Klassiker – Ballverliebt https://ballverliebt.eu Fußball. Fußball. Fußball. Sun, 11 Jul 2021 10:02:22 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.7.2 Die EM-Turniere und ihre Halbfinals: Klassiker und vergessene Matches https://ballverliebt.eu/2021/07/08/die-em-turniere-und-ihre-halbfinals-klassiker-und-vergessene-matches/ https://ballverliebt.eu/2021/07/08/die-em-turniere-und-ihre-halbfinals-klassiker-und-vergessene-matches/#respond Thu, 08 Jul 2021 09:44:54 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=17652 Die EM-Turniere und ihre Halbfinals: Klassiker und vergessene Matches weiterlesen ]]> England und Italien haben sich in ihren Halbfinalspielen durchgesetzt und treffen am Sonntag aufeinander, um sich den Titel untereinander auszumachen. Für Italien wäre es der erste EM-Triumph seit 1968, für England ist es überhaupt das erste große Finale seit 1966.

Es waren zwei Matches, die in Erinnerung bleiben werden, vor allem jenes zwischen England und Dänemark. Damit reihen sie sich in eine Ahnengalerie aus diversen EM-Halbfinals ein, an die man sich heute noch erinnert, die echten Klassiker-Status haben – und in der es auch einige Matches gibt, an die man sich eher nicht mehr so gut erinnern kann. Hier eine Übersicht.

Euro 2020 in ganz Europa

Nach 48 Spielen in elf europäischen Städten von Sevilla bis Baku blieben in der coronabedingt um ein Jahr verschobenen EM vier Teams übrig, die in London die Finalteilnehmer ausmachten. Für England – die bis dahin praktischerweise nur ein einziges Mal London verlassen hatten müssen – endete mit dem 2:1-Sieg nach Verlängerung über Dänemark eine 55-jährige Leidenszeit ohne Finale; es brauchte aber bei aller Überlegenheit einen kontrovers diskutierten Elfmeter; Kasper Schmeichel hatte die körperlich leeren Dänen mit einer Weltklasse-Leistung im Spiel gehalten. Schon zuvor hatte sich Italien 120 Minuten lang recht erfolgreich seiner Haut gegen Spanien erwehrt, um im Elfmeterschießen die besseren Nerven zu haben. Die Azzurri hatten zuvor im Turnier mit aktivem Vorwärtsfußball geglänzt.

Es ist das erste Mal, dass sich Italien und England in einem großen Finale treffen.

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Euro 2016 in Frankreich

Durch einige ungewöhnliche Ergebnisse in der Gruppenphase gab es 2016 zwei sehr unterschiedlich starke Turnier-Äste. Im einen war u.a. Deutschland, Frankreich, Italien, England und Spanien – und im anderen Kroatien, Polen, Belgien, Portugal und Wales. Portugal und Sensations-Team Wales machten sich dort einen Finalteilnehmer aus, Portugal gewann 2:0, Wales konnte ohne den gesperrtey Ramsey nicht viel entgegensetzen. Tags darauf bestimmte Deutschland gegen Frankreich zwar das Spiel, aber ein unglücklicher Handelfmeter kurz vor der Pause brachte den 2:0-Sieg der Gastgeber auf Schiene.

Im Endspiel gewann Portugal 1:0 nach Verlängerung.

Euro 2012 in Polen und der Ukraine

Wie ist die unerbittliche Pass- und Ballbesitzmaschine von Spanien zu stoppen? Das war 2012 die große Frage. Die meisten Teams ließen die Spanier über sich ergehen und erlitten Schiffbruch. Portugal versuchte es im Halbfinale damit, Spanien früh zu stören und hatte damit guten Erfolg. Nach 120 torlosen, aber recht unterhaltsamen Minuten ging es ins Elferschießen, dort vergaben Moutinho und Bruno Alves. Spaniens logischer Finalgegner schien immer Deutschland, aber im Semifinale gegen Italien änderte Löw seine Formation (Kroos als Manndecker für Pirlo, Özil auf die Außenbahn, Müller auf die Bank) und erlitt Schiffbruch. Ein Balotelli-Doppelpack brachte Italien 2:0 in Front, Özil gelang in der Nachspielzeit nur noch der Anschlusstreffer per Elfmeter

Spanien gewann das Endspiel 4:0.

Euro 2008 in Österreich und der Schweiz

Drei der vier Gruppensieger haben sich 2008 im Viertelfinale verabschiedet, dafür sind zwei Außenseiter in die Vorschlussrunde gekommen: Die extrem flexiblen Türken und der russische Wirbelwind von Guus Hiddink. Der Türkei fehlten vier verletzte und drei gesperrte Spieler, das Match gegen Deutschland plätscherte einem deutschen 1:0-Sieg entgegen, ehe in der Schlussviertelstunde erst der Himmel und dann die Abwehrreihen die Schleusen öffneten und die DFB-Elf ein 3:2 rettete. Danach bekam es Spanien mit Russland zu tun, und obwohl die folgende Ballbesitz-Dominanz 2008 nur in kleinen Spurenelementen zu erkennen war, hatten die Russen keine Chance – 3:0 für Spanien.

Im Finale von Wien gewann Spanien 1:0.

Euro 2004 in Portugal

Es ist eine Tragik der Fußballgeschichte, dass Pavel Nedved früh im Halbfinale 2004 gegen Griechenland verletzt vom Platz musste. Ohne ihn war das mit großem Abstand beste und aufregendste Team der 2004 nicht in der Lage, den griechischen Beton zu knacken, in der Verlängerung kassierten die Tschechen das entscheidende 0:1. Schon am Tag zuvor war Gastgeber Portugal mit einem 19-jährigen Cristiano Ronaldo und einem 31-jährigen Luis Figo gegen ein holländisches Team siegreich gewesen, das wohl etwas weiter gekommen war, als ihm in der Verfassung von 2004 zugestanden wäre.

Griechenland wurde mit einem 1:0 im Finale sensationell Europameister.

Euro 2000 in Belgien und den Niederlanden

Zwei Allzeit-Größen von Halbfinale innerhalb von zwei Tagen: Erst zwangen die wunderbaren Portugiesen den überragenden Weltmeister Frankreich an den Rand des Elferschießens, ehe der österreichische Referee Günter Benkö in der 115. Minute nach Abel Xaviers klarem Handspiel auf den Punkt zeigte und Zidane verwandelte. Dann legten zehn Italiener – Zambrotta hatte früh die gelb-rote Karte kassiert – gegen stürmende Holländer in einem orangen Stadion eine klassisch-italienische Defensiv-Performance hin. Oranje verballerte zwei Strafstöße im Match und hatte dann auch im Elferschießen das Nachsehen.

Frankreich gewann das Endspiel 2:1 nach Verlängerung.

Euro 96 in England

Das Match zwischen Deutschland und England im Wembley ist legendär – weil Southgates Fehlschuss im Elferschießen auch 25 Jahre später noch ein Thema ist; weil es das zweite Mal innerhalb weniger Jahre war, dass die Deutschen die Engländer im Shoot-Out eines Halbfinales bezwangen; auch wegen der Gravitas des Austragungsortes. An das andere Halbfinale 1996 kann sich kaum noch jemand erinnern – was auch daran liegen dürfte, dass 120 Minuten lang nichts passiert ist. Zwei Teams in personellen Troubles (den Tschechen fehlten die gesperrten Kuka, Bejbl, Látal und Suchopárek, den Franzosen der angeschlagene Deschamps und der gesperrte Karembeu) versuchten, keinen entscheidenden Fehler zu machen. Im Elferschießen vergab Frankreichs Raynald Pedros als Einziger.

Deutschland gewann das Finale 2:1 nach Verlängerung.

Euro 92 in Schweden

Das EM-Halbfinale 1988 war an Holland gegangen, die WM-Quali-Spiele 1989 endeten 1:1 und 0:0, das WM-Achtelfinale 1990 ging an Deutschland, die EM-Vorrubden-Partie 1992 ging 3:1 an Holland – Europa war bereit für die Neuauflage des hoch-emotionalen Nachbarschafts-Duells im EM-Finale von 1992. Deutschland erfüllte zunächst die Pflicht gegen den Gastgeber in einem der wenigen wirklich unterhaltsamen Spiele einer überwiegend faden EM, gewann 3:2 gegen Schweden. Einen Tag später aber hatten die unbekümmerten Dänen – für die wegen des Bürgerkriegs ausgeschlossenen Jugoslawen nachgerückt und in der Gruppenphase Mitfavorit Frankreich eliminiert – die Holländer an der Leine. Oranje rettete sich mit Müh und Not ins Elfmeterschießen, dort setzte sich Dänemark dank Van Bastens Fehlschuss durch.

Dänemark gewann das Endspiel 2:0.

Euro 88 in der BR Deutschland

Als große Revanche für das WM-Finale 1974 wurde das Halbfinale zwischen Gastgeber BRD und Holland tituliert, und die Revanche gelang. Zwar gingen die Deutschen durch einen Matthäus-Elfer in Front, aber Ronald Koeman glich nach einem eher soften Strafstoß-Pfiff aus, ehe Marco van Basten kurz vor Schluss Manndecker Kohler versetzte und zum 2:1 traf. Das andere Semifinale war dafür eine klare Angelegenheit, die Sowjetunion (mit sieben Ukrainern, zwei Russen und zwei Weißrussen) überfuhr Italien mit Lobanovskis Pressingspiel. Bitter war nur die gelbe Karte von Libero Oleg Kusnetsov, die das Hirn des Teams für das Finale sperrte.

So gewann Holland das Endspiel mit 2:0.

Euro 84 in Frankreich

Die EM 1984 war das Turnier von Michel Platini. Dabei war er im Halbfinale gegen Portugal – bei der ersten Turnierteilnahme nach 18 Jahren hatten die Portugiesen Deutschland eliminiert – kaum zu sehen. Ein Domergue-Freistoß brachte die Franzosen in Führung, aber Portugal glich erst aus und ging in der Verlängerung sogar in Führung. Bis zur 115. Minute sah Portugal wie der Finalist aus, ehe wiederum Domergue aus einem Gestocher traf und Platini kurz darauf das 3:2 erzielte. Auch im zweiten Halbfinale gab es ein Überraschungs-Team: Dänemark. Aus Quali-Topf 4 gekommen schalteten sie dort England aus, in der Gruppe auch die starken Belgier. Auch im Halbfinale gegen Spanien ging man durch einen Abstauber von Søren Lerby früh in Führung, aber die Spanier warfen immer mehr alles nach vorne. Die Dänen zitterten sich ins Elfmeterschießen, wo Preben Elkjaer – schon mit einem Millionenvertrag in der Serie A in der Tasche – verschoss.

Frankreich gewann das an einem Mittwoch gespielte Finale dank eines Arconada-Patzers mit 2:0.

Bei der EM 1980 – dem ersten als echte Endrunde ausgetragenen Turnier – gab es kein Halbfinale. Die beiden Gruppensieger (Deutschland und Belgien) spielten im Finale.

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Ballverliebt Classics: Teamchef Riedl – Fatales und Fatalismus https://ballverliebt.eu/2015/10/30/ballverliebt-classics-teamchef-riedl-fatales-und-fatalismus/ https://ballverliebt.eu/2015/10/30/ballverliebt-classics-teamchef-riedl-fatales-und-fatalismus/#comments Fri, 30 Oct 2015 09:47:38 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=11819 Ballverliebt Classics: Teamchef Riedl – Fatales und Fatalismus weiterlesen ]]> Wer alt genug ist, diese Zeit bewusst zu erlebt zu haben, hat sie verdrängt. Nicht das 0:1 in Landskrona gegen die Färöer, das kann man nicht verdrängen. Höchstens versuchen, aber es wird einem nicht gelingen. Sehr wohl aber verdrängen kann man, was danach kam. Es kam Alfred Riedl, zumindest für 13 Monate. Es war ein Jahr, in dem sich Fatalismus mit spieltaktischer Feigheit und wechselhafter Konsequenz abwechselte. Zum 25-jährigen „Jubiläum“: Das war die kurze Ära Riedl.

Als Spieler war Alfred Riedl durchaus eine Hausnummer. Zweimal Meister und einmal Torschützenkönig mit der Austria, danach war der Linksfuß zehn Jahre Legionär in Belgien (120 Tore in acht Jahren, zweimal Schützenkönig, sehr beeindruckend), ehe er seine letzten aktiven Jahre beim GAK und beim Sportclub verbrachte. Dass es nur zu vier Länderspielen reichte, lag vor allem an der Konkurrenz im ÖFB-Angriff: An Ausnahmestürmern wie Kreuz, Krankl und Schachner kam er nicht vorbei.

Nach der WM 1990 in Italien, in der ein blutjunges ÖFB-Team (24,8 Jahre, nur Keeper Lindenberger war älter als 27) Lehrgeld bezahlt hat, wurde Riedl – der zuvor Bundesliga-Abstiegskandidat Sportclub betreut hatte – zu Hickersberger Assistent berufen. Das hieß: Co-Trainer in der „A“ und Teamchef der U-21 in Personalunion. Heute auch undenkbar. Jedenfalls verkroch sich Hickersberger nach Landskrona zum Schämen in ein Loch, drei Tage später hatte ÖFB-Präsident Mauhart den Assistenten zum Chef gemacht. Im Alleingang.

Vorschusslorbeer sieht anders aus

Das brachte die Landespräsidenten gar fürchterlich auf die Palme, weil sie niemand nach ihrer werten Meinung gefragt hatte; außer Dampf ablassen konnten sie aber nichts mehr tun. Riedl verdiente irgendwas zwischen 70.000 und 90.000 Schilling (also 5.000 bis 6.000 Euro) im Monat und erhielt einen unbefristeten Vertrag. Heißt: Jederzeit kündbar, ohne dass für den ÖFB Mehrkosten entstehen.

Wunderschön, wer sich erinnern kann, war dazu passend auch der „Club 2“ im ORF, wo Riedl weitestgehend stumm aus seinem oberlippenbebarteten Gesicht starrte, während sich Beppo Mauhart und Rapid-Trainer Hans Krankl (der nach einem 2:1 im Uefa-Cup gegen Inter Mailand gerade Oberwasser hatte) verbale Ohrfeigen verpassten. „Ich bin nicht gegen den Riedl-Fredl, i hab ja gemeinsam mit ihm im Team gespielt. Aber i bin gegen die Entscheidung, ihn zum Teamchef zu machen“, aus dem Mund von Krankl, erinnert an eine ganz ähnliche Diskussion in einer ganz ähnlichen Situation 21 Jahre später.

Eh scho wurscht

Riedl selbst fügte sich gleich mal mit einigen Bonmots ein, die kommende sportliche Katastrophen schon im Vorhinein erklären sollten. „Die U-21-Meisterschaft ist sinnlos, weil die meisten Teams zu schwach dafür sind“, stellte er zum Beispiel gleich klar, dass der Nachwuchs mittelfristig auch keine Besserung verspräche.

„Polster, Ogris und Rodax sind in Spanien im Formtief“, beklagte er überdies. Polster ging in seine dritte Saison bei Sevilla, Ogris war im Sommer zu Espanyol gewechselt und Rodax zu Atlético Madrid. In den ersten zwei Spielen traf Rodax jeweils, in den kommenden acht Einsätzen aber nur noch einmal. Sein Stammplatz wackelte.

„Würde ich nach Jugoslawien fahren und sagen, dass wir ohnehin verlieren, hätte ich als Teamchef nichts verloren“, meinte Riedl zwar bei seinem Amtsantritt, aber so richtig glaubhaft wirkte sein zuweilen krampfhafter Optimismus vor seinem ersten Spiel, auswärts bei WM-Viertelfinalist Jugoslawien, nicht.

