag nach oben (2014 mit 2,67) und einen nach unten (2016 mit 2,12). Ob die Tatsache, dass nach einem ganzen Jahr mit Geisterspielen wieder Zuseher in den Stadien waren und die Spieler womöglich dadurch animiert wurden, müsste man psychologisch untersuchen. Fix ist jedenfalls, dass die Anzahl der Tore in der Corona-Saison 2020/21 in den großen Ligen gegenüber der letzten komplett „normalen“ Saison 2018/19 etwas geringer geworden ist (in England -0,13 und in Spanien -0,08 und in Deutschland -0,15)

Einzige Außnahme: Italien (+0,38).

Der Europameister: Auf fruchtbarem Boden

Der Quantensprung, den die Serie A bei den Toren in der Liga seit der verpassten WM-Teilnahme 2018 gemacht hat, ist zu einem großen Teil auf die konsequente Offensivausrichtung von Atalanta und Sassuolo zurückzuführen. Von dem Plus von 146 Toren pro Saison ligaweit seit 2018 sind alleine die Teams von Gian Piero Gasperini und Roberto de Zerbi für 68 verantwortlich.

Zwar waren kaum Spieler dieser Klubs ernsthaft an der italienischen EM-Kampagne beteiligt – im Grunde nur Berardi und Locatelli von Sassuolo – aber dieser Trend zu mehr Offensive wurde von Mancini nur allzu gerne aufgegriffen. Es ist nicht so, dass das mit vergangenen Spielergenerationen nicht auch möglich gewesen wäre. Aber dieser Kulturwandel, der sich in Italien in den letzten Jahren vollzogen hat, sorgte dafür, dass die angriffigere, kreativere Spielweise auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die Squadra Azzurra ist nach dem Finale bereits seit 34 Spielen ungeschlagen.

Finale: Italien – England 1:1 n.V und 3:2 i.E.

Der Pool an Spielern wird zwar immer kleiner – von 70 Prozent Einsatzzeit für Italiener in der Serie A in der Saison 2005/06 (vor dem WM-Titel) über 41 Prozent im Jahr 2017 (als das WM-Ticket vergeben wurde) ist der Anteil nun auf 33 Prozent geschrumpft. Aber die nachrückenden Spieler, die in Frage kommen, sind von ansprechender Qualität: Alleine bei den letzten drei U-21-EM-Turnieren, bei denen Italien immer dabei war, sind bereits neun nun Europameister geworden (und es wären zehn, wenn nicht Pellegrini coronabedigt im letzten Moment aus dem Kader gestrichen worden wäre).

Der Erfolg von Italien ist kein Zufall und Italien sollte auch mit der nun nachgekommenen Generation – Leute wie Tonali und Zaniolo sind auch noch in der Hinterhand – eine gute Rolle spielen können. Nur: Auf allzu breiten strukturellen Füßen steht er immer noch nicht.

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Comeback der Außenspieler

Überhaupt hat sich die Spielanlage der Teams gegenüber 2016 massiv verändert. Damals war man unter dem Eindruck der gerade abgeflauten Pressingwelle der frühen 2010er-Jahre, die buchstäblich müde Beine bekommen hat und auf Nationalteam-Ebene auch schwierig zu implementieren war. So setzten 2016 viele Teams auf Mannorientierungen im Mittelfeld und daruf, die Spielgestalter im Zentrum – von Modric über Iniesta bis Krychowiak – aus der Gleichung zu decken. Auch bei der WM 2018 waren die Außenverteidiger eher Mitläufer ohne entscheidende Rolle im Aufbauspiel.

Die zunehmende Knubbelung im Zentrum machte die Außenspieler nun aber wieder wichtiger. Leonardo Spinazzola bei Italien, Joakim Mæhle bei Dänemark, Kimmich und Gosens bei Deutschland, Luke Shaw bei England, Andy Robertson bei Schottland, Steven Zuber bei der Schweiz: Sehr viele Mannschaften trugen ihre Angriffe über die Seiten vor, vornehmlich über die linke.

Fröhliche Urständ der Fünferkette

Das geht auch mit dem Umstand einher, dass zehn der 24 Teams quasi Vollzeit eine Dreier-/Fünferkette in der Abwehr gespielt haben, drei weitere zumindest zeitweilig. Zum Vergleich: Bei der WM 2018 in Brasilien waren es nur vier von 32 Teams, davon zwei aus Europa – Belgien und England. Und selbst in der im Jahr 2019 gespielten EM-Quali setzten nur 22 Prozent der Teams vornehmlich auf eine solche Abwehr-Formation: Albanien, Aserbaidschan, Belgien, Estland, Färöer, Israel, Kasachstan, Malta, Moldawien, Nordmazedonien, Schweiz und Zypern. Also zumeist nicht gerade die Creme de la Creme.

Nun war es aber eben bei der EM so, dass es einen Weg nach vorne geben musste, ohne durch das dichte Zentrum zu kommen. Die Benützung von Wing-Backs neben einer Dreier-Kette im Zentrum bietet den bekannten Vorteil, dass diese höher schieben können und weniger akut in der Defensive ihre Aufgaben verrichten müssen. Zudem werden klassische Außenverteidiger in Viererketten-Systemen nach hinten gedrückt.

Der Deal, den man mit einem Wingback-System eingeht, ist das Fehlen eines Spielers entweder im Mittelfeld-Zentrum oder im Zehnerraum. Für viele Trainer bei dieser EM war das aber ein Umstand, den sie in Kauf genommen haben. Diese Herangehensweise hatte auch eine Folge, die sehr auffällig war:

Die vielen Eigentore

Elf Eigentore – das sind mehr, als in allen bisherigen EM-Endrunden zusammen. Sieht man sich diese genauer an, erkennt man aber ein klares Muster: Sieben davon sind aus Stanglpässen entstanden, welche der Verteidiger vor einem Stürmer in seinem Rücken vergeblich zu klären versuchte.

Das ist kein Zufall, denn solche Spielzüge sah man sehr häufig. Rund 25 Prozent aller Tore fielen aus Stanglpässen und Flanken von außerhalb des Strafraums vor das Tor – also mehr als es Treffer aus Standardsituationen gab. Es sind dies Spielzüge, die prädestiniert sind für Turniere mit zusammengewürfelten Mannschaften, weil sie kaum komplizierte Muster brauchen: Hinter die letzte Abwehrreihe kommen, Ball vor das Tor bringen – und irgendwer wird schon seinen Fuß reinhalten, egal ob ein Mit- oder ein Gegenspieler.

Dreimal legten sich Torhüter von Latte oder Pfosten abgeprallte Bälle selbst über die Linie (zweimal davon ungeschickt, einmal unglücklich). Den von Zakaria abgefälschte Weitschuss hätte man genausogut auch Alba geben können – und dann war noch Pedris Rückpass über 50 Meter, der Unai Simón über den Fuß gerutscht ist.

Relativ wenig Tore aus Standards

Bei der WM 2018 fiel in der Gruppenphase fast jedes zweite Tore aus einer Standardsituation, am Turnier-Ende waren es immer noch 41 Prozent. Sprung nach heute: Nicht mal ein Viertel aller Tore resultierte aus einem ruhenden Ball. Gar nur ein einziges der 142 Tore fiel aus einem direkt verwandelten Freistoß – im vorletzten Spiel, Damsgaards Treffer gegen England.

Wie beim generellen Trend nach mehr Toren glich sich der Wert auch hier nach einem Ausreißer wieder der generellen, aus dem Klubfußball bekannten Gegend an. In allen großen Ligen ist der Anteil der Tore aus Standardsituationen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen: Lag der Anteil 2014/15 noch zwischen 22 und 24 Prozent, war er in der abgelaufenen Saison zwischen 16,5 und 18,6 Prozent angesiedelt.

So gesehen sind die 24 Prozent bei dieser EM sogar noch relativ hoch.

Massive Breite

Man mag über den Modus jammern und der High-End-Qualität einer EM mit 16 Teams nachweinen – und man kann beides mit Berechtung machen – aber klar ist auch: Die grundsätzliche Qualität ist am Kontinent für eine Endrunde mit 24 Teilnehmern durchaus gegeben. Was das Team Nummer 16 kann, kann das Team Nummer 24 auch annähernd, da ist kein dramatisches Gefälle gegeben und einige Länder, die ein höheres Potenzial haben als Finnland – soweit man das objektiv beurteilen kann – haben sich gar nicht qualifiziert.

Wir reden da von Serbien beispielsweise, von Griechenland oder Norwegen, Island oder Bosnien. Diese Teams hätten die EM vielleicht nicht reicher gemacht. Ärmer aber auch nicht, man denke nur an Erling Håland.