„Kein langes Gefackel im Mittelfeld. Dieser Raum soll einfach überschossen werden.“

Bei der Kaderbekanntgabe ging Riedl dann daran, den Anwesenden schon jenen Fatalismus näher zu bringen, einstweilen noch in homöopathischen Dosen, der vor allem für die ersten paar Monate stilprägend werden sollte. „Wir brauchen uns gar nicht auf die Jugoslawen konzentrieren“, meinte der 41-Jährige da.  Das Spiel selbst zu gestalten kam schon gleich überhaupt nicht in Frage: „Kein langes Gefackel im Mittelfeld. Dieser Raum soll im Konter einfach überschossen werden.“

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Jugoslawien – Österreich 4:1 (2:1)

Als Riedl merkte, was für eine primitive Holzhackerei er da ankündigte, ruderte er doch ein wenig zurück. „Aber gezielt natürlich, nicht mit dem Dreschflegel!“

Im Endeffekt packte in Belgrad nur ein Team den Dreschflegel aus, und zwar die Gastgeber – für etwa eine halbe Stunde. Das reichte locker. Nach Ogris‘ Führungstor drehte das Team von Ivica Osim auf, schoss  mal schnell drei Tore und verlegte sich danach auf’s Zaubern. Österreich hatte dem nichts entgegen zu setzen: Pecl wurde von Darko Pancev lächerlich gemacht, Artner rannte Vujovic nur hinterher, Herzog war unsichtbar, Reisinger hatte eine erstaunliche Fehlpassquote, Polster präsentierte sich als Immobilie. Nur Ogris stemmte sich mit allem, was er hatte, dagegen, aber kurz nach der Pause musste er verletzt raus.

Für Austria-Libero Aigner (der bei der WM den ausgebooteten Heribert Weber vertreten hatte) war es an seinem 24. Geburtstag das letzte Länderspiel. Osim konstatierte, dass man ganz ohne Routiniers nichts erreichen könne – sieben Österreicher waren jünger als 25 Jahre, Keeper Konsel mit 28 der älteste. Es fehle eine Führungsfigur, wie das in der WM-Qualifikation noch Herbert Prohaska war. Der 22-jährige Herzog war das noch nicht.

„Ihm fehlt’s an Durchsetzungsvermögen. Aber welcher Österreicher setzt sich derzeit schon durch?“

Zwei Wochen nach der ernüchternden Chancenlosigkeit von Belgrad wartete das Heimspiel gegen Nordirland. Die mutlosen Auftritte bei der WM hatten die Stimmung, die davor noch kurz vorm gefühlten WM-Titel war, schon kippen lassen, nach Landskrona wurde das Nationalteam mit komplettem Liebesentzug bestraft. Gegen Nordirland verteilte der ÖFB 2.000 Freikarten, um einen den Super-GAU (= Besucher-Negativrekord) zu verhindern.

Es klappte – exakt 7.032 Zuseher kamen ins Praterstadion. Boah.

Und auch Riedl machte nicht gerade Werbung für das Spiel. „Wenn man danach geht, wer in Form ist, haben wir derzeit große Probleme“, stellte der Teamchef nüchtern fest. Aigner fiel dem Rotstift zum Opfer, Tirol-Libero Baur (21) erschien Riedl noch zu jung. Befragt zu Daniel Madlener von Vorwärts Steyr, den er berufen hatte, sagte der Teamchef: „Er sucht den Weg zum Tor, aber es fehlt an Durchsetzungsvermögen. Nur… Welcher Österreicher setzt sich derzeit schon durch?“

„Die Spieler sind schlecht trainiert.“

Ziemlich unrund reagiert man auf Seiten des ÖFB auch auf einen Sketch der „Hektiker“ um Mini Bydlinski, die sich im ORF über das Team im Allgemeinen und über Toni Polster im Speziellen lustig gemacht hatten. Dafür bekamen die Klubtrainer – vor allem Hans Krankl von Rapid und Herbert Prohaska von der Austria, aber auch Ernst Happel von Tirol wurde nicht ausgenommen – von Riedl, Co-Trainer Koncilia und Vorgänger Hickersberger ausgerichtet, die Spieler kämen schlecht trainiert zum Team und spielten deswegen so unter aller Sau. Man kennt und mag sich ja, da kann sowas schon auch mal in der Öffentlichkeit breitgetreten werden.

Österreich - Nordirland 0:0
Österreich – Nordirland 0:0

Frostig ums Herz wurde es einem dann auch beim Spiel selbst, gegen ein biederes und robustes nordirisches Team. Riedl setzte auf Vorsicht: Zwei Manndecker und ein Libero gegen einen Solo-Stürmer, zwei defensive Abräumer gegen einen Zehner (über den die Bälle ohnehin meterhoch hinweg segelten), zwei eher Defensive auf den Außenbahnen.

„Wir haben uns aufgebäumt und immerhin kein Gegentor kassiert“, versuchte Riedl nach dem gespenstisch schlechten Spiel vor einer Geisterkulisse, das 0:0 zum Erfolg hochzujazzen. Warum Debütant Andreas Poiger, der mangels Gegenspieler völlig sinnlos wie bestellt und nicht abgeholt im leeren Raum herumhing, nicht zugunsten eines Kreativspielers ausgewechselt wurde? „Aus Sicherheitsgründen“, so Riedl. Seinen Freiraum jedenfalls konnte der nervöse Poiger nicht nützen. Der 22-jährige Rapidler war halt doch Manndecker und kein Spieleröffner.

Jedenfalls gab’s nach zwei Niederlagen nun zumindest mal einen Punkt, womit man die Inselkicker von den Schafsfelsen schon beinahe wieder eingeholt hatte. Das ist ja nicht nichts.

„Wenn die Spieler übers halbe Feld gaberln sollen, fällt ihnen der Ball sechsmal hinunter.“

In der Folge rechtfertigte sich Riedl für seine extra-vorsichtige Herangehensweise mit dem schon angesprochenen Fatalismus. Motto: Wen hätte ich denn bringen sollen? „Sehen Sie in der Meisterschaft einen Unterschied zwischen den Teamkandidaten und den anderen? Ich nicht“, beklagte er sich gegenüber Journalisten. Resignierender Nachsatz: „Wenn die Spieler übers halbe Feld gabeln sollen, fällt ihnen der Ball sechsmal hinunter!“

Wie soll sich der Nachwuchs aber auch entwickeln, wenn er so vernachlässigt wird. Bei einem internationalen U-15-Länderturnier in der Steiermark etwa verweigerte der Platzwart des steirischen Bierliga-Klubs St. Ruprecht das Bespielen des Hauptplatzes – der lokale Siebtligist hatte ja wenige Tage das nächste Spiel, wo kämen wir denn da hin. Die Kids mussten auf einem gatschigen Nebenplatz spielen.

„Konditionell hinken wir international hinten nach.“

Im Februar lud Riedl zu sportmedizinischen Tests, um zu sehen, ob die Herren Teamkicker in der Winterpause nur Leberkässemmeln gegessen oder doch etwas für ihre Fitness getan hatten. Ob Wolfgang Feiersinger ein schlechtes Gewissen hatte, ist nicht überliefert, jedenfalls schwänzte er – was bei Riedl naturgemäß große Begeisterung auslöste.

Tatsächlich erstaunlich war allerdings, dass eigentlich nur die unter Ernst Happel beim FC Tirol trainierenden Spieler gute Werte hatten, die dafür durch die Bank. Baur, Russ, Hörtnagl, Linzmaier, Pacult, Peischl, Streiter und Westerthaler waren jedenfalls im nächsten Kader für den Test gegen Norwegen auch dabei, ebenso wie Klubkollege Hartmann. „Konditionell hinken wir international hinten nach“, konstatierte Riedl dennoch betrübt.

Anders gesagt: Wir können nicht nur nicht kicken, wir können auch keine 90 Minuten rennen.

Um 45 Cent zum Länderspiel

Durch die beeindruckend harmlosen Leistungen köchelte auch eine andere Diskussion permanent: Die nach der vorsichtigen Grundausrichtung im Mittelfeld. Riedl hatte drei potenzielle Spielmacher zur Verfügung. Manfred Linzmaier agierte bei Tirol neben dem ebenso kreativen Néstor Gorosito, Peter Stöger agierte bei der Austria neben dem ebenso kreativen Jevgenijs Milevskis und Andi Herzog bei Rapid neben dem gelernten Stürmer Christian Keglevits, jeweils nur mit einer defensiven Absicherung dahinter (i.d.R. Hörtnagl bei Tirol, Zsak bei der Austria und Schöttel bei Rapid).

Riedl jedoch beharrte darauf: „Linzmaier und Herzog gemeinsam geht nicht, das passt nicht.“ Wie überhaupt er eben auf Sicherheit bedacht war. Das sorgte für Frust bei den ohnehin in Scharen fliehenden Zusehern und für Verstimmung bei den Beteiligten. So kündigte Riedl an, dass im Test gegen Norwegen  Peter Stöger den Zuschlag für die eine offensive Planstelle bekommen sollte. Linzmaier war sauer, weil er es ebenso mit zwei Kreativen probieren wollte. Herzog war sauer, weil er für das Norwegen-Spiel nicht einmal nominiert wurde.

Um zumindest für ein halbwegs volles Stadion zu sorgen, warf der ÖFB gemeinsam mit TOTO Eintrittskarten um 6 Schilling (= einem gespielten TOTO-Schein) auf den Markt, also um 45 Cent.

Da schau her, eine ordentliche Leistung

Österreich - Norwegen 0:0
Österreich – Norwegen 0:0

Die erstaunlichen 36.000 Zuseher im Prater sahen, wie Michael Baur vom FC Tirol am Tag nach seinem 23. Geburtstag sein Startelf-Debüt als Libero gab. Und sie sahen eine kämpferisch engagierte, wenn schon nicht glanzvolle Leistung.

Nach einer torlosen Stunde sprang Riedl dann über seinen Schatten und brachte Linzmaier für Schöttel aufs Feld. Die Folge war, dass Österreich nun auch spielerisch Übergewicht bekam (wiewohl, eh klar, da Norwegen unter Egil Olsen die Anti-These zum Guardiola’schen Ballbesitz-Fetisch darstellte – mehr als drei Stationen zwischen Balleroberung und Torabschluss waren strikt zu vermeiden). Da Österreich es allerdings nicht schaffte, auch das Tor zu erzielen, klangen gegen Ende schon wieder deutlich hörbare Pfiffe von den Rängen in Richtung Rasen.

Kann ja nicht sein, wir sind ja verwöhnt. Wenn die Herren einmal keinen kompletten Bockmist spielen, ist wohl ein Sieg zu verlangen. Vor allem gegen ein Team, das zwei Monate später immerhin Italien besiegen wird. So oder so: Nach dem Norwegen-Spiel erklärt Gerry Willfurth (der den Cut für die WM 1990 nicht geschafft hatte) seinen Rücktritt – mangels Perspektive auf eine WM-Teilnahme 1994. Der Mann hatte eine prophetische Gabe.

„Der Artner kann hinten spielen, in der Mitte, vorn, rechts, links, der Artner kann alles spielen. Er kann auch gar nicht spielen.“

Aus seinen Aufstellungen machte Riedl bis zum Matchtag immer ein Staatsgeheimnis, weil er nicht wollte, dass nicht berücksichtigte Spieler auf ihr Reservisten-Dasein angesprochen und daraus fiese Schlagzeilen gewoben werden könnten. Er gab maximal ein paar Namen als Fixstarter an. Eine wahre Freude von einem Satz war die Antwort auf eine Journalisten-Frage, ob denn beim nächsten Testspiel, auswärts beim kommenden EM-Gastgeber Schweden, Peter Artner von der Admira spielen würde.

Schweden - Österreich 6:0 (4:0)
Schweden – Österreich 6:0 (4:0)

„Der Artner kann hinten spielen, in der Mitte, vorn, rechts, links, der Artner kann alles spielen… Er kann aber auch gar nicht spielen.“ Es hätte auch ziemlich sicher keinen Unterschied gemacht, wenn Artner an diesem verregneten Nachmittag in Stockholm nicht gespielt hätte. Wie überhaupt an diesem 1. Mai, dem Tag der Arbeit, selbige vom ÖFB-Team konsequent verweigert wurde.

Austria-Manndecker Harald Schneider (der diesmal den schwer am Knie verletzten Robert Pecl vertrat) wird sich sicher sehr gefreut haben, dass er in seinem einzigen Länderspiel 0:6 verloren hat, aber es halfen wirklich alle mit, damit es auch wirklich zu einem zünftigen Debakel kam. Toni Pfeffer etwa, der zu Kennet Anderssons Escort-Service wurde und drei Tore zuließ. Michael Baur, der völlig die Übersicht verlor. Alfred Hörtnagl, der, wenn er nicht gerade Fehlpässe spielte, Erlingmark nach Lust und Laune flanken ließ. Das Experiment mit dem invers spielenden Rodax (der Rechtsfuß spielte ausnahmsweise links) ging auch kräftig schief. Leichte Besserung kam erst, als Peter Stöger für die zweite Hälfte für Linzmaier kam – danach kassierte Österreich nur noch zwei Tore. Was wären die großen Erfolge ohne die Kleinen.

„Ich wollte zuspielen, aber keiner hat sich freigestellt.“

Direkt nach dem Spiel verweigerte Riedl einen Rücktritt noch, gab an, sich nicht so einfach aus seiner Verantwortung stehlen zu wollen. Am Tag danach klang das schon ganz anders, als er ÖFB-Präsident Beppo Mauhart den Vorschlag unterbreitete, dass ein anderer Trainer-Besen den Scherbenhaufen zusammen kehren solle. Mauhart machte Riedl aber die Mauer.

Was dem Team eklatant fehlte, war ein Spieler, der sich in kritischen Situationen bewährt hat, ein Spieler, an dem sich die verunsicherte junge Bande aufrichten konnte. „Ich wollte zuspielen, aber keiner hat sich freigestellt“, erklärte Michael Baur seine unzähligen Fehlpässe in der Spieleröffnung. Zsak, Artner und Linzmaier vor ihm haben nicht Verantwortung übernommen, sondern sich so gut es ging Verstecken gespielt, während die Schweden mit beinahe verbundenen Augen gezählt haben: Ein Tor, zwei Tore, drei Tore, vier Tore…

Die dahinter mussten es ausbaden, weil Schweden einen Angriff nach dem anderen lancierte. Die davor mussten es ausbaden, weil sie keine Bälle bekamen und in der Öffentlichkeit als Sündenböcke herhalten mussten. „Im Klub geht es deshalb besser, weil man Bälle von hinten bekommt, in der Nationalmannschaft nicht“, sagte Toni Polster. Von den drei Spanien-Stürmern Polster, Ogris und Rodax wurden Tore am Fließband erwartet.

„Ein Kapitän, der in dieser Weise mit dem Schiff untergegangen ist, hat keinen Platz im Team.“

Riedl erklärte zunächst, dass für das Heimspiel in der EM-Quali gegen Färöer (aufgrund grandioser Planung drei Spieltage vor Bundesliga-Schluss angesetzt) die Versager vom Schweden-0:6 die Chance zur Rehabilitation erhalten würden, wie er selbst sie von Mauhart bekommen hatte. Ehe er, die Konsequenz in Person, die Herren Polster, Rodax, Zsak, Artner und Pfeffer eliminierte. Linzmaier und Schneider fielen verletzt aus, aber letztlich traf auch diese beiden der Bannstrahl.

Weder Linzmaier noch Rodax oder Schneider spielten jemals wieder im ÖFB-Team.

Vor allem auf Polster war Riedl stinkig. „Ein Kapitän, der in dieser Weise mit dem Schiff untergegangen ist, hat keinen Platz im Team.“ Nun ist zwar Polster bekanntermaßen nicht der spielstärkste Stürmer, und auch keiner, der sich großartig ins Aufbauspiel einmischt – aber was hätte er ausrichten können? Zumal er mit Rodax einen schnellen Nebenspieler hatte. So oder so, Polster war für Riedl ab sofort kein Thema mehr.