Die (vermeintlich) Großen mussten sich auch gegen (vermeintlich) Kleine kräftig strecken – selbst Mazedonien und Finnland, aber auch die nach altem Modus ohne Teilnahme-Chance gewesenen Ungarn haben ihre Daseinsberechtung mit disziplinierten und/oder couragierten Auftritten bestätigt. Frankreich, Portugal, Deutschland, Holland und Kroatien haben sich im Achtelfinale verabschiedet und es waren immer noch genug Teams übrig, die einen realistischen Claim auf den Titel stellen konnten.

Ob es dennoch gescheit ist, so ein Turnier mit 24 oder gar, wie offenbar angedacht wird, bald mit 32 Teams durchzuführen, sei dahingestellt. Es sollte bei einer EM dann womöglich doch eher wie beim Kapitalismus generell sein: JEDER kann reich werden, aber es können nicht ALLE schaffen.

EM der Teams, nicht der Stars

Wie hieß es in unserer Bilanz zur EM 2016? „Individuelles Genie ist immer noch wichtig und kann in engen Spielen entscheidend sein; aber jeder stellte sich voll in den Dienst der Mannschaft.“ Die EM 2021 ging noch einen Schritt weiter: Es war keine EM der Stars. Die fünf Tore von Ronaldo konnten Portugals Achtelfinal-Aus nicht verhindern, der bei Man United so groß aufspielende Bruno Fernandes war ein Fremdkörper. Kevin de Bruyne schleppte sich verletzt durch das Turnier, konnte seine Klasse nur aufblitzen lassen. Frankreich spielte eine gute Gruppenphase, aber die vielen Stars des Weltmeisters waren in Wahrheit ein zerstrittener Haufen. Lewandowski erzielte drei der vier polnischen Tore, kam aber nicht mal ins Achtelfinale. Modric wirkte phasenweise ausgelaugt. Ja, Bale war sehr gut, aber das Team um ihn herum eben nicht.

Dafür war es schon vor der EM ein oft herausgestrichener Punkt, dass Italien keine echtes Stars hat, sondern als Team funktioniert. Dänemark kann nach dem Eriksen-Vorfall exemplarisch dafür stehen, dass es eine EM der Teams war, keine der Stars. Gareth Southgate und Luis Enrique setzten jeweils (fast) ihren kompletten Feldspieler-Kader ein, rotierten je nach Bedarf, Matchplan und Gegner. Auch der überraschende Viertelfinalist Tschechien funktioniert rein als Team, die Schweizer genauso.

Referees und VAR

Die Vorgabe von UEFA-Schiedsrichter-Chef Roberto Rosetti (der 2008 in Wien das EM-Finale geleitet hat) war ganz klar: Der VAR greift nur bei Abseits-Entscheidungen ein, und wenn eine Entscheidung auf dem Feld komplett daneben ist. Das war sie in 51 Spielen nie – darum wurde auch kein Judgement-Call eines Referees auf dem Feld vom Video-Assistenten kassiert. Die drei Elfmeter-Entscheidungen, die nach allgemeinem Empfinden verkehrt waren (der französische gegen Portugal, der russische gegen Dänemark und der englische ebenfalls gegen Dänemark), waren nun mal keine gänzlich berühungslose Schwalben. Damit blieben die Entscheide bestehen – die Entscheidungsgewalt des Referees auf dem Platz sollte betont werden.

Für die beiden Referees, die ihre zweifelhaften Elfer in der Gruppenphase gaben – Turpin und Mateu-Lahoz – gab es allerdings keine Einsätze mehr. Für Makkelie nach dem Halbfinale sowieso nicht mehr. Wir haben jetzt erst vier Jahre mit dem VAR in den Büchern, dass es ein Jahrzehnt des „mal zu viel, mal zu wenig“ brauchen wird, bis sich alles halbwegs konstakt eingespielt hat, deutet sich immer mehr an.

Die Leistungen waren im Ganzen sehr ansprechend, der VAR hat zusätzlich so gut wie alles ausgebügelt – entgegen dem Empfingen sogar etwas häufiger (alle 2,83 Spiele eine umgedrehte Entscheidung) als etwa in der Premier League (alle 2,97 Spiele). Dafür wurden weniger Fouls gepfiffen als noch 2016 (damals 25,2 pro Spiel, diesmal 23,3).