So wie Linzmaier, bei dem die Sachlage aber noch ein wenig perfider war. Vor allem er hatte sich beklagt, nie einen kreativen Nebenmann zu haben oder nie als zweiter kreativer Mann spielen zu dürfen. Nun war er weg, und zack: Herzog und Stöger waren ab sofort als kreatives Duo gesetzt. Mannschaftsführung der Marke Con… naja, sein Co-Trainer lernte jedenfalls  von Riedl. Sehr viel eleganter führte er in seiner Zeit als Teamchef, knapp 20 Jahre später, das Mannschaftsgefüge bekanntlich auch nicht.

„Mit den Routiniers hat es ja zuletzt auch nicht geklappt.“

Polster ließ das nicht auf sich beruhen und trat zurück (also, im Sinne von verbalem Fußtritt, nicht im Sinne von „Auf Wiedersehen“). „Riedl hat die Nerven weggeschmissen. Es war das Schlechteste, was er in dieser Situation machen konnte“, sprach Toni: „Als Kapitän konnte ich keine Wunder wirken. Wenn deine Mitarbeiter nichts zusammenbringen, bist du als Chef hilflos.“ Womöglich war auch Mini Bydlinski sauer, wen hätte er nun verapfeln sollen. Wobei: Da gab’s schon noch ein paar Kandidaten.

Österreich - Färöer 3:0
Österreich – Färöer 3:0 (1:0)

Wirklich die Muffe ging vor dem Rückspiel gegen die Färöer niemandem, was aber auch daran gelegen haben mag, dass das Team ohnehin schon ziemlich darniedergelegen ist, es quasi auch eine weitere Blamage gegen die Insulaner nicht mehr wirklich schlimmer gemacht hätte.

Riedl gab schon recht zeitig bekannt, dass der gebürtige Salzburger Heimo Pfeifenberger von Beginn an spielen würde – als Manndecker. Die Saison hatte er bei Rapid als Stürmer begonnen, diverse Verletzungen in der Hütteldorfer Defensiv-Abteilung veranlassten Krankl dazu, Pfeifenberger nach hinten zu stellen.

Für Riedl eine Maßnahme ohne Risiko: Das bekannt verwöhnte und bei Länderspielen oft negative Publikum in der Mozartstadt (das Hickersberger ein Jahr vorher angefeindet hatte, weil er den Salzburg-Spieler Heri Weber ausgebootet hatte) war befriedet und gegen die sehr defensiv agierenden Färinger war das auch kein Sicherheitsrisiko. Auch vor dem Einsatz von Schöttel (24), Michael Streiter (25) und Arnold Wetl (21) scheute er sich nicht: „Mit den Routiniers hat’s zuletzt ja auch nicht geklappt.“ Die Frage sei nur erlaubt: Welche Routiniers? Linzmaier war 28, gut, Zsak 27, aber Artner war nur ein paar Monate älter als Streiter. Das ist Artner heute noch. Also, nur ein paar Monate älter als Streiter.

Gerade Pfeifenberger sorgte dann nach einer Viertelstunde für die 1:0-Führung, nach dem Seitenwechsel stellten Rückkehrer Streiter und Debütant Wetl (Riedl: „Der Stürmer der Zukunft!“) den 3:0-Endstand her. Nichts, wofür man sich schämen müsste, aber auch nichts, worauf man aufbauen hätte können. Neben den zwei Punkten (mit denen Österreich in der Tabelle endlich punktgleich mit den Färöern war, juhu!) konnte sich vor allem Franz Wohlfahrt freuen, der ein paar Minuten vor Schluss eingewechselt worden war.

„Um ihm zu zeigen, dass er auch ein ernsthafter Teil des Teams ist“, war Riedls offizielle Begründung. Die Wahrheit war deutlich weniger blumig: Mit diesem achten Länderspiel-Einsatz erfüllte Wohlfahrt die Bedingungen der Transfergesetze der englischen Liga.

„Dem Ernst fehlt der nötige Ernst.“

Andi Ogris, den Riedl in Abwesenheit von Polster zum Kapitän befördert hatte (und Stamm im Team war, obwohl sein letztes von vier Toren für Espanyol ein halbes Jahr her war), rückte mit eingerissenem Meniskus ein, als es zwei Wochen nach dem Färöer-Spiel nach Dänemark ging, auch Arnold Wetl war nicht fit, er zerrte sich in einem Meisterschaftsspiel von Sturm Graz den Oberschenkel.

Dafür kam neben Ralph Hasenhüttl von der Austria auch Andis kleiner Bruder Ernst Ogris erstmals in den Kader, obwohl der kantige Admira-Stürmer auch schon drei Monate keinen Treffer mehr erzielt hatte. Außerdem waren auch Riedl die Konditions- und Effizienz-Nachteile von Ogris junior wohlbekannt. „Dem Ernst fehlt der nötige Ernst.“ Was aber kein Grund war, ihn nicht einzuberufen. Vielleicht holte er ihn auch nur, um diesen mäßig eleganten Wortwitz an den Mann zu bringen.

Dänemark - Österreich 2:1 (1:0)
Dänemark – Österreich 2:1 (1:0)

Zur Erinnerung: Acht Monate vorher hatte Riedl im Heispiel gegen Nordirland die Order ausgegeben, auf Forechecking zu verzichten, weil der Gegner zu gut dafür wäre. Nun, im Auswärtsspiel gegen die um drei Klassen besseren Dänen, lautete die Devise: Druck ausüben, Forechecking, Draufgehen.

Na eh klar lag Dänemark schon voran, da waren keine 100 Sekunden gespielt: Einwurf Larsen, Streiter verliert das Kopfballduell, Pfeifenberger steht nur in der groben Nähe seines Gegenspielers und Bent Christensen schiebt locker ein. Die Naivität und die geistige Langsamkeit, mit der vor allem die österreichische Defensive agierte, konnten selbst die Dänen kaum glauben. Manndecker Kent Nielsen konnte sich nach einem Eckball, umringt von vier gebannt zusehenden ÖFB-Verteidigern, sekundenlang den Ball herrichten und sich die Ecke aussuchen. Nielsen knallte die Kugel an den rechten Pfosten.

Die defensive Feigheit, mit der Riedl sonst spielen ließ, wünschte man sich sehnlich zurück. Zwar versuchte Herzog viel und er war auch Österreichs bester Mann, aber die Dänen schossen Österreich nur deshalb nicht ähnlich ab wie die Schweden sechs Wochen vorher, weil sie recht bald vom Gas gingen.

Nicht, dass dem ÖFB-Team das viel geholfen hätte. Auch weiterhin wurde mit dem geballten Temperament einer Weinbergschnecke verteidigt, und Heimo Pfeifenberger merkte man an, dass er selbst bei Rapid nur eine Notlösung als Manndecker war – Bent Christensen, immerhin Torschützenkönig der gerade abgelaufenen Saison in Dänemark, durfte auch beim 2:0 so frei zum Kopfball kommen wie davor vermutlich die komplette Saison nicht.

Dass Ernst Ogris in seinem einzigen Länderspiel das wohl formvollendeste Tor seiner ganzen Karriere erzielte – ein eleganter Seitfallzieher kurz vor Schluss – war für ihn persönlich ein schöner Erfolg und das Ergebnis von 1:2 sieht optisch nicht so wild aus. Aber es drückt die beinahe unwirkliche Chancenlosigkeit nicht einmal im Ansatz aus. „Die einfachsten Pässe kamen nicht an“, lamentierte Riedl, „damit haben wir den Gegner stark gemacht.“

Die Dänen wurden ein Jahr später Europameister. Es steht zu vermuten, dass sie doch ein wenig mehr drauf hatten, als von österreichischen Fehlpässen zu profitieren.

„Der Gegner war in einem nicht gerade hochklassigen Spiel technisch klar besser.“

Ehe sich die sommerpäusliche Ruhe über das ÖFB-Team legte und Andi Ogris im Sommer nach einem mäßig erfolgreichen Jahr bei Espanyol zur Austria zurückkehrt, lag Österreich drei Spiele vor Schluss immerhin auf dem dritten Rang. Sah zumindest akzeptabel aus.

Die verbleibenden Spiele (Dänemark und Jugoslawien daheim, Nordirland auswärts) wollten mit Blick auf die kommende Auslosung zur WM-Quali für 1994 dennoch nicht abgeschenkt werden und zur Vorbereitung gab’s noch ein Testpiel in Portugal. Weiterhin ohne Toni Polster, dafür mit einem 24-Jährigen Manndecker vom FC Tirol, der drei Monate davor noch in der steirischen Landesliga gespielt hat. Mario Posch bekam von Riedl sogar die Zusage, spielen zu dürfen. Auch Walter Kogler von Sturm und Franz Resch von Rapid waren erstmals mit dabei.

Portugal - Österreich 1:1
Portugal – Österreich 1:1 (1:0)

Gegen die aufstrebenden Portugiesen (die davor gegen Weltmeister Deutschland 1:1 gespielt und Europameister Holland sogar besiegt hatten) strich Riedl einen Stürmer aus der Mannschaft, und der Platzwart des FC Porto strich Österreich das Abschlusstraining. Er hatte vor dessen Start das Flutlicht abgedreht und war heimgegangen. Kein Witz.

Im letzten Moment kippte Riedl, entgegen seiner Ankündigung, Posch doch noch aus dem Team und ließ statt ihm Resch debütieren. Die österreichische Deckung agierte ungewohnt konzentriert und konsequent, jedenfalls konnten sich die Portugiesen offensiv kaum in Szene setzen. Futre war einmal seine Foxterrier Artner entwischt, aber sonst war nicht viel los.

Gut, bei Österreich auch nicht. Westerthaler sah kaum einen Ball, und nach einer Stunde brachte Riedl dann doch einen zweiten Stürmer (Pfeifenberger für Feiersinger) und es war dennoch nicht mal wirklich eine Torchance, die zum 1:1-Endstand führte, sondern ein Kopfball von Walter Kogler nach einem Eckball. Im Nachlauf wankte Riedl zwischen Realismus und Delirium. „Der Gegner war in einem nicht gerade hochklassigen Spiel technisch klar besser“, sagte er, im selben Atemzug aber auch: „Wir haben 1:1 gespielt und die U-21 hat hier sogar 3:2 gewonnen. Man sollte den österreichischen Fußball nicht unterschätzen!“

Der letzte Akt

Hans Krankl (und auch Otto Baric) war schon direkt nach Landskrona von vielen als Teamchef gefordert worden. Womöglich zog Mauhart die Nacht-und-Nebel-Aktion mit Riedl durch, um nicht von den Landespräsidenten den Rapid-Trainer aufgeschwatzt zu bekommen.  Fragen nach Krankl beantwortete Mauhart pampig: „Mit Rapid weder in den Europacup zu kommen, noch Cupsieger zu werden, schafft schnell mal einer.“

Die Antwort auf die Frage, ob uns Krankls Katastrophen-Amtszeit von 2002 bis 2005 erspart geblieben wäre, wäre er schon 1990/91 krachend gescheitert, ist zumindest spannend. Genauso wie die Frage, wer 2002 Baric‘ Nachfolger geworden wäre. Man sieht: Irgendwann wurden sie’s alle.

Wohl auch, um das gespannte Verhältnis zwischen Mauhart und Krankl nicht noch nachhaltiger zu beschädigen, verlangte der ÖFB nicht einmal eine Untersuchung durch Team-Arzt Ernst Schopp, um auf Robert Pecl zu verzichten. Dieser spielte nach seiner Verletzung zwar wieder regelmäßig für Rapid, aber eine Länderspielwoche war im laut Rapid nicht zuzumuten. Der ÖFB nickte das ab.

Österreich - Dänemark 0:3
Österreich – Dänemark 0:3

So hießen die Manndecker gegen Dänemark wieder Artner und Kogler. Und Artner war es auch, der mit einem besonders starksigen und in seiner entstehen völlig sinnfreien Eigentor nach zehn Minuten die erneute Katastrophe einläutete – er rannte einem 50-Meter-Ball von Povlsen so lange nach, bis er die von Kogler abgefälschte Kugel auch wirklich mit der Schulter an Konrad vorbei ins Tor bugsieren konnte.

Ein paar Minuten danach legte Stöger in der Vorwärtsbewegung einen Ball ohne näher ersichtlichen Grund in den leeren Raum quer, Povlsen sagte zum 2:0 „danke“. Nach einer halben Stunde ließ sich Prosenik ganz besonders billig von Henrik Larsen abkochen, die Flanke verwertete ein komplett blank stehender Bent Christensen schon zum 3:0.

Die Dänen bejubelten ihre Tore nicht einmal mehr richtig, ihre Überlegenheit schien ihnen fast peinlich zu sein. „Österreich ist ein wertloses Team ohne jede internationale Klasse“, konstatierten die dänischen Medien hernach. „Für die Verteidigung ist es schwierig, wenn kein Mittelfeld vorhanden ist“, brummte Franz Resch. Und Harry Gschnaidtner, 21-jähriger Defensiv-Spieler von Stahl Linz, wird sich besonders gefreut haben, als ihn Riedl in der Halbzeit in das kaputte Team hinein debütieren ließ.

„In Zukunft spielen wir am Besten nur noch gegeneinander, international haben wir ja ohnehin keine Chance“, seufzte Mauhart mit einem Blick auf das 1:6 von Meister Austria Wien gegen Arsenal ein paar Wochen vorher. Und die eh nur 10.000 Zuseher im Praterstadion? Die skandierten abwechselnd „Wir wollen Toni“ und …

… „Riedl raus!“

Und der Teamchef gehorchte. Riedl hatte genug – er hatte weder spielerisch eine Linie, geschweige denn eine Steigerung etablieren können, noch vermochte er irgend eine Form von Aufbruchstimmung zu versprühen. Am Tag nach dem Trauerspiel, das bei weniger dänischem Mitleid auch zweistellig ausgehen hätte können, quittierte er seinen Dienst. Eine Woche später, beim 1:2 in Nordirland, saß schon Riedls Co-Trainer Didi Constantini als Interims-Teamchef auf der Bank, Ernst Happel übernahm nach der Winterpause.

Alfred Riedl arbeitete nie wieder als Trainer in Österreich.

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Ballverliebt Classics: Der Wende-Weltmeister https://ballverliebt.eu/2015/07/08/ballverliebt-classics-der-wende-weltmeister/ https://ballverliebt.eu/2015/07/08/ballverliebt-classics-der-wende-weltmeister/#comments Wed, 08 Jul 2015 14:42:29 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=11256 Ballverliebt Classics: Der Wende-Weltmeister weiterlesen ]]> Der Weltmeister-Titel von 1954 war der Triumph des sich im Aufbau befindlichen Nachkriegs-Deutschland. Jener von 1974 war der der Bonner Republik, der von 2014 war der Sieg des modernen, multikulturellen Deuschlands. Und der von 1990 war der WM-Titel der Wende. Die Siegsnacht von Rom jährt sich nun zum 25. Mal. Hier nachgezeichnet: Der Turnierverlauf aus Sicht des DFB-Teams.

In den vier Jahren vor dem Turnier in Italien hat sich das deutsche Team extrem entwickelt. War man 1986 noch mit drögem Panzerfußball und einigem Glück ins WM-Finale vorgestoßen (wo man 2:3 gegen Argentinien verlor), wurde im Mittelfeld nun deutlich mehr die spielerische Note betont. Oft wurde ohne einen dezidierten Kämpfer im Zentrum gespielt, dafür mit drei Kreativkräften. Lothar Matthäus (29) von Inter Mailand war dabei gesetzt, dazu kamen zwei aus dem Trio Uwe Bein (29, Frankfurt), Thomas Häßler (24, Köln) und Pierre Littbarski (30, Köln).