Die unmittelbare Zukunft

Im September, Oktober und November werden die sieben verbleibenden Spieltage für die WM-Quali ausgespielt, die im März begonnen hat. Im Oktober steht zusätzlich das Final-Four der Nations League an – Italien, Spanien, Belgien und Frankreich treffen sich in Turin bzw. Mailand.

Im März 2022 ist das WM-Playoff geplant. Im Juni 2022 (vier Spiele) und September 2022 (zwei Spiele) steht die nächste Nations League an, im November und Dezember 2022 die WM in Katar.

Die letzten drei Weltmeister (Frankreich, Deutschland, Spanien) waren bei der EM davor jeweils mindestens im Halbfinale. Italien, England, Spanien und vielleicht sogar Dänemark könnten also eine schon jetzt platzierte Langzeit-Wette wert sein.

Link Tipps:
Analyse der Vorrunden-Verlierer (FIN, HUN, MKD, POL, RUS, SCO, SVK, TUR)
Analyse der Achtelfinalisten (AUT, CRO, FRA, GER, NED, POR, SWE, WAL)
Analyse der Top-8 (ITA, ENG, ESP, DEN, BEL, SUI, CZE, UKR)

Link-Tipps:
Balance, Absicherung, Video-Referee: Das war die WM 2018
10 Erkenntnisse der EM 2016 in Frankreich
WM 2014: Rückkehr der Dreierkette, gute Goalies und die ewige Diskussion um die Refs
WM 2010: Toter zweiter Mann, besoffene Schiefe und andere Erkenntnisse

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VAR: Das fast ultimative Urteil (mit Alex Feuerherdt von Collinas Erben) https://ballverliebt.eu/2020/02/25/var-das-fast-ultimative-urteil-mit-alex-feuerherdt-von-collinas-erben/ https://ballverliebt.eu/2020/02/25/var-das-fast-ultimative-urteil-mit-alex-feuerherdt-von-collinas-erben/#respond Tue, 25 Feb 2020 20:25:32 +0000 Fußball-Regeln sind so eine Sache: Jeder hat eine Meinung, aber wenige Menschen die totale Ahnung. Alex Feuerherdt ist zusammen mit Klaas Reese bei Collinas Erben eine Institution, was das Schiedsrichterwesen anbelangt. Deshalb haben wir Alex eingeladen, um mit ihm über die Video Assistant Referees (kurz: VAR) zu reden. Das soll in einem knappen Jahr ja auch in Österreich starten, dabei sorgt es selbst in großen Ligen noch für (nicht immer ganz sinnvolle) Diskussionen. Warum und was man so über die deutschen und englischen Erfahrungen sagen kann? Hört doch einfach rein!

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Balance, Absicherung, Video-Referee: Das war die WM 2018 https://ballverliebt.eu/2018/07/18/wm-russland-2018-bilanz-balance-system-standards-var/ https://ballverliebt.eu/2018/07/18/wm-russland-2018-bilanz-balance-system-standards-var/#comments Wed, 18 Jul 2018 13:22:59 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=15084 Balance, Absicherung, Video-Referee: Das war die WM 2018 weiterlesen ]]> Exakt 20 Jahre nach ihrem ersten WM-Titel jubelt auch 2018 ein französisches Team mit dem Pokal in der Hand. Es war im Ganzen ein recht unterhaltsames Turnier. Es brachte, wie jede WM-Endrunde, einige positive wie negative Überraschungen, und auch eine kompakte Übersicht, wie sich die Fußball-Welt in genereller und taktischer Hinsicher derzeit darstellt.

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1. Die Balance entscheidet

Das Finale

Dafür, ein Spektakel zu liefern, sieht sich Didier Deschamps nicht zuständig. Der Mann war einer der weltbesten Sechser. Und man wird das Gefühl nicht los, dass er genau das in seiner tiefsten Überzeugung auch heute noch ist.

Zinedine Zidane, sein vier Jahre jüngerer Welt- und Europameister-Kollege von 1998 und 2000, war das genaue Gegenteil: Ein individuelles Genie, das sich nicht viel um die Struktur des Teams scherte. Einer, der durch Individualität hilft, nicht durch Mitdenken.

Der eine ist nun Teamchef des Weltmeisters, der andere hat Real Madrid als Trainer zu drei Champions-League-Siegen in Folge geführt. Ihre beiden Teams, so unterschiedlich sie auch sind – das Kreativspiel von Real mit relativ viel Ballbesitz hier, das zurückgenommene Konterspiel Frankreichs mit relativ wenig Ballbesitz da – eines eint sie: Die Balance. Sie ist zum zentralen Thema in diesen späten Zehner-Jahren geworden.