Gruppenphase

Deutschland - Jugoslawien 4:1 (2:0)
Deutschland – Jugoslawien 4:1 (2:0)

Matthäus war ein Spieler mit großer Vertikalität. Er konnte sowohl direkt hinter den Spitzen als klassischer Zehner agieren, sehr gerne ließ er sich aber auch hinter seine beiden Adjutanden zurückfallen und lenkte sein Team von hinten heraus. Das machte ihn für die Gegner in einer Zeit strikter Manndeckung sehr schwierig zu verteidigen.

Der Kontrahent im ersten Gruppenspiel war das jugoslawische Team, das als gefährlicher Geheimtipp ins Turnier gegangen war. Trainer Ivica Osim eliminierte nach den politisch aufgeheizten Prügeleien zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad einen Monat vor Turnierstart Dinamo-Star Zvonimir Boban, der dabei mittendrin war. Der Bosnier Osim ließ vier Bosnier, drei Serben, zwei Kroaten, einen Slowenen und einen Montenegriner spielen – die vor allem gegen die Urgewalt von Lothar Matthäus chancenlos waren. Der Kapitän erzielte zwei Tore, war ein permanenter Gefahrenherd und stiftete permanente Unordnung.

Deutschland ging hochverdient mit einer 2:0-Führung in die Pause, der Anschlusstreffer von Libero Jozic störte sie kaum. Als Keeper Ivkovic – bis zwei Jahren davor beim FC Tirol – eine Brehme-Flanke ausließ und Völler zum 4:1 abstaubte, war die Sache erledigt. Beckenbauer konnte in der Folge auch Littbarski und den jüngen Möller einige Minuten geben, man war direkt voll im Turnier drin und war voller Selbstvertrauen.

Deutschland - VAE 5:1 (2:0)
Deutschland – VAE 5:1 (2:0)

Nächster Gegner war der größte Außenseiter des Turniers, das Team von den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dieses bunkerte sich mit vier Manndeckern und einem Libero, dazu zwei Kettenhunden im Mittelfeld, hinten ein.

Natürlich lief das Spiel wie auf einer schiefen Ebene auf das Tor von Muhsin Musabah zu. Dass Deutschland zur Pause nur 2:0 führte – Völler und Klinsmann hatten getroffen – schmeichelte den Emiraten ziemlich, ebenso wie der Anschlusstreffer 20 Sekunden nach Beginn der zweiten Halbzeit. Libero Klaus Augenthaler hatte eine Flanke falsch berechnet, in seinem Rücken sagte Khalid Ismail „Danke“.

Wiederum aber weckte das Tor das DFB-Team nur auf – zumal Beckenbauer für die zweite Hälfte einen der zwei Manndecker rausnahm und mit Littbarski einen zusätzlichen Kreativen für das Mittelfeld brachte. Eine Minute nach dem Anschlusstreffer stellte Matthäus den Zwei-Tore-Vorsprung wieder her, nach einer Stunde markierte Bein das 4:1 und eine Viertelstunde vor Schluss Rudi Völler den 5:1-Endstand. Mit zwei Siegen und 9:2 Toren war der Gruppensieg noch nicht rechnerisch, aber de facto fixiert. Das hieß auch, dass man für zwei K.o.-Spiele in Mailand bleiben konnte.

Deutschland - Kolumbien 1:1 (0:0)
Deutschland – Kolumbien 1:1 (0:0)

So konnte man auch das letzte Gruppenspiel gegen Kolumbien etwas lockerer angehen lassen. Generell ließ Beckenbauer seinen Spielen die ganz lange Leine. Ganz im Gegensatz zum repressiven Muff in Malente, wo Beckenbauer 1974 den Lagerkoller am eigenen Leib erfahren hatte, gewährte er als Teamchef seinen Mannen im Castello di Casiglio in der Nähe des Comosees viele Freiheiten.

Und gegen Kolumbien gewährte er Andi Brehme eine Pause. Die Südamerikaner aber hielten nichts davon, Ruhe zu geben: Für sie ging es noch um den zweiten Gruppenplatz. Die Cafeteros, damals ein mit Rauschgift-Millionen hochgepimptes Team, um den schillernden Spielmacher Carlos Valderrama kontrollierten mit schnellem Kurzpassspiel Ball und Gegner. Nur Bodo Illgner war es zu verdanken, dass Kolumbien nicht nach einer Stunde 2:0 führte, sondern es entgegen des Spielverlaufs noch immer 0:0 stand. In Minute 89 gelang dem eingewechselten Littbarski dann sogar per Weitschuss das 1:0. Immerhin kam Kolumbien dank des Ausgleichs in der Nachspielzeit durch Fredy Rincón noch zum verdienten 1:1.

K.o.-Phase

Zweifelhafter Lohn für den Gruppensieg war ein Achtelfinal-Duell gegen den erbittertsten Gegner dieser Zeit, das Team aus den Niederlanden. Zwei Jahre zuvor hatte Oranje im EM-Halfinale den EM-Gastgeber Deutschland eliminiert, in der WM-Quali für das Turnier in Italien hatte es ein 1:1 (in Rotterdam) und ein 0:0 (in München) gegeben. In der Vorrunde aber hatte es das niederländische Team nur zu drei Remis gegen Ägypten, Irland und England gebracht und rutschte nur als einer der besseren Gruppendritten in die K.o.-Phase. Einer der Hauptgründe war die schlechte Form von Marco van Basten, die ihn schon weite Teile des Frühjahrs verfolgt hatte.

Deutschland - Holland 2:1 (0:0)
Deutschland – Holland 2:1 (0:0)

Gegen den Lieblingsfeind aber war Holland wieder voll da. Der starke Start ins Spiel war auch möglich, weil Beckenbauer zwar einen dritten Manndecker eingezogen hat, aber damit das defensive Mittelfeld vollends unbesetzt blieb.

Die Vertikalläufe von Aron Winter aus dem Zentrum heraus verliefen weitgehend ungehindert und der 23-Jährige von Ajax Amsterdam hätte schon in den ersten zehn Minuten auf 2:0 stellen können, wenn nicht müssen. Zudem stifteten die permanenden Positionswechsel von Gullit und Witschge bei den deutschen Manndeckern Berthold und Buchwald – die ihre Seiten jeweils beibehielten – Verwirrung.

Nach rund 20 Minuten aber torpedierte Frank Rijkaard die holländische Dominanz, indem er Rudi Völler wiederholt in die Lockenpracht spuckte. Rijkaard sah dafür ebenso Rot wie Völler, der sich beim argentinischen Referee Loustau darüber beschwert hatte. Ohne Rijkaard musste Jan Wouters aus dem Zentrum zurück in die Abwehr, dafür rückte Winter nach hinten, um die Balance zu wahren. Vorbei war’s mit Winters Läufen in den freien Raum und damit auch mit der holländischen Dominanz.

Klinsmann, der nach Völlers Ausschluss wie aufgedreht lief, scorte kurz nach Beginn der zweiten Hälfte das 1:0, Brehme legte zehn Minuten vor Schluss das 2:0 nach – die Entscheidung in einer enorm hitzigen Partie. Das Elfmeter-Tor von Ronald Koeman in Minute 89 kam zu spät, Deutschland siegte 2:1.

Deutschland - Tschechoslowakei 1:0 (1:0)
Deutschland – Tschechoslowakei 1:0 (1:0)

Vor dem Viertelfinale gegen das Team der Tschechoslowakei – die CSFR hatte im Achtelfinale Überraschungsteam Costa Rica locker 4:1 besiegt – gewährte Beckenbauer dem Kader zwei Tage komplett frei. Der souveräne Turnierverlauf aber ließ die Leichtigkeit in Leichtsinn überschlagen. Deutschland dominierte den Nachbarn zu Beginn klar, kam nach einem von Matthäus verwandelten Elfmeter (Straka hatte Klinsmann gefoult) nach einer knappen halben Stunde zum 1:0.

In der Folge aber stellte man das Spiel ein. Es folgten billige Ballverluste, das tschechoslowakische Team kam auf, auch nach dem Ausschluss für den unbeherrschten Lubomir Moravcik nach 70 Minuten durch den österreichischen Referee Helmut Kohl. Nach dem 1:0-Sieg wollten die deutschen Spieler in der Kabine feiern, aber Beckenbauer bekam einen legendären Wutausbruch. Er trat auf Eisboxen ein, fuchtelte wie wild: „So ein schlechtes Spiel hab‘ ich ja überhaupt noch nie gesehen! So werden wir im Halbfinale aus dem Stadion geschossen“, soll der Teamchef gebrüllt haben. Vor allem Uwe Bein dürfte sich den Zorn des Kaisers zugezogen haben. Der als schlampiges Genie bekannte Frankfurter spielte fortan keine WM-Minute mehr.

Für das Halbfinale musste man erstmals raus aus Mailand, es wartete England – ausgerechnet in Turin. Fünf Jahre nach dem Heysel-Desaster sorgte eine Heerschaar von 8.000 Sicherheitskräfte dafür, dass Juventus-Fans von den englischen Anhängern abgeschirmt wurden – was nicht ganz gelang, es gab einige Ausschreitungen und auch Festnahmen. Auf dem Feld passten sich die Three Lions in dem Turnier den anderen Trend an: Libero und zwei Manndecker waren nun auch bei Teamchef Bobby Robson gefragt.

Deutschland - England 1:1 n.V. (1:1, 0:0), 4:3 i.E.
Deutschland – England 1:1 n.V. (1:1, 0:0), 4:3 i.E.

Auch, wenn beim 2:1 nach Verlängerung im Viertelfinale gegen Kamerun viel Glück dabei dabei: Diese Maßnahme verlieh England eine große Stabilität. Im Mittelfeld gab es mit Chris Waddle und dem bei diesem Turnier groß aufspielenden Paul Gascoigne zwei kreative Spieler hinter dem Sturmduo mit Lineker und (dem sich gerne etwas zurückfallen lassenden) Beardsley. Zudem konnten die Außenverteidiger guten Gewissens aufrücken.

Deutschland geriet gegen die selbstbewussten Engländer dann auch schnell unter Druck. Über Platt und Waddle lief der Ball gut, Kohler hatte mit Lineker alle Hände voll zu tun. Zudem spielte Deutschland ab der 30. Minute auch einige Zeit mit zehn Mann, weil Völler behandelt wurde. Im Laufduell bekam er einen Tritt von seinem Bewacher Des Walker ab, nach langer Behandlung gab Völler aber doch w.o., und Kalle Riedle kam ins Spiel.

Nach dem Seitenwechsel spielte Häßler deutlich höher, so drückte man das englische Mittelfeld etwas nach hinten und auch Lothar Matthäus – vor der Pause zur Wirkungslosigkeit verurteilt – kam besser ins Spiel. Nach einer Stunde wurde der neue Schwung mit dem 1:0 belohnt: Brehmes abgefälschter Schuss schlug hinter dem 40-jährigen englischen Keeper Peter Shilton ein.

Robson switchte danach doch wieder auf ein 4-4-2, Trevor Steven kam für Libero Terry Butcher (der diese Rolle vor allem in der Spieleröffnung schon arg hölzern spielte). Als es schon nach einem knappen deutschen Sieg aussah, traf nach 80 Minuten aber Gary Lineker doch noch zum 1:1 – Jürgen Kohlers verunglückter Rettungsversuch landete beim ehemaligen Barcelona-Stürmer, der musste nur noch einschießen. England nahm wieder Dampf raus, war mit der Verlängerung erst einmal zufrieden.

Dort aber übernahm Deutschland wieder die Kontrolle, dazu holte sich Paul Gascoigne eine gelbe Karte ab – im Finale wäre er damit gesperrt gewesen. Wie ein Schlag wirkte sich das auf das ganze Team aus, so schien es. Im Elferschießen scheiterte erst Stuart Pearce, dann Chris Waddle. Alle Deutschen trafen, somit war der Platz im Finale gebucht.

Das Finale

Im Turnierverlauf lief sich alles auf ein Endspiel zwischen Deutschland und Italien hinaus – die beiden souveränsten und auch unterhaltsamsten Teams des Turniers. Aber der Titelverteidiger hatte etwas dagegen, obwohl Argentinien zwischen dem Titel 1986 und Turnierstart 1990 insgesamt 26 von 32 absolvierten Spielen nicht gewann und im Eröffnungsspiel dem Kamerun unterlag. In der Folge schmuggelte man sich als Gruppendritter ins Achtelfinale, mit einem glücklichen 1:0 über Brasilien ins Viertelfinale und per Elfmeterschießen gegen Jugoslawien und Italien ins Finale.

Deutschland - Argentinien 1:0 (0:0)
Deutschland – Argentinien 1:0 (0:0)

All das mit einem zynischen, beinahe ekelhaften Anti-Fußball. Vor Libero Juan Simon standen vier eisenharte Verteidiger, davor drei dezidiert defensive Mittelfeld-Leute. Vor Spielmacher Maradona spielte nur eine Spitze – Claudio Caniggia, der im Finale aber ebenso gesperrt war wie Abfangjäger Ricardo Giusti, Rechtsverteidiger Julio Olarticoechea und Sechser Sergio Batista.

Ohne so viele Spieler verlegte sich Argentinien im Finale umso mehr auf Verteidigen, Treten, Kämpfen, Schimpfen und Theatralik. Selbst die italienischen Zuseher in Rom standen wie ein Mann hinter Deutschland, Maradona etwa wurde bei jedem Ballkontakt gnadenlos niedergepfiffen. Zudem wich ihm Guido Buchwald nicht von der Seite – der große Star der Mannschaft war überhaupt kein Faktor. Nicht selten stand Gustavo Dezotti von Serie-A-Absteiger Cremonese, der Caniggia vertrat, als einziger Argentinier in der gegnerischen Hälfte.

Dieser Spielweise fiel schon nach einer Stunde der für Ruggeri eingewechselte Pedro Monzón per Gelb-Rot zum Opfer, dazu hätte es nach einem Foul am nach vorne stürmenden Libero Augenthaler in Minute 61 einen Elfmeter für Deutschland geben müssen, die Pfeife des mexikanischen Referees Edgaro Codesal Mendez blieb aber stumm.

Anders in der 83. Minute, als Sensini in einem Laufduell Völler einen leichten Rempler gab. Codesal zögerte keinen Moment und zeigte sofort auf den Punkt. Lothar Matthäus, der etatmäßige Elferschütze, wollte nicht antreten – er fühlte sich nicht sicher genug. Dafür schnappte sich Andi Brehme – Klubkollege von Matthäus und Klinsmann bei Inter Mailand – den Ball. Keeper Sergio Goycoechea erahnte zwar die richtige Ecke, aber Brehme knallte die Kugel unhaltbar zwischen den aus Sicht des Schützen linken Pfosten und den heranfliegenden Keeper – das hochverdiente 1:0.

Direkt danach griff der entnervte Dezotti von hinten um Kohlers Hals herum an dessen Kragen und riss den deutschen Verteidiger nieder – auch hier zögerte Cosedal nicht und warf den zweiten Argentinier aus dem Spiel. Troglio und Dezotti, beide um einen Kopf größer als der Referee, brüllten auf den graumelierten Mexikaner ein, ehe Maradona alle anderen wegdrängte. Nur nicht noch einen dritten Spieler verlieren, schien der Kapitän zu denken.

So oder so: Einige Minuten später war das Spiel vorbei und Deutschland Weltmeister. Noch ein paar Minuten später empfing Matthäus den WM-Pokal aus den Händen von Italiens Staatspräsident Francesco Cossiga.

Und noch ein paar Minuten danach wanderte Franz Beckenbauer einsam durch den Mittelkreis des Olympiastadions von Rom.

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Ballverliebt Zeitreise: Als Ogris zuletzt als Austrianer gegen Rapid antrat https://ballverliebt.eu/2015/05/16/ballverliebt-zeitreise-als-ogris-zuletzt-als-austrianer-gegen-rapid-antrat/ https://ballverliebt.eu/2015/05/16/ballverliebt-zeitreise-als-ogris-zuletzt-als-austrianer-gegen-rapid-antrat/#respond Sat, 16 May 2015 19:38:58 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=11072 Ballverliebt Zeitreise: Als Ogris zuletzt als Austrianer gegen Rapid antrat weiterlesen ]]> Andi Ogris, seines Zeichens Interimstrainer, darf in seinen drei Monaten als Austria-Coach auch ein Derby gegen Rapid bestreiten. Das letzte Mal, als er als Aktiver ein solches bestritt, schrieb man den 4. Mai 1997. Eine kleine Zeitreise.

md 29 saison 96 97

Wolfgang Frank bestritt sein erstes Spiel als Austria-Trainer, der Deutsche hatte vom geschassten Schani Skocik übernommen. Ein kurzer Blick auf die Tabelle genügt, um zu wissen, warum Austria-Präsident Streicher seinen Coach entließ. Ob er es wirklich per Handy in der Spielerbesprechung vor dem Spiel gegen Ried machen hätte müssen (das Ried danach 2:1 gewann), ist wieder eine andere Frage.

Austria - Rapid 0:0
Austria – Rapid 0:0

Jedenfalls übernahm Wolfgang Frank und hielt, entgegen seinen eigentlichen Überzeugungen, vorerst am System mit Libero und Manndeckern fest und stellte sich gegen Tabellenführer Rapid hinten rein. Dazu wehrte man sich auch mit robusten, körperlichen Mitteln – was Referee Fritz Stuchlik vor 20.000 Zusehern im Happel-Stadion auch gewähren ließ.

Das verleitete Rapid-Stürmer Ipoua in der Schlussphase dazu, auszurasten: Der Kameruner legte sich mit dem Referee-Assistenten und der halben Austria-Mannschaft an, Ogris keppelte zurück. Sowohl Ipoua als auch Ogris flogen per roter Karte vom Platz, das Spiel endete 0:0.

Die Austria holte aus den restlichen sechs Saisonspielen unter dem letztes Jahr verstorbenen Wolfgang Frank drei Siege und zwei weitere Remis, nur gegen Sturm gab es noch eine knappe 2:3-Niederlage, insgesamt eine Tordifferenz von 10:6. Im Sommer machte Frank dann ernst und ließ als erster Coach überhaupt in Österreich eine Viererkette in der Abwehr spielen. Seine Spieler waren aber nicht in der Lage, ohne Manndeckung und Libero eine vernünftige Defensive zu spielen.

Anfang April 1998 wurde Wolfgang Frank, auf Platz sieben liegend, entlassen – sechs Punkte hinter einem Europacup-Platz. Nach acht Spielen unter Robert Sara, von denen genau Null gewonnen wurden, fehlten 21 Zähler.

Für Ogris (32) war sein letztes Derby auch sein letztes von 276 Bundesliga-Spielen für die Austria. Er spielte noch ein Jahr für die Admira, ehe er seine Karriere bei Simmering ausklingen ließ.

Der Rest der Liga

Rapid war zum Zeitpunkt des letzten Ogris-Derbys gerade dabei, im Titelkampf gegen Salzburg einen einigermaßen epischen Kollaps hinzulegen. Von den letzten sieben Saisonspielen wurden nur noch zwei gewonnen, ehe man als Vizemeister die Herren Konsel, Kühbauer und Mandreko ans Ausland und Ivanov an die Austria verlor.

Salzburg zog unter Trainer Heribert Weber durch, holte aus den kommenden fünf Spielen 13 Punkte und machte mit dem 2:0 im direkten Duell gegen Rapid am drittletzten Spieltag de facto den Deckel drauf. Es war der der dritte und letzte Titel vor der Red-Bull-Übernahme.

Sturm (Trainer Osim) und der FC Tirol (Trainer Constantini) kämpften bis zum letzten Spieltag um den zweiten UEFA-Cup-Platz, am Ende wurde Sturm dank der besseren Tordifferenz Dritter. Weil die Grazer aber das Cupfinale gegen die Admira gewannen, rutschten die Innsbrucker doch noch in den Europacup – ohne DiCo, weil Heinz Peischl übernahm.

Beim GAK war der Abgang zu Saisonende von Gustl Starek ebenso schon klar wie jeder von Friedel Rausch beim LASK, beide ließen eine graue Saison austrudeln. Ried war unter Langzeit-Coach Klaus Roitinger happy, die Saison ohne Abstiegsgefahr als Achter zu beschließen.

Beim FC Linz (in den letzten Spielen mit Hubert Baumgartner als Coach), einstmals als SK Voest Meister, wurde drei Wochen nach Ogris‘ Letztem Derby die „Fusion“ mit dem LASK fixiert, womit der Verein de facto zu exisieren aufhörte.

Profiteur war die Admira, in diesem Jahr trotz der abgeblasenen Fusion mit St. Pölten ein seltsames Gebilde mit dem Namen „SC Niederösterreich Admira-Wacker“ von Prölls Gnaden, das seine Heimspiele mal in der Südstadt, mal in St. Pölten und mal in Krems austrug. Sportlich unter Kurt Garger Letzter, rückte man dank der Linzer Fusion in die Relegation auf, die der Vorletzte damals gegen den Zweiten der 2. Division spielte, anstatt direkt abzusteigen. Diese wurde gegen Vorwärts Steyr 2:2 und 5:1 (mit einem Fünferpack von Manfred Rosenegger) gewonnen. Weil’s gerade so lustig war, fusionierte man gleich noch mit dem VfB Mödling.

Und sonst so…

In der 2. Division, mit 16 Teams ausgetragen, sicherte sich Austria Lustenau unter Edi Stöhr souverän den Aufstieg, Steyr wurde eben Zweiter und verlor in der Relegation. Die weitere, nicht gerade prominente Besetzung der Liga: Vienna, Spittal, Gerasdorf, St. Pölten, Braunau, Bregenz, Stockerau, Kufstein, Wattens, Leoben, Mödling, Hartberg und Flavia Solva. Der FavAC war im Winter in die Knie gegangen und hatte den Spielbetrieb eingestellt.

Das ÖFB-Nationalteam hatte unter Herbert Prohaska gerade mit viel Mühe in der WM-Qualifikation daheim gegen Estland 2:0 gewonnen, dank des ersten Länderspiel-Tores von Ivica Vastic, ein weiteres Monat davor gab’s in Ogris‘ letztem Länderspiel ein 0:2 in Schottland. Ein halbes Jahr später löste Österreich als Gruppensieger das WM-Ticket.

Drei Tage nach Ogris‘ letztem Derby gewann Schalke 04 das Hinspiel des letzten in zwei Spielen ausgetragenen UEFA-Cup-Finales gegen Inter Mailand 1:0 (Tor: Wilmots), zwei Wochen später triumphierte Schalke im Elferschießen. Barcelona gewann zwischen diesen beiden Finals im Cupsieger-Bewerb gegen Paris St. Germain 1:0 (Tor: Ronaldo), ehe Dortmund im Champions-League-Finale Juventus überraschend 3:1 besiegte (Tore: Riedle 2, Ricken bzw. Del Piero).

In der deutschen Bundesliga spielten noch Klubs wie Bochum, München ’60, Karlsruhe, Bielefeld, Duisburg, Rostock und St. Pauli; die Bayern steuerten ihrem einzigen Titel unter Giovanni Trapattoni entgegen. In England rettete Manchester United den Titel vor Newcastle United, in Italien Juventus knapp vor dem AC Parma – und Real Madrid hielt in Spanien unter Fabio Capello den FC Barcelona unter Bobby Robson auf Distanz.

…außerdem…

Drei Monate vor Ogris‘ letztem Derby hatte Hermann Maier sein allererstes Weltcup-Rennen gewonnen, Luc Alphand und Pernilla Wiberg wurden Weltcup-Gesamtsieger bei den Alpinen, Primoz Peterka bei den Skispringern. Die Eishockey-Spieler der VEU Feldkirch gewannen die Alpenliga (ja, die gab’s damals noch) und die österreichische Liga. Das Eishockey-Nationalteam schaffte den Aufstieg in die A-Gruppe.

In der Formel 1 duellierten sich Jacques Villeneuve und Michael Schumacher um den Titel, Gerhard Berger fuhr seine letzte Saison und Alexander Wurz (23) seine ersten drei Rennen. Pete Sampras und Martina Hingis dominierten den Tennis-Zirkus, Jan Ullrich gewann die Tour de France und Valentino Rossi (18) gewann 14 von 15 Saisonrennen – bei den Kampfgelsen in der 125er-Klasse.

Und der Rest der Welt?

Ex-Finanzminister Viktor Klima hatte vier Monate vor Ogris‘ letztem Derby den SPÖ-Vorsitz und das Bundeskanzler-Amt von Franz Vranitzky übernommen, Helmut Kohl ging in sein letztes Jahr als deutscher Kanzler, ehe er von Gerhard Schröder abgelöst wurde. Bill Clinton hatte gerade seine zweite Amtszeit als US-Präsident in Angriff genommen und unterhielt nebenbei eine kleine Affäre mit seiner Praktikantin. Tony Blair gewinnt die Wahlen in Großbritannien gegen John Major und zieht als erster Labour-Politiker seit 18 Jahren in die Downing Street ein, Lady Diana vergnügte sich, frisch geschieden von Prinz Charles, mit Dodi Al-Fayed – zumindest noch vier Monate.

Die Mercedes-A-Klasse war beim „Elchtest“ umgekippt und erstmals gelang es Forschern, ein Säugetier zu klonen. Klonschaf „Dolly“ sollte sechs Jahre alt werden. Rainhard Fendrich wollte gerade „Blond wie eine Semmel sein“ und am Tag vor Ogris‘ letztem Derby gewannen Katrina And The Waves für Großbritannien überlegen den Song Contest mit „Love Shine A Light“.

Ogris

Und 18 Jahre sollte es dauern, ehe Ogris wieder in einer offiziellen Funktion bei seiner Wiener Austria ein Derby gegen Rapid absolvieren sollte. Wie damals im Happel-Stadion, passenderweise.

Da schließt sich ein Kreis.

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„Wenn Sie flotte Sprüche hören wollen, gehen Sie nach München. Wenn Sie flotten Fußball sehen wollen, kommen Sie zu uns!“

– Ralf Rangnick, 3. Dezember 2008

Es war eines der am meisten gehypten Bundesliga-Spitzenspiele überhaupt. In einer Zeit, bevor Dortmund zum großen Dauerrivalen von Bayern München wurde und sich Bremen als solcher langsam, aber sicher verabschiedete, schickte sich ein Klub an, dem Platzhirschen Paroli zu bieten. Ein Aufsteiger – die TSG 1899 Hoffenheim.

Diese spielte eine überragende Hinrunde und kam am 16. Spieltag als Tabellenführer mit drei Punkten Vorsprung auf die Bayern in die Allianz Arena. Der Höhenflug war kein Zufall, sondern die Folge davon, dass Trainer Ralf Rangnick alles tat, um dem Spiel seiner Mannschaft den solchen zu nehmen. Er gewann letztendlich nichts, war damit aber der endgültige Wegbereiter für den deutschen Schritt in die Fußball-Moderne.

Bayern München - 1899 Hoffenheim 2:1 (0:0)
Bayern München – 1899 Hoffenheim 2:1 (0:0)

„Ich glaube, im Fußball ist […] noch zu viel Zufall, auch bei mit war das so bis vor zwei Jahren. Seitdem habe ich von meinem Expertenteam viel gelernt.“ Das sagte Ralf Rangnick im November 2008 im „kicker“. Er holte sich mit Bernhard Peters einen Hockey-Trainer als Direktor für Sport- und Jugendförderung. Er war derjenige, der Rangnick vom bedingungslosen Vertikalspiel überzeugte. Die Verbindung des als „Fußball-Professors“ bekannten Rangnick und des fußballexternen Peters führte zum Herbst von Hoffenheim.

Die Ausgangslage

Rangnick war im Winter 2005/06 bei Schalke von Manager Assauer abgesägt worden und übernahm ein halbes Jahr später Hoffenheim. Der Klub aus dem Örtchen zwischen Mannheim und Karlsruhe war ein etablierter Drittligist, hatte seine sechste Saison in dieser Spielklasse vor sich. Und einen Geldgeber mit großen Ambitionen – SAP-Mitbegründer Dietmar Hopp. Hoffenheim stieg 2007 in die zweite Liga auf, startete dort aber nur mäßig und überwinterte als Achter nach 5 Siegen, 7 Remis und 5 Niederlagen mit acht Punkten Rückstand auf den Aufstiegsplatz.

In der Rückrunde setzte das Team das Rangnick’sche Konzept aber beinahe perfekt um, war mit 38 Punkten (12 Siege, 2 Remis, 3 Niederlagen bei 36:13 Toren) die mit Abstand beste Rückrunden-Mannschaft. Am letzten Spieltag überfuhr man Fürth mit 5:0 und hielt so Mainz (in der letzten Saison unter Jürgen Klopp) und Freiburg auf Distanz, begleitete Luhukays Gladbach und Christoph Daums 1. FC Köln in die Bundesliga.

Der Kader

Hoffenheim ging mit einer unfassbar jungen Mannschaft in die Bundesliga. Das Durchschnitts-Alter der Stamm-Elf betrug 22,2 Jahre, der älteste Spieler war Linksverteidiger Andreas Ibertsberger mit gerade einmal 25 Jahren. Grund dafür war die unübliche Herangehensweise – Rangnick brauchte für seine Vorstellungen Kicker, die absolut offen waren und noch nicht im Trott des „Normalen“ verfangen waren. Nicht unähnlich etwa einem Arsène Wenger, der einst über den damals 23-jährigen Christoph Leitgeb sagte: „Ein talentierter Junge, aber schon viel zu alt für einen Wechsel ins Ausland. Er ist nicht mehr formbar!“ Einen ähnlichen Weg verfolgt Rangnick ja nun auch bei Red Bull. Mit seinem damaligen Co-Trainer Peter Zeidler als Coach beim FC Liefering

Der Kader von Hoffenheim bestand grob gesagt aus zwei Gruppen. Zum einen jene mit jungen, von Rangnick handverlesenen Gescheiterten bei anderen Klubs. Jaissle, Beck und Weis standen bei Stuttgart schon früh am Abstellgleis, Innenverteidiger Marvin Compper hatte bei Gladbach keine Zukunft, Stürmer Vedad Ibisevic saß in Aachen auf der Bank, Linksfuß Salihovic in der zweiten Mannschaft von Hertha BSC fest.

Dazu kamen vier extrem talentierte und blutjunge Legionäre: Demba Ba kam um drei Millionen vom belgischen Mittelständler Mouscron, Chinedu Obasi um fünf Millionen von Lyn Oslo aus Norwegen, Luiz Gustavo wurde von den Corinthians aus São Paulo ausgeliehen (und später um eine Million verpflichtet) – und, der Königstransfer, Carlos Eduardo. Der Brasilianer kam 20-jährig um sieben Millionen von Grêmio Porto Alegre.

Das Konzept gegen den Ball

„Beim Spiel gegen den Ball galt in Deutschland […] der klassische Abzählreim: Der Spieler gegen den und der gegen den“, sagte Rangnick, der von einem Aha-Erlebnis bei einem Testspiel gegen Lobanovskis Dynamo Kiew erzählte: „Egal, wo der Ball war, immer waren drei Gegenspieler zur Stelle!“ Die klassischen Elemente von Zonen-Orientierung und Pressing, die Rangnick seiner Rasselbande in Hoffenheim auch beibrachte.