Die Pressing-Welle ist längst abgeebbt. Das war bei der WM 2014 schon erkennbar. Das in den letzten Jahren vor allem in der Champions League so erfolgreiche Team von Real zeichnet sich nicht durch Pressing aus, nicht allein durch eine stringente Defensiv-Arbeit, nicht allein durch hohe individuelle Klasse; nicht durch atemberaubendes Tempo-Spiel oder rasante Umschaltsituationen. Es ist die perfekte Abstimmung aus solider Defensive, guter Balance zwischen Abwehr und Kreativität im Mittelfeld und individueller Qualität ganz vorne.

Viele maßgebliche Teams bei der WM legten es ähnlich an. Kroatien etwa, auch weil Modrić dieses Spiel von Real verinnerlicht hat. Frankreich ebenso, mit dem emsigen Kanté und dem polyvalenten Pogba im Zentrum. Auch Brasilien sah so solide, unspektakulär und ungefährdet aus, wie es Real im Idealfall ist – es fehlte allerdings ein tauglicher Rechtsverteidiger, der einen Gegenpol zur linken Seite mit Coutinho und Neymar hätte bilden können.

Aber, und das ist eh nix Neues: Es muss vorne und hinten stimmen. Eine schöne defensive Balance hatte etwa auch Nigeria. Dafür war es vorne ziemlich dünn. Ähnlich war es bei Australien, dem Iran oder Island. Umgekehrt war es beispielsweise bei Tunesien: Das war nach vorne recht brauchbar, aber hinten bekam man die Tore reihenweise eingeschenkt.

2. – Stabile Absicherung im Mittelfeld

Wer sich den Spaß macht und sich ein paar Spiele der WM 2002 nach heutigen Gesichtspunkten ansieht, wird erschocken sein: So etwas wie ein „kompaktes Mittelfeld“ oder eine nennenswerte Absicherung gab es de facto nicht. Nun, 16 Jahre später, gibt es im Grunde kein einziges Team mehr, das bei eigenem Ballbesitz die Staffelung in der Zentrale vernachlässigt. Die wenigen, die es taten – wie Deutschland – wurden bestraft. Das heißt aber auch: Echte, offene Schlagabrtäusche waren selten. Es gab eigentlich nur ein Spiel, in dem es alle Beteiligten mit der Absicherung im Zentrum nicht so genau nahmen. Das war jedes von Japan gegen den Senegal (2:2).

Bei der EM 2016 hieß das bei vielen Teams: Strikte Defensive. Bei diesem Turnier dachten viele Mannschaften schon einen Schritt weiter nach vorne. Dadurch wirkte das Turnier als Ganzes offener, offensiver, weniger mühsam. Es hatten zwar immer noch viele Teilnehmer Probleme, im Angriffsdrittel sich Konkretes zu erarbeiten. Aber es igelte sich nicht das halbe Starterfeld von Haus aus im eigenen Verteidigungsdrittel ein.

Auch das trägt zum balancierten Gesamteindruck, siehe Punkt 1, bei.

Diese stets vorhandene Absicherung verhindert auch, dass man bei Ballverlusten in gefährliche Konter läuft. So sind bei dieser WM lediglich elf Tore aus Kontern entstanden, alleine Deutschland hat drei davon kassiert und Belgien zwei davon erzielt. Auch hier ist das Real von Zidane durchaus eine Blaupause: Die Achter Modrić und Kroos decken defensiv gut die Halbfelder ab un sichern, wenn die Außenverteidiger Carvajal  und Marcelo nach vorne marschieren. Das hat in der Liga zuletzt nicht mehr so gut funktioniert wie gewünscht, aber international hat man so seit drei Jahren nicht mehr ausgeschieden.

3. – Außenverteidiger: Wenig aufregend

Es war lange eine Faustregel: Das Team mit dem besten Außenverteidiger-Paar wird Weltmeister. Thuram und Lizarazu 1998, Cafu und Roberto Carlos 2002, Zambrotta und Grosso 2006, Ramos und Capdevila 2010 – sie alle waren nicht nur defensiv eine Bank, sondern lieferten auch Impulse nach vorne. Deutschland hat 2014 ein wenig damit gebrochen: Da stellte Löw in Ermangelung eines tauglichen Linksverteidigers den Innenabwehr-Mann Höwedes auf die Seite.

2018 hat sich die Rolle des Außenverteidigers merklich in Richtung Defensive verschoben. Die beiden auffälligsten Rechts-Läufer des Turniers – Kieran Tripper und Thomas Meunier – spielten als Wings-Backs neben einer Dreierkette. Benjamin Pavard ist eigentlich Innenverteidiger, er gab gute Balance und sicherte stark hinter Mbappé ab, viel mehr aber nicht. Šime Vrsaljko spielte eine solide WM, ein Wiedergänger von Darijo Srna ist er im offensiven Sinn aber nicht.

Auf links sieht es kaum aufregender aus. Marcelo, derzeit der beste LV der Welt, war von seinem Hexenschuss gehandicapt. Laxalt war okay, Lucas Hernadez auch. Strinić war da und sicherte ab, Eindruck hinterließ er nicht. Mehr als Durchschnitt war Ashley Young auch nicht. Jordi Alba ist zu früh ausgeschieden.

Auch hier gilt: Absicherung schaffen, Balance geben. Die Zeit der Ein-Mann-Büffelherden des Typus Roberto Carlos ist (vorläufig) eher vorbei.

4. – Der vermeintliche Standard-Boom

So viele Tore aus Standards! Mehr als die Hälfte der Treffer aus ruhenden Bällen! Das Ausspielen gegnerischer Defensivreihen ist tot! In der Vorrunde wurde schon eine Ära ausgerufen, in der Bälle – wie beim Feldhockey – fast nur noch aus Standardsituationen fallen. In der K.o.-Phase war davon schon kaum noch etwas zu hören.

Warum? Weil der Wert bis zum Ende auf 31 Prozent gesunken ist, sich also wieder dem Normalwert angenähert hat. In den Turnieren von 1994 bis 2014 lag der Anteil an Toren aus Standardsituationen bei 26 Prozent.

Auffällig war es aber natürlich sehr wohl, dass bei so manchem der ruhende Ball einen signifikanten Teil der Offensiv-Strategie ausmachte. Das ist nach der generell unsäglichen EM vor zwei Jahren und der ständigen Präsenz einer tauglichen gegnerischen Defensiv-Staffelung auch nicht ganz unlogisch. So wie bei den Engländern, die sich mit Eckbällen, Freistößen und Elfmetern bis ins Halbfinale durchgekämpft haben. Aus dem Spiel heraus war der offensive Output recht gering.

Der Variantenreichtum und die clever ausgeführten Laufwege, welche vor allem England bei Standards gezeigt haben, können durchaus auch für den Klub-Betrieb inspirierend sein. Wie sagte schließlich schon Gianni Vio, Italiens Standard-Trainer-Gott: Der Ruhende Ball ist ein Torjäger, der zuverlässig für 20 Tore pro Saison gut ist. Das gilt heute noch mehr als früher.

5. – Das Ende des Ballbesitz-Fußballs? Ähm, nein.

Spanien (69 Prozent Ballbesitz): Null Torgefahr, raus im Achtelfinale. Deutschland (67 Prozent Ballbesitz): Keine defensive Absicherung, raus in der Vorrunde! Mit dem frühen Scheitern der beiden dezidierten Ballbesitz-Teams wurde – oftmals mit unverhohlener Häme und triumphierender Freude – schon das Ende des Ballbesitz-Fußballs proklamiert.

Aber: Immer mit der Ruhe. Der Ballbesitz-Fußball geht so schnell nirgendwo hin.

Denn, erstens: Spanien und Deutschland (und auch Argentinien, 64 Prozent) sind nicht am Grundprinzip des Ballbesitz-Fußballs gescheitert. Die Spanier bekamen zwei Tage vor dem ersten Spiel einen Trainer, der kein Detailwissen über die taktischen Abläufe hatte, mit der Julen Lopetegui eine geradezu aufregende Vertikalität ins spanische Ballgeschiebe gebracht hatte.

Die Deutschen waren geistig nicht bereit, anzuerkennen, dass es eben nicht von selbst geht, nur weil man eben Deutschland ist. Die DFB-Delegation ließ Unruhe im Umfeld zu, es gab kein Gegenpressing mehr bei Ballbesitz und man war für Konter offen, und man hat die zuhauf vorhandenen Torchancen auch einfach nicht genützt.