Hoffenheims Sturmreihe (blau) als Riegel und als lenkendes Element
Hoffenheims Sturmreihe (blau) als Riegel und als lenkendes Element

Dabei hatten auch die drei Stürmer – Vedad Ibisevic zentral, Demba Ba und Chinedu Obasi als ständig rochierende Außenspieler – klare Anweisungen im Spiel gegen den Ball. Das war damals in Deutschland im Grunde bei keinem anderen Team ein Thema. Die Hoffenheim-Stürmer hatten zwei Aufgaben gegen die Spieleröffnung des anderen Teams: Abriegeln und lenken.

Die vorherrschenden Systeme in Deutschland zu dieser Zeit waren das flache 4-4-2 bzw. die Version mit Raute, quasi ein 4-3-1-2. War der Ball bei den gegnerischen Innenverteidigern, rückten Ba, Ibisevic und Obasi eng zusammen und kappten so die Möglichkeit, zu den zwei bzw. drei zentralen Mittelfelspielern zu passen. Die Gegner hatten zwei Möglichkeiten: Entweder langer Hafer, oder der kurze Ball auf den Außenverteidiger.

Sobald der AV den Ball hat, doppeln ihn Hoffenheims Außenstürmer und ein Achter, nehmen ihm Zeit und Anspielstationen
Sobald der AV den Ball hat, wird er gedoppelt und den Anspielstationen beraubt

Sobald der Ball beim Außenverteidiger war, stürzten Hoffenheims Außenstürmer (Ba oder Obasi) und der entsprechende Achter (in der Regel Salihovic bzw. Carlos Eduardo) wie die Bösen auf diesen Spieler hin und nahmen ihm so die Zeit für eine Weiterverarbeitung – und gleichzeitig auch die Anspielstation. Der Weg zum eigenen Sechser war durch das eng zulaufende Hoffenheim-Duo sehr riskant, der Mitspieler auf der Mittelfeld-Flanke durch den in diesen Situationen in der Regel hinten bleibenden Hoffenheim-AV (Beck rechts, Ibertsberger links) abgedeckt.

Der Gegner war in der Falle.

Heute ist das Lenken des gegnerischen Spielaufbaus gängige Praxis und absolut nicht Ungewöhnliches, damals in der taktisch auch international weit von der internationalen Spitze entfernten deutschen Bundesliga aber sehr wohl.

Und wenn der Ball doch mal im defensiven Mittelfeld ankam? Auf dafür hatte Rangnick vorgesorgt. Dort war es die Aufgabe eines Achters und eines Spielelers aus dem Dreier-Sturm, den zentralen Mittelfeldmann mit dem Ball ebenso zu doppeln. In der Tat hatte Rangnick dem Spiel gegen den Ball schon mal ziemlich den Zufall genommen. Das kannte die Konkurrenz nicht, und sie konnte auch nicht damit umgehen.

Das Konzept mit Ball

Die Trainingsfelder in Hoffenheim wurden zuweilen extrem schmal. Fünfzehn Meter, um genau zu sein, aber 90 Meter lang. „Das sieht komisch aus“, gestand Rangnick zwar, aber es erfüllte den Zweck. In diesen Schläuchen nämlich wurde das fast schon bedingungslose Vertikalspiel gedrillt. „Da drin wird mit drei Kontakten gespielt, in der verschärften Version mit zwei Kontakten. Nur flach, und bei Rückpässen nur ein Kontakt. Alles andere wird abgepfiffen“, erklärte der Trainer.

Zweck des ganzen war das Üben des Verhaltens nach Ballgewinn. Dann ging nämlich die Post ab. Rangnick war mit Hoffenheim der erste Trainer, der bewusst, aggressiv und zielgerichtet von den drei Sekunden Unordnung sprach, die man beim Gegner nach dessen Ballverlust ausnützen müsse. Quer- oder gar Rückpässe gab es in diesen Umschaltphasen nicht, nur nach vorne.

Hoffenheim - Hamburg 3:0 (3:0)
Hoffenheim – Hamburg 3:0 (3:0)

Vor allem zu Saisonbeginn lief man mit diesem Konzept in offene Messer (wie beim 2:5 in Leverkusen) oder bekam die Rechnung für eine um 20 Meter an den Mittelkreis zurückverlegte Pressinglinie präsentiert (wie beim 4:5 in Bremen), aber meistens waren die Gegner mit dem Lenk- und Pressingspiel und dem extrem vertikalen Umschalten von Hoffenheim komplett überfordert.

Besonders anschaulich wurde dies am 9. Spieltag gegen den HSV, das wie alle Heimspiele im Herbst im Mannheimer Carl-Benz-Stadion stattfand (die Rhein-Neckar-Arena war noch nicht fertig). Es war dies das Spiel des Ersten Hamburg gegen den Zweiten Hoffenheim. Nach zwölf Minuten führte die TSG 2:0 (eins nach Eckball, eines nachdem Obasi an der Mittellinie Jarolim den Ball abgenommen hatte und schnell umgeschaltet wurde), nach einer halben Stunde 3:0. Sinnbildlich: An der Mittellinie war Petric in einem Zweikampf zu Fall gekommen und hatte dabei den Ball mit der Hand gespielt, Referee Stark pfiff Freistoß für Hoffenheim – und als sich der HSV noch beschwerte, lief vier Sekunden nach dem Freistoß-Pfiff Obasi bereits alleine auf das Hamburger Tor zu und verwertete problemlos.

Der HSV war dermaßen überfordert, dass Coach Martin Jol nur fassungs- und ratlos den Kopf schütteln konnte. Man kam als Tabellenführer zu Hoffenheim und wurde dort verprügelt wie ein Bezirksligist. Als Hoffenheim am 16. Spieltag zu den Bayern fuhr, standen elf Siege, ein Remis und zwei Niederlagen zu Buche. In 15 Partien hatte man 40 Tore erzielt.

Die Bayern

Der amtierende Meister aus München installierte nach dem Abschied des ebenso erfolgreichen wie auch konservativen Ottmar Hitzfeld im Sommer 2008 dessen genaues Gegenteil: Jürgen Klinsmann. Er stellte Buddha-Figuren am Trainingsgelände auf, kam mit vielen ungewöhnlichen Ideen und wollte den Klub schon ein wenig auf links drehen. Er wollte „jeden Spieler besser machen“, wollte aber wohl ein wenig zu viel in zu wenig Zeit und hatte auch personelle Problemchen.

Zum einen, dass Torhüter Oliver Kahn aufgehört hatte. In dessen letzter Saison kassierte er nur 21 Gegentore, neuer Bundesliga-Allzeit-Rekord. Michael Rensing war seit Jahren Kahns Kronprinz, aber die Rolle als Nummer eins war ihm dann deutlich zu groß. Vor allem bei hohen Bällen segelte Rensing regelmäßig vorbei, was die Bayern bei Flanken und Standards ungewöhnlich anfällig machte.

Bayern München - Werder Bremen 2:5 (0:2)
Bayern – Bremen 2:5 (0:2)

Außerdem fehlte Franck Ribery durch eine Verletzung, die er sich bei der EM zugezogen hatte, bis Ende September. Weil es sonst keinen Spieler für die linke Seite gab, stellte er das System auf 3-5-2 um und ließ Philipp Lahm die Außenbahn alleine beackern. Die Dreierkette kassierte ein Tor von Hertha BSC, und je keines beim späteren Absteiger Köln und in der Champions League gegen ein unsagbar schwaches Team von Steaua Bukarest – ehe das Spiel gegen Werder Bremen kam.

Werder deckte die Probleme in der Raumaufteilung schonungslos auf und führte zur Pause schon 2:0, ehe Klinsmann umstellte. Hinten spielte dann eine Viererkette, davor drei zentrale Mittelfeld-Leute, einer rechts und gar keiner mehr links. Die Folge: Noch drei Gegentore bis zur 67. Minute. Und das, obwohl Bremen personell so dünn besetzt war, dass Strafraum-Riegel Sebastian Prödl den Rechtsverteidiger geben musste – und das gar nicht mal so gut machte.

Als Ribery zurückkam, stabilisierte sich das Bayern-Spiel in den Wochen nach dem 2:5-Desaster gegen Bremen und dem folgenden 0:1 in Hannover, aber inhaltlich waren die Bayern kein Enigma. Van Bommel gab in einem 4-4-2 (das danach beständig gespielt wurde) die Schaltzentrale im Zentrum, es wurde mal geschaut, was rechts geht (über Schweinsteiger oder Altintop mit Lell oder Oddo), es wurde mal geschaut, was links geht (über Lahm und Ribery), mit Zé Roberto als kurzer Anspielstation. Vorne war Luca Toni der Fokuspunkt für lange Bälle, er und Klose sorgten mit ihrer individuellen Klasse für Tore.

„Revolutionär“ ist anders, Klinsmann hatte auch keinen Löw mehr zur Seite, aber bis zum Hoffenheim-Spiel wurden 22 von 24 möglichen Punkten geholt und die Champions-League-Gruppenphase gegen Lyon, die Fiorentina und eben Steaua Bukarest überstanden.

Das Gipfeltreffen

„Wir fahren nicht nach München, um uns nur die Bayern-Trikots abzuholen. Wir wollen ihren Skalp“, hatte Rangnick im Vorfeld der Partie gesagt. Schon Wochen vorher begann der mediale Aufbau für das zu erwartende Spitzenduell der beiden dominierenden Klubs in diesem Herbst 2008, Rangnicks beinahe legendäre PK zwei Tage vor dem Spiel – aus dem auch das Zitat vom Anfang dieses Artikels stammt – taten ihr übriges. „Die Bayern-Fans sind bisher nicht damit aufgefallen, ihr Team bedinungslos zu unterstützen, die wollen unterhalten werden“, hatte Rangnick da auch gesagt. Wie auch: „Vielleicht spielen wir in München sogar mit vier Stürmern. Oder wir fangen mit 12 oder gar 13 Leuten an und hoffen, dass es keiner merkt!“

Ein Aufsteiger, der vor dem Gang in die Allianz Arena die Abteilung Attacke fährt – das war neu. Das Stadion war mit 69.000 Zusehern natürlich voll, die Bayern hätten das dreifache an Tickets verkaufen können. Die, die da waren, sahen ein aufregenden und ungemein temporeiches Spiel.

Erste Halbzeit

Bayern München - 1899 Hoffenheim 2:1 (0:0)
Bayern – Hoffenheim 2:1 (0:0)

Hoffenheim hatte ganz offensichtlich Ribery als Haupt-Gefahrenherd ausgemacht, denn Rangnick änderte die Taktik auf dessen Seite ein wenig: Nicht der Außenverteidiger – in diesem Falle Lahm – wurde von Ba und Weis gedoppelt, sondern Ribery von Beck und Weis, sobald der Franzose den Ball hatte. So versuchte man, ihn aus dem Spiel zu isolieren. Das gelang Beck und Weis über weite Strecken auch ganz gut: Ribery war viel unterwegs und hatte auch oft den Ball, konnte aber wenig echte Wirkung entfalten.

Die Gäste hatten Mühe, ihren Dreier-Riegel zwischen den Münchner Reihen aufzuziehen, so gelang das Lenken des gegnerischen Spielaufbaus nicht wie gewohnt. Dafür wurde Van Bommel umso härter an die Kandarre genommen: Dass der Holländer zuweilien zu gewissen Lässikgeiten neigt und nicht der Schnellste ist, war kein Geheimnis, und so wurde Van Bommel immer wieder schon während seiner Ballannahme angegangen. Dreimal alleine in der ersten Halbzeit luchsten ihm im toten Winkel heranbrausende Hoffenheimer den Ball ab. Erwartbare Folge: Schnelles Umschalten.

Das große Glück der Bayern war, dass Lúcio ein grandioses Spiel zeigte. Der Brasilianer antizipierte hervorragend und rückte zeitgerecht aus der Viererkette heraus, um die heranstürmenden Gegner zu stellen oder Passwege geschickt zuzustellen.

Nach vorne brachten die Münchner sehr wenig zu Stande. Ribery wurde gedoppelt, Schweinsteiger versteckte sich nach Kräften, Van Bommel bekam wenig Zeit und die Flanken von Massimo Oddo waren schlecht. Schon von vornherein verlegten sich die Bayern, um dem Pressing und dem Doppeln zu entgehen, auf lange Bälle auf Luca Toni. Dieser war bei Matthias Jaissle allerdings in guten Händen. In den ersten 45 Minuten hatten die Bayern nur eine einzige ernsthafte Torchance.

Hoffenheim hat Bayern am Nasenring

Kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit ging Hoffenheim, natürlich als Folge eines schnellen Vertikal-Spielzuges, nach einem Doppelpass von Ibisevic mit Weis mit 1:0 in Führung – das bereits 18. Saisontor von Ibisevic am 16. Spieltag. Die Gäste merkten, dass die Bayern wankten und versuchten nachzusetzen: Die Abwehr schob bis in die gegnerische Hälfte hinein, die Pressingwege wurden somit kürzer und damit auch die Phasen bayerischen Ballbesitzes.

Der kecke Aufsteiger hatte die Bayern am Nasenring, weitere Chancen folgten – nach einer Stunde führte Hoffenheim in der Torschuss-Statistik mit 13:4. Die Führung war hochverdient und die Bayern ratlos. Ehe in Minute 60 etwas passierte, mit dem das Gäste-Mittelfeld – im speziellen Tobias Weis – nicht rechnete: Philipp Lahm setzte zu Solo an und zog dabei nach innen. Dort war viel Platz, Weis erkannte die Situation zu spät, löste sich nicht rechtzeitig von Ribery um Lahm zu stellen. Jaissler versuchte zu retten, was zu retten war, aber Lahm zog ab, der Ball wurde von Compper abgefälscht,und landete zum 1:1 im Netz.

Luft aus

Auch in der Folge war Lahm immer mehr die bestimmende Figur auf dem Platz, weil er immer mehr realisierte, welche Freiräume sich im boten. Umso mehr, als den Hoffenheimern nach dem 1:1 zunehmend die Luft ausging. Die intensive Spielweise forderte ihren Tribut und die zweite Luft der Bayern ebenso. Die Abwehr-Kette stand nun sehr tief und die Außenverteidiger rückten kaum noch auf, andererseits franzten die Laufwege der drei Stürmer immer mehr aus.

Van Bommel und Zé Roberto kontrollierten damit trotz numerischer Unterlegenheit im Zentrum das Mittelfeld und sie konnten vor allem Luca Toni immer mehr in Szene setzen. „Jaissle war bei Toni“ sollte aber ein immer wiederkehrender Satz von Sky-Kommentator Marcel Reif werden.

Als Rangnick in Minute 74 den angeschlagenen Obasi runternahm und Salihovic brachte – dieser war etwas überraschend nicht in der Start-Elf gestanden, weil Rangnick auf den defensiv stärkeren Weis gegen Ribery setzte – rückte Carlos Eduardo in die Sturm-Reihe auf. Statt aber den Freistoß-Experten Salihovic selbst ins Spiel einbinden zu können, häuften sich selbige für die Bayern. Ohne nennenswertes Ergebnis aber. So plätscherte das Spiel, gezeichnet von immer mehr schwindenden Kräften, einem 1:1 entgegen.

Ehe Ibertsberger in der Nachspielzeit ein Lapsus unterlief. Rensing hatte in der 92. Minute den Ball nach vorne geschlagen und Zé Roberto die Kugel in den Lauf von Klose verlängert. Ibertsberger will dem einschussbereiten Klose den Ball wegspitzeln, legt ihn dabei aber genau Toni vor – der drückt ab, das 2:1. Die Matchuhr zeigte 90′ +1:23.

Kreuzband und Erfolgsserie riss

Hoffenheim hatte das Spitzenspiel mit 1:2 verloren, die Bayern zogen an Punkten gleich. Eine Woche später sicherte sich der Aufsteiger dennoch den Herbstmeistertitel. Am 14. Jänner aber musste man einen schweren Schlag hinnehmen: Vedad Ibisevic zog sich in einem Testspiel einen Kreuzbandriss zu, fiel für die restliche Saison aus.

Man holte Boubacar Sanogo aus Bremen als Ersatz, aber in der kurzen Zeit fand er nie ins System. Dazu kam etwas Unruhe in den Kader, weil im Winter auch Torhüter Timo Hildebrand verpflichtet wurde, obwohl Daniel Haas eine an sich recht ansprechende Herbstsaison gespielt hatte – in der er Aufstiegs-Goalie Ramazan Özcan verdrängte. Die Egos wuchsen, die Qualität des Zusammenspiels sank. Nicht alle aus der blutjungen Rasselbande schafften es, sich den Erfolg aus dem Herbst nicht zu Kopf steigen zu lassen.

Das erste Rückrundenspiel am 31. Jänner gegen Cottbus wurde 2:0 gewonnen, aber der Spielfluss, die Leichtigkeit und auch die Selbstverständlichkeit aus dem Herbst waren verfolgen. Auch der Umzug ins nun vollendete eigene Stadion bewirkte keinen Schub. Im Gegenteil: Im kompletten Februar, dem kompletten März und dem kompletten April wurde nicht ein einziges Spiel gewonnen. Sieben Remis, fünf Niederlagen, Letzter in der Rückrundentabelle zu diesem Zeitpunkt.

Die Saison endete zwar dank 10 Punkten aus den letzten vier Spielen mit einem Aufwärtstrend, aber dennoch wurde man der erste Herbstmeister der Bundesliga-Geschichte, der am Ende nicht einmal einen Europacup-Platz belegte. Meister wurden die Bayern allerdings auch nicht: Wolfsburg schoss sich mit Dzeko, Grafite und Misimovic zum Titel und Klinsmann wurde noch vor Saisonende entlassen.

Durchhaus

Nie wieder konnte Hoffenheim an die Erfolge des ersten halben Bundesliga-Jahres der Klubgeschichte anschließen. Statt das von A bis Z durchgeplante Konzept weiter zu verfolgen, regierten bald Chaos und Planlosigkeit, ständig wechselnde Trainer und Funktionäre und dadurch ein sinnlos aufgeblähter und maßlos überteuerter Kader.

Genau zwei Jahr nach dem Herbstmeister-Titel sah Rangnick die Felle davonschwimmen – und auch seine vereinsinterne Macht. Die heile Welt bekam schon im Sommer 2010 Risse, als Manager Jan Schindelmeiser die Brocken hinwarf – er und Rangnick waren nicht die besten Freunde. Im Winter 2010/11 wurde dann Sechser Luiz Gustavo gegen Rangnicks Willen zu den Bayern verkauft. Reibereien auch mit Hopp kamen an die Öffentlichkeit, Rangnick trat in der Winterpause zurück und sein Assistent Marco Pezzaiuoli brachte eine mäßige Saison auf einem eher anonymen Mittelfeld-Platz zu Ende – trotz eines interessanten Konzepts.

Auf Pezzaiuoli folgte Holger Stanislawski, ein halbes Jahr später Markus Babbel. Elf Monate später wurde Babbel auf einem Abstiegsplatz liegend entlassen, sein Nachfolger Marco Kurz legte in der Folge einen beträchtlichen Abstand zwischen Hoffenheim und dem Relegationsplatz – allerdings von der falschen Seite. Auch auf dem Manager-Posten wurde Hoffenheim zum Durchhaus: Nach Schindelmeister-Nachfolger Tanner übernahm Trainer Babbel in Personal-Union, ehe Andreas Müller kam und dann auch dieser wieder entlassen wurde.

Erst, als Markus Gisdol im April 2013 das Traineramt übernahm und via Relegation die Klasse hielt und Alexander Rosen als leitender Funktionär im Tagesgeschäft eingesetzt wurde, kehrte wieder Ruhe ein.

Erbe

Hoffenheim ist mittlerweile so ein wenig die graue Maus der Liga und längst nicht mehr der Aufreger, der man im Herbst 2008 vor allem durch die Abhängigkeit von Dietmar Hopp war. Der Durchmarsch unter Rangnick von der dritten Liga zum Bundesliga-Herbstmeister legte aber die endgültige Rutsche für das, was in der Folgezeit eher patschert als „Konzepttrainer“ bezeichnet wurde.

Trainer, die keine großen Spieler waren, aber sich umso mehr mit alternativen Trainingsinhalten und zielgerichteter Lenkung des Spiels beschäftigten, kamen immer mehr in Mode. Jürgen Klopp hatte sich schon einen Namen gemacht, aber etwa ein Thomas Tuchel, Markus Weinzierl, Christian Streich, ein Roger Schmidt oder eben Markus Gisdol profitierten fraglos.

Nur Hoffenheim selbst profitierte irgendwie nicht so recht. Bis heute konnte sich der Klub noch nie für den Europacup qualifizieren.

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Ballverliebt Classics – 25 Jahre DDR-Mauerfall: Die Wende, das Ende https://ballverliebt.eu/2014/11/12/die-wende-das-ende-ddr-mauerfall/ https://ballverliebt.eu/2014/11/12/die-wende-das-ende-ddr-mauerfall/#comments Wed, 12 Nov 2014 01:47:49 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=10639 Ballverliebt Classics – 25 Jahre DDR-Mauerfall: Die Wende, das Ende weiterlesen ]]> Nach 78 Minuten wurde Matthias Sammer ausgewechselt. Enttäuscht vom aussichtslosen Spielstand von 0:3 ließ er sich auf einer Erste-Hilfe-Box nieder. Innerhalb von Sekunden saß ein Mann mit Fotographen-Leibchen neben ihm. „Sach ma, willste nich zu Bayer Leverkusen kommen?“ Es war kein Fotograph, sondern ein als solcher getarnter Scout des Bundesligisten, eingeschleust von Bayer-Manager Reiner Calmund. Alle anderen Beobachter der westdeutschen Vereine saßen derweil auf der Tribüne und waren damit schon im Hintertreffen.

Diese Szene, die Calmund und Sammer kürzlich in einer Sky-Doku bestätigten, zeigt nur, unter welch ungewöhnlichen Umständen das letzte Qualifikation-Spiel der DDR zur WM 1990 im Wiener Prater ablief, sechs Tage, nachdem die Mauer gefallen war. Das 0:3 sollte das letzte Pflichtspiel der Verbandsgeschichte werden. Es ist 25 Jahre her.

Österreich - DDR 3:0 (2:0)
Österreich – DDR 3:0 (2:0)

Dass die Auswahl der DDR eine echte Erfolgsgeschichte war, könnte man – dem Olympiasieg von 1976 zum Trotz – nicht behaupten. Außerhalb der SED-Diktatur war das Team eigentlich allen ziemlich egal und im Land des „real existierenden Sozialismus“ musste das Team schon alleine aus Propaganda-Zwecken so viel Staatsnähe wie möglich demonstrieren. Genau das ließ die Popularität aber sinken. Die DFV-Elf war für die eigenen Fans ein Symbol jenes Staates, der Menschen erschoss, die raus wollten.

Im Mai 1989, als sich die Bevölkerung immer mehr gegen Honecker und Co. aufzulehnen begann, blieben im Leipziger Zentralstadion drei Viertel der Zuschauerplätze beim 1:1 gegen Österreich leer. Und das hatte eben nicht vordergründig damit zu tun, dass die Mannen von Trainer Manfred Zapf fünf der letzten sechs Spiele nicht gewonnen hatte und damit die Chance auf eine WM-Teilnahme fast schon verspielt war.

Auferstanden aus Ruinen…

Schon zu ihren Klubs-Teams hatten die Ostdeutschen zuweilen ein eher ambivalentes Verhältnis, schließlich waren das zumeist keine Vereine im eigentlich Sinn, sondern Betriebssport-Gemeinschaften. Dynamo-Teams waren dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt, Lokomotive der Eisenbahn, Vorwärts dem Militär, usw. – und selbst die zehn „Fußballclub“ (darunter etwa RW Erfurt und der FC Magdeburg) unterstanden staatlicher Lenkung.

WM-Vorrunde 1974: BRD-DDR 0:1 (0:0)
WM-Vorrunde ’74: BRD-DDR 0:1

Wirklich schwer fiel es den Fans aber, Wärme zu ihrem Nationalteam aufzubauen. Einerseits freute man sich zwar, den westlichen Nachbarn im einzigen Aufeinandertreffen bei der WM 1974 mit 1:0 besiegt zu haben. Andererseits aber bildete sich schnell Neid gegenüber den Spielern, denen plötzlich Privilegien nachgesagt wurden, die dem Normalmenschen schon qua System nie zugänglich waren. Siegtorschütze Jürgen Sparwasser etwa sollte sich ob der vielen Anfeindungen bald wünschen, das Tor nie geschossen zu haben.

Aber in der Folge trieb eben auch der ausbleibende Erfolg die Fans nicht gerade in die Arme der Nationalmannschaft. WM- und EM-Endrunden wurden in schöner Regelmäßigkeit verpasst. Anders sah es auch im Herbst 1988 nicht aus, als es nach einem 2:0-Pflichheimsieg gegen Island eine 1:3-Schlappe in der Türkei gab und Teamchef Bernd Stange, ein strammer Sozialist und Stasi-Helfer, gehen musste. Statt ihm kam Manfred Zapf, ebenso strammer Sozialist, aber ein nicht annähernd so guter Trainer.

…und der Zukunft zugewandt…

DDR - Österreich 1:1 (0:1)
DDR – Österreich 1:1 (0:1)

Unter ihm gab’s ein 0:2 daheim gegen die Türken und ein 0:3 in Kiew gegen die UdSSR. Vor einem spärlichen und weitgehend apathischen Publikum in Leipzig geriet man dann auch gegen Österreich früh durch ein Polster-Tor in Rückstand und blieb trotz eines erschreckend blutleeren Auftritts nur deshalb am Leben, weil sich das ÖFB-Team früh auf Verwalten verlegte. Fünf Minuten vor Schluss besorgte ein Glücksschuss von Ulf Kirsten aus der Drehung nach einem Einwurf das 1:1.

Dennoch: Mit einer Bilanz von einem Sieg und einem Remis, dafür drei Niederlagen (darunter beide Spiele gegen Topf-5-Team Türkei) schien die WM-Qualifikation in weite Ferne gerückt. Zapf wurde entlassen und Eduard Geyer sollte retten, was zu retten war. Er hatte als Dresden-Coach gerade die Serie von zehn Titeln in Folge von Stasi-Boss Mielkes Lieblingsklub BFC Dynamo gebrochen und fügte sich mit einem 3:0 in Island ein, ehe gegen EM-Finalist Sowjetunion durch Tore von Andreas Thom (81.) und Matthias Sammer (83.) aus einem 0:1-Rückstand ein 2:1-Sieg wurde. Angesichts der 0:3-Ohrfeige, die sich Österreich in der Türkei abholte, hatte man vorm letzten Spiel in Wien plötzlich alles in eigener Hand.

Ehe der 9. November 1989 kam.

…lasst uns dir zum Guten dienen: Deutschland, einig Vaterland…

SED-Politbüro-Mitglied Günther Schabowski sollte an diesem Donnerstag Nachmittag – fünf Tage, nachdem über eine Million Menschen am Alexanderplatz gegen das Regime demonstriert hatte – der Presse verkünden: Man darf man ohne besonderen Anlass ausreisen. Und zwar ab dem nächsten Tag, dem 10. November. Diese letzte, nicht ganz unwichtige Passage, hatte Schabowski überlesen. So stotterte auf die Frage, ab wann denn der Passus in Kraft tritt etwas unbeholfen: „Das tritt… nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich!“

Prompt stürmten die Ostberliner die Mauer und überranten sie. Das Symbol der Teilung hatte seine Wirkung verloren.

Das DDR-Team befand sich zu diesem Zeitpunkt im Trainingslager vor dem Österreich-Match und allen war klar: Das kann für die eigene Karriere ebenso eine Wende sein. Genauso wie die Klubs in der Bundesliga sofort ihre Augen auf das Reservoir an DDR-Spielern warf. Vor allem Stratege Matthias Sammer (22) und Vollstrecker Ulf Kirsten (23) von Meister Dynamo Dresden und das Sturmduo von BFC Dynamo mit Andreas Thom (24) und Thomas Doll (23) standen auf den Wunschlisten ganz weit oben, auch dem 21-jährigen Mittelfeld-Motor Rico Steinmann aus Karl-Marx-Stadt (nach der Wende wieder Chemnitz) wurde Bundesliga-Potenzial beschieden.

Man bereitete sich auf das Match vor. „Aber wir hatten überhaupt keinen Fokus auf dieses Spiel“, gestand Sammer später.

gruppe 3

Der Gruppensieger und der Zweite qualifizierten sich für die WM in Italien, parallel zum Spiel Österreich-DDR empfing die Sowjetunion die Türkei. Bei einem Punktverlust der Türken war die Tür für die Konkurrenten weit offen. Weil sich aber auch die UdSSR-Kicker nicht sicher sein konnten, womöglich bei einem hohen Sieg der um Aufmerksamkeit im Westen suchenden DDR-Spieler gar noch auf Rang drei zu fallen, war auch bei Michailitschenko und Co. Vorsicht angesagt.

Bei Österreich fehlten vom Stammpersonal Kurt Russ – der rechte Flügelspieler war gesperrt – sowie Libero Heribert Weber und Spielmacher Andi Herzog. Die beiden waren gerade von einem Virus genesen, Teamchef Hickersberger traute ihnen nicht die vollen 90 Minuten zu. Vor allem, weil Österreich gewinnen MUSSTE und entsprechend Vollgas gefordert war. Herzog setzte sich ohne zu Murren auf die Bank, Weber mockte. Das letzte Riss im Tischtuch zwischen Hickersberger und seinem Kapitän. Weber fühlte sich schon länger respektlos behandelt, Hickersberger fand, dass sich Weber zu viel herausnahm.

…alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint…

Österreich - DDR 3:0 (2:0)
Österreich – DDR 3:0 (2:0)

In schnelle Not gerieten aber die Ostdeutschen in Wien. Nach einer halben Minute wurde Döschner zum ersten Rückpass zu Goalie Heyne gezwungen, nach einer Minute feuerte der zum Kapitän aufgerückte Zsak einen Weitschuss ab, und nach anderthalb Minuten versetzte Polster erstmals seinen Bewacher Lindner und schoss zum 1:0 ein.

Die fehlende Schärfe beim DDR-Team wurde schnell deutlich und noch verstärkt durch das extrem aggressive Auftreten des österreichischen Teams. Mit der unverhofften WM-Chance nach einer doch recht mäßigen Qualifikation vor Augen, war keine Spur mehr von der Lethargie vom 0:0 in Island zu sehen, von der Selbstzufriedenheit beim 1:1 in Leipzig, von der Verkrampftheit des mühsamen 2:1 über Island in Salzburg oder der kopflosen Aufgescheuchtheit vom 0:3 in Istanbul.

Weil Kirsten und Thom bei den Manndeckern Pfeffer und Pecl abgemeldet waren, war das kreative DDR-Duo Sammer/Steinmann gezwungen, die Bälle länger zu halten, um Optionen zu checken – dabei wurden sie von Zsak und Keglevits aber stets extrem schnell unter Druck gesetzt. Die deutschen Flügelspieler Kreer und Döschner kamen ebenso kaum zum Zug, vor allem der Admiraner Peter Artner degradierte den routinierten Döschner zum Statisten.