Und, zweitens: Mit dem FC Barcelona (60 Prozent), Manchester City (66 Prozent) und Bayern München (62 Prozent) haben drei dezidierte Ballbesitz-Teams die großen Ligen in Europa mit Leichtigkeit dominiert und jeweils völlig ungefährdete Meistertitel eingefahren.

Mit Atlético Madrid (49), Valencia (48) und Schalke (48) weisen nur drei der 19 Teams, welche sich in den Top-5-Ligen für die Champions League qualifiziert haben, eine negative Ballbesitz-Bilanz auf. Sogar das Liverpool unter Jürgen Klopp, quasi dem Erfinder des Pressing- und Umschaltspiels, kam in der Premier League auf 58 Prozent Ballbesitz.

Spanien hat sich mit Luis Enrique einen Trainer geholt, der bei Barcelona auf dieses Spiel setzte und es zuvor bei der Roma schon installieren wollte. Spanien denkt also überhaupt nicht daran, den Ballbesitz zu reduzieren. Wozu auch? Er dominiert den Weltfußball immer noch auf relativ breiter Basis.

6. – An der System-Front: Comeback des 4-4-2

Diejeningen aber, die mit dem Ball schnelle Gegenstöße vollziehen wollen, haben ein altes System für sich entdeckt, das vermeintlich schon am aussterben war. Das 4-4-2.

Nach dem Ende des Liberos (letzte Ausläufer 2002 mit Kroatien und Slowenien sowie 2004 mit Griechenland) war kurzzeitig das 4-4-2 das praktisch allgemeingültige System. Bei der EM 2004 sind 60 Prozent (!) der Teams mit einer Viererkette hinten und zwei Stürmern vorne angetreten. Dann, mit dem Siegeszug des 4-2-3-1-Systems mit der Blütezeit in den frühen Zehner-Jahren, ist das 4-4-2 zum Minderheiten-Programm geworden – vor vier Jahren in Brasilien spielten nur noch 12 Prozent der Teilnehmer mit einem 4-4-2.

Nun ist das gute, alte 4-4-2 wieder zurück. Von den 12 Prozent in Brasilien hat sich der Anteil bei diesem Turnier auf 34 Prozent fast verdreifacht. Anders als in der letzten Hochphase vor anderthalb Jahrzehnten ist es aber nun ein dezidiert reaktives System geworden. Von den elf 4-4-2-Teams bei dieser WM in Russland haben nur drei mehr als 50 Prozent Ballbesitz gehabt – Portugal (54), Peru (52) und Australien (51).

Blau: 4-3-3 bzw. 4-1-4-1      /     Rot: 4-2-3-1     /     Grün: 4-4-2     /     Lila: Dreierkette

Mit den zwei Viererketten ist die besten Balance gegeben aus defensivem Block und dennoch Zugriff und horzitonaler Abdeckung im Mittelfeld. Das ist mit einem Dreier- bzw. Fünferketten-System auch möglich, ist aber komplizierter.

Varianten mit Dreier- bzw. Fünfterkette, die eine Zeitlang wie der neueste heiße Scheiß ausgesehen haben, der wieder voll am Kommen ist, sind hingegen Varianten geblieben. Nur vier Teams (Belgien, England, Nigeria und Costa Rica) haben ganz oder überwiegend so gespielt. In Südafrika 2010 waren es vier (kein einziger Europäer), in Brasilien 2014 waren es fünf bzw. sechs (Holland, zeitweise Italien). Das bleibt also relativ konstant.

7. – Der Video Assistant Referee

Der erste Test bei einem internationalen Turnier war ein Debakel. Beim Confederations Cup vor einem Jahr sorgte der Video-Hilfssschiedsrichter für mehr Chaos und Verwirrung, als dass er beim Bereinigen strittiger Situationen geholfen hätte. Ähnlich war die Erfahrung in der deutschen Bundesliga, wo die Zahlen zwar gut sind, die Wahrnehmung aber nicht.

Darum war die Vorgabe für die WM auch ganz klar: Nur bei eindeutigen Elfmeter-Situationen, potenziellen Platzverweisen und Abseitsstellungen bei Toren – also unmissverständlich spielentscheidenden Situationen – wird der Referee an den Monitor gebeten. Natürlich wurde sich im „VAR Room“ in Moskau jede Szene genau angesehen, jedes Tor gecheckt, jeder Elfmeter kontrolliert. Dann stand der Referee eben zehn Sekunden da und griff sich ans Headset.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Fouls, die zu Elfmetern führten und kontrolliert wurden, waren unstrittig. Nur ein möglicher Platzverweis nach Videobeweis wurde nicht ausgesprochen (Ronaldo gegen den Iran). Die Handhabung der Handspiele sorgte zwar für Frust, der mal mehr verständlich war (wie bei Saudi-Arabien gegen Ägypten oder Dänemark-Australien) und mal weniger (wie im Finale).