Nach den so provozierten Ballverlusten im Mittelfeld schaltete Österreich immer schnell um, suchte den bemühten Linzmaier oder vor allem den extrem schnellen Andi Ogris und natürlich Toni Polster. Der war in der WM-Quali zum Feinbild der Fans geworden, weil er zwar für Sevilla in der Primera Division Tore am Fließband erzielte, im Team aber oft einen lustlosen Eindruck machte. Der aber auch dadurch entstanden war, dass Österreich oft sehr vorsichtig und destruktiv auftrat, Stramraum-Stürmer Polster seine Stärken somit selten ausspielen konnte.

…denn es muss uns doch gelingen…

Die DDR konnte sich aus der Umklammerung kaum befreien, weil Österreich im Mittelfeld nach der Führung nichts an Konsequenz nachließ, anders als die defensive Ordnung bei den Deutschen. Das nützte nach 21 Minuten Christian Keglevits (der Offensiv-Allrounder wurde als Kampfschwein ins defensive Mittelfeld gestellt) durchbrach und einen Lufthauch von DDR-Libero Stahmann spürte. Keglevits ging zu Boden. Eine Schwalbe, aber der 40-jährige Pole Pjotr Werner, der das Spiel leitete, fiel darauf herein. Toni Polster verwandelte den Elfmeter sicher zum 2:0.

Die letzte Chance, ins Spiel zurückzukommen, bot sich den Gästen wenige Minuten später. Ernst Aigner, der auf der Libero-Position statt Heribert Weber spielte, legte an der Strafraumgrenze Andreas Thom, Referee Werner deutete erneut auf den Punkt und Rico Steinmann legte sich den Ball zurecht. Er lief an, zielte in die aus seiner Sicht linke Ecke.

Und Klaus Lindenberger klärte den Ball am Pfosten vorbei.

…dass die Sonne schön wie nie…

„Diese ganzen Ereignisse in unserem Land sind nicht spurlos an der Mannschaft vorbeigegangen. Es wurde viel diskutiert über Verträge, über Transfers, über eventuell Profifußball…“ DDR-Teamchef Geyer beklagte sich zwar auch über den geschenkten Elfmeter zum 0:2, aber er wusste auch, dass der Referee aus Polen nicht die Schuld daran trug, dass das Spiel schon in der ersten halben Stunde komplett den Bach runter gegangen war, während die Zukunft einiger seiner talentierteren Spieler in einem sehr hellen Licht sein sollte.

Für die meisten der Spieler, die an diesem 15. November 1989 in Wien das DDR-Trikot trugen, erfüllten sich diese Hoffnungen aber nicht. Das Team hatte ein Durchschnitts-Alter von 27,7 Jahren und von den Objekte der West-Begierde (Sammer, Kirsten, Thom, Doll und Steinmann) hatte noch keiner den 25. Geburtstag hinter sich. Die Routiniers, die fünf Ü-30-Kicker, blieben auf der Strecke.

Atze Döschner, der von Artner entnervt noch vor der Pause ausgewechselt wurde, spielte noch ein Jahr bei Fortuna Köln in der 2. Liga, ehe eine Knieverletzung seine Karriere 1991 beendete. Manndecker Lindner, den Polster wie einen Schulbuben aussehen ließ, spielte mit Leipzig noch ein Jahr Bundesliga, in der er (neben Libero Dieter Hecking) sportliche Prügel bezog. Keeper Heyne war noch drei Jahre die Nummer zwei in Mönchengladbach. Jörg Stübner brachte es auf fünf Bundesliga-Einsätze für Dresden. Libero Stahmann blieb Magdeburg treu und ging mit dem Klub in die Bedeutungslosigkeit des Amateur-Fußballs. Kapitän Kreer beendete seine Karriere nach einem Zweitliga-Jahr mit Leipzig.

Lediglich Manndecker Schößler (vier Jahre Stamm in Dresden) und Joker Uwe Weidemann (lange Jahre unverzichtbar beim MSV Duisburg) brachten es noch auf respektable Bundesliga-Karrieren.

…über Deutschland scheint…

Zweite Hälfte
Zweite Hälfte

Geyer brachte beim Spiel in Wien schon vor der Pause Thomas Doll statt Döschner, als die 51.000 Österreicher im Praterstadion die elf Spieler und die 4.000 mitgereisten Fans des DDR-Teams schon mit „Auf Wiedersehen“-Rufen bedachten.

Doll kam in der Folge über die rechte Angrifsseite (Kreer wechselte nach links), seine Wirkung blieb aber überschaubar. Was vor allem an der Hektik lag, mit der sein Team nach dem Seitenwechsel spielte. Viel zu überhastet gespielt versandeten die meisten Angriffe schon früh, während die Österreicher bemüht waren, das Tempo etwas herauszunehmen und vereinzelte Nadelstiche zu setzen. Wie in der 56. Minute, als Polster alleine auf Heyne zulief und dieser noch retten konnte.

Und wie fünf Minuten später, als Keglevits einen schnellen Konter in den Rücken des aufgerückten DDR-Mittelfelds anzog, Ogris vor Polster kreuzte und Keglevits den Ball zu Polster chipte. Dieser konnte die Kugel in aller Ruhe annehmen, narrte einmal mehr Lindner und sein platzierter Schuss landete zum 3:0 im Tor. Die endgültige Entscheidung in diesem Spiel, in dem zehn Minuten später Ronald Kreer nach einer Tätlichkeit an Ogris Rot sah. Die Verzweiflung und die Enttäuschung war ihm in den beinahe zwei Minuten, die er für seinen Abgang brauchte, anzusehen.

Die Augen der österreichischen Beobachter hatten sich da aber schon längst nach Simferopol gerichtet, wo sich die UdSSR gegen die Türkei schwer tat, Keeper Dassajev einmal sogar in höchster Not retten hatte müssen.

Beinahe süß, wie ORF-Kommentator Kuhn und der neben ihm auf der Tribüne sitzende Sigi Bergmann gut hörbar über das offene Mikro debattieren, ob es denn nun tatsächlich stimmte, dass die Sowjets das erlösende 1:0 schossen. Richtig putzig sogar, wie nach der Bestätigung Kuhn erklärt: „Regisseur Lucky Schmidleitner sagt, ich solle mich nicht so aufregen. Schließlich kann es ja immer noch sein, dass die Türkei das Spiel noch dreht!“

Sie drehten es nicht mehr, im Gegenteil. Die UdSSR gewann 2:0 und blieb Erster, Österreich siegte mit 3:0 und hüpfte von Platz vier auf Rang zwei und hatte sich für die WM-Endrunde qualifiziert.

…über Deutschland scheint!

Kaum eine Woche nach dem 0:3 in Wien hatte Leverkusen-Manager Calmund bereits Andreas Thom geködert, drei Wochen später war der erste reguläre Transfer nach der Wende von Ost nach West in Sack und Tüten. Bayer war sich wenig später auch mit Sammer und Kirsten einig, ehe die BRD-Regierung intervenierte und mahnte, es sollte nicht nur ein Klub, noch dazu unterstützt von einem Riesen-Werk wie Bayer, alle guten DDR-Kicker abgreifen. So kam im Sommer 1990 „nur“ Kirsten, Sammer ging zu Stuttgart.

Noch fünf weitere DDR-Spieler wechselten vor der Saison 90/91 in die Bundesliga (Rohde, Milde, Hain, Ernst und Binke), sieben in die 2. Liga. Für die Qualifikation zur EM 1992 wurden im Februar die BRD und die DDR in die selbe Gruppe gelost, obwohl die Wiedervereinigung Deutschlands längst nur noch eine Frage der Zeit war. Das erste geplante Quali-Spiel gegen Belgien fand noch als Freundschaftsspiel statt, die DDR siegte durch zwei Sammer-Tore mit 2:0.

Exakt drei Wochen später, am 3. Oktober 1990, hörte die DDR zu existieren auf. Die Wende in Deutschland war das Ende für die ungeliebte DFV-Auswahl. Am 19. Dezember 1990 debütierten Matthias Sammer und Andreas Thom für die gesamtdeutsche Nationalmannschaft. Beim 4:0 über die Schweiz erzielte Thom das 3:0.

Wenn wir brüderlich uns einen…

Die von Franz Beckenbauer nach dem WM-Titel 1990 angekündigte jahrzehntelange Unschlagbarkeit des geeinten Deutschland blieb zwar aus. Aber immerhin drei in der DDR geborene Spieler wurde 1996 Europameister (Sammer, Freund und René Schneider), sieben waren 2002 im Kader, der das WM-Finale erreichte (Ballack, Jeremies, Bernd Schneider, Jancker, Böhme, Linke und Rehmer). Von der guten und straff organisierten Jugendarbeit der DDR profitierte Deutschland.

DDR 2014Doch mit dem Niedergang der Ost-Klubs schwand auch die Zahl der guten Ost-Kicker. Mit Toni Kroos wurde nur ein einziger 2014er-Weltmeister im Gebiet der ehemaligen DDR geboren, und möchte man ein aktuelles Team von Spielern aus den neuen Bundesländern zusammen stellen, bekommt man mit den bei den 18 Bundesligisten unter Vertrag stehenden Akteuren nicht mal eines zusammen.

Dass kaum ein Klub aus der DDR den Umstieg in den Kapitalismus raus aus der geschützten Werkstätte des Systems geschafft hat, ohne zumindest einmal in einen Konkurs zu krachen, ist gut dokumentiert. Mit Union Berlin und Erzgebirge Aue (damals Wismut Aue) sind zwei Fahrstuhlklubs von damals aktuell in der 2. Liga, während sich die bestimmenden Klubs von einst – BFC Dynamo, Dresden, Magdeburg, Chemnitz, Jena, Cottbus am Ende auch der letzte Meister Rostock – auf die dritte und vierte Liga verteilen. Der aktuell und auf Sicht beste Klub am ehemaligen Staatsgebiet der DDR ist RB Leipzig.

Den gab’s zu DDR-Zeiten noch nicht.

…lasst das Licht des Friedens scheinen

Der Umsturz in der DDR war der plakativste, aber nicht der einzige im Jahr 1989 und zwei Jahre später schaffte sich dann auch die UdSSR ab. Vorbei waren damit die Zeiten, in denen WM- und EM-Qualis schön übersichtlich waren, man zum Teil mit hübschen, kleinen Vierergruppen sein Auslangen fand.

wm quali 1990

Denn mit der Wiedervereinigung fiel zwar ein Land weg, dafür zersplitterte die UdSSR und mittlerweile nehmen elf ehemalige Sowjet-Republiken an UEFA-Qualifikationen teil, aus der Tschechoslowakei wurden 1993 zwei Staaten und aus dem einen jugoslawischen Team sind bis heute sechs Nationalmannschaften geworden. Während die Gesamtzahl an europäischen Teilnehmern pro WM in etwa gleich geblieben ist.


ÖFB-Teamchef Hickersberger war im Triumph nüchtern, sagte, man habe die Qualifikation auch dem Glück zu verdanken, eine ausgeglichene (was er nicht sagte: ausgeglichen schwachen) Gruppe erwischt zu haben, in der sich die Teams fleißig gegenseitig die Punkte wegnahmen. „Wir hatten jetzt Erfolg, aber von echter Klasse sind wir noch weit entfernt“, gab Hickersberger zu Protokoll. Das junge Team – Durchschnittsalter nur 25,4 Jahre – schied in Italien nach 0:1-Niederlagen gegen Italien und die Tschechoslowakei sowie einem 2:1-Sieg über die USA als Gruppendritter nach der Vorrunde aus. Elf Monate nach dem Triumph über die DDR passierte Landskrona.

Und von den elf Versuchen seither, sich auf sportlichem Weg für WM- oder EM-Endrunden zu qualifizieren, scheiterten zehn.

Das Personal

Akteure von Österreich: Klaus Lindenberger (32 Jahre, FC Tirol, bis dahin 31 Länderspiele); Ernst Aigner (23, Austria, 2); Robert Pecl (24, Rapid, 13), Toni Pfeffer (24, Austria, 17); Peter Artner (24, Admira, 15), Christian Keglevits (28, Rapid, 10), Manfred Zsak (24, Austria, 24, Kapitän), Alfred Hörtnagl (24, FC Tirol, 5); Manfred Linzmaier (27, FC Tirol, 14); Andi Ogris (25, Austria, 22), Toni Polster (25, Sevilla, 31). Eingewechselt: Andi Herzog (21, Rapid, 12), Heimo Pfeifenberger (22, Rapid, 1). Teamchef: Josef Hickersberger (41, seit knapp zwei Jahren).

Akteure der DDR: Dirk Heyne (32 Jahre, FC Magdeburg, bis dahin 5 Länderspiele); Dirk Stahmann (31, FC Magdeburg, 44); Detlef Schößler (26, Dynamo Dredsen, 16), Matthias Lindner (33, Lok Leipzig, 20); Ronald Kreer (29, Lok Leipzig, 64, Kapitän), Jörg Stübner (33, Dynamo Dresden, 43), Matthias Sammer (22, Dynamo Dresden, 17), Rico Steinmann (21, FC Karl-Marx-Stadt, 17), Matthias Döschner (31, Dynamo Dresden, 39); Ulf Kirsten (23, Dynamo Dresden, 43), Andreas Thom (24, BFC Dynamo, 49). Eingewechselt: Thomas Doll (23, BFC Dynamo, 24), Uwe Weidemann (26, Rot-Weiß Erfurt, 9). Teamchef: Eduard Geyer (45, seit drei Monaten).

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Ballverliebt Classics, in memoriam Vujadin Boškov: Die große Sampdoria https://ballverliebt.eu/2014/04/29/ballverliebt-classics-in-memoriam-vujadin-boskov-die-grosse-sampdoria/ https://ballverliebt.eu/2014/04/29/ballverliebt-classics-in-memoriam-vujadin-boskov-die-grosse-sampdoria/#comments Tue, 29 Apr 2014 09:45:25 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=10080 Ballverliebt Classics, in memoriam Vujadin Boškov: Die große Sampdoria weiterlesen ]]>

„Ihr seid Sampdoria. Von jetzt an gibt’s hier nur glattrasierte Gesichter, ordentlich sitzende Kleidung, dafür gibt’s keine Sonnenbrillen mehr. Denn von jetzt an müssen die Leute, die euch sehen, von Sampdoria als einen Klub mit Stil denken!“

– Vujadin Boškov, erste Worte zur Mannschaft nach seiner Verpflichtung

Er war Professor für Geschichte und Geographie. Sprach sieben Sprachen fließend. War als Trainer Meister in Spanien und Italien, führte Jugoslawien zweimal zu großen Turnieren: Vujadin Boškov. Am meisten errinert man sich an ihn wegen seiner Zeit bei Sampdoria Genua zwischen 1986 und 1992. Dort erreichte er drei Europacup-Finali in vier Jahren und gewann den ersten und einzigen Meistertitel dieses Klubs, in einer Zeit, in der die Serie A die mit Abstand beste Liga der Welt war. Boškov ist nun 82-jährig gestorben – darum hier „Ballverliebt Classic“ über jenen Mann, dessen lakonischen Sprüche in Italien noch heute Kultstatus genießen.

Am 16. März 1931 wurde Vujadin Boškov in der Nähe von Novi Sad geboren, nach dem Krieg begann seine fußballerische Karriere beim dortigen Klub FK Vojvodina, dem er praktisch seine gesamte Karriere treu blieb. Titel gewann er gegen die „Großen 4“ des jugoslawischen Fußballs (Roter Stern und Partizan aus Belgrad, Dinamo Zagreb und Hajduk Split) zwar keine, dafür absolvierte der Mittelläufer 57 Länderspiele und eroberte dabei Olympia-Silber 1952 in Helsinki. Nachdem seine Teamkarriere im Alter von erst