Aber: Alle diese Entscheidungen folgten der Direktive, die vor dem Turnier auch allen Teams mitgeteilt wurde (was Nigerias Teamchef Gernot Rohr bestätigte): Ausgestreckte Hand –> Elfmeter. Das ist zwar nicht immer fair, aber zumindest eine Linie.

Die Leistungen der Schiedsrichter waren im ganzen sehr solide, es gab fast keine Ausrutscher nach unten. Dramatische, spielentscheidende Fehler wurden mit wenigen Ausnahmen vom VAR ausgebügelt. So darf es gerne bleiben.

8. – Europäische Dominanz

Knapp zwei Punkte pro Spiel in der Vorrunde: Europa zeigte dem Rest der Welt, wo der Hammer hängt. Von den 14 Vertretern blieb nur einer sieglos (Island). Seit 1986 der Modus mit Vorrunde und Achtelfinale eingeführt wurde, waren Europas Teams nur einmal noch eifrigere Punktesammler (2006 nämlich).

Südamerika ist zwar in puncto Vorrunden-Punkteschnitt erstmals seit 1994 hinter Europa zurückgefallen (1,97 zu 1,94 Punkte), thront aber immer noch überlegen vor allen anderen (Asien 1,00 Punkte; Nord- und Mittelamerika 0,77 Punkte; Afrika 0,73 Punkte). Wie immer. Dass Europa und Lateinamerika die stärksten Fußball-Länder haben, weiß man ja. Was aber auffällt ist, dass sich vor allem bei den nicht-europäischen Ländern feststellen lässt, dass Europa dominiert.

Wie das gemeint ist? Nun: Bei den nicht-europäischen Teams, welche die Vorrunde überstanden haben, sind im Schnitt acht der elf Spieler auf dem Feld in einer der fünf europäischen Top-Ligen engagiert. Bei jenen, die ausgeschieden sind, waren es im Schnitt nur drei.

Kein außer-europäisches Team mit weniger als sechs Stammspielern aus einer europäischen Top-Liga hat die Vorrunde überstanden. Und nur ein einziges Land mit mehr als sechs solchen Kickern hat den Sprung ins Achtelfinale verpasst (der Senegal nämlich, und das auch nur hauch-hauchdünn).

Wie sehr der europäische Klub-Fußball mittlerweile selbst dem südamerikanischen enteilt ist, sieht man jedes Jahr bei der Klub-WM. Der Copa-Libertadores-Sieger kann den Champions-League-Sieger kaum ernsthafter fordern als ein beliebiger Mittelständler in der spanischen Liga.

So geht es weiter

In Europa startet im September die neue Nations League, ab März 2019 wird dann um die Plätze für die pan-europäische EM 2020 gekämpft. In den anderen Kontinenten geht es schon 2019 wieder um Titel: Im Jänner beim Asiencup in den Emiraten, im Sommer beim Afrikacup im Kamerun sowie der Copa América in Brasilien und beim Gold-Cup in den USA.

Die nächste Weltmeiserschaft ist in viereinhalb Jahren, enden wird sie am 18. Dezember 2022. Eine Fußball-WM zur Glühwein-Zeit ist für uns mal was Neues. Und auch die Brasilianer, Südafrikaner und Australier werden sich denken: Hui, eine WM im Hochsommer, das ist ja strange. Geplant ist, dass es die letzte WM mit dem weithin als perfekten Modus angesehen 32 Team ist. Angedacht sind in Katar acht Stadien, sieben davon in der Hauptstadt Doha bzw. dessen Vororten. Aber man weiß ja nie, was der FIFA und seinem irrlichternden Präsidenten in nächster Zeit noch so alles einfällt.

Einzel-Bilanzen aller 32 Teams

Europas Große: Dominanz trotz zwei Total-Ausfällen

Europas zweite Reihe: Fundament der Top-Bilanz

Südamerika: Zu wenig echte Weltklasse

Nord- & Mittelamerika: Alles wie immer, nur ohne die Amis

Asien: Wohl mehr Schein als Sein

Afrika: Kein Rückschritt trotz Debakels

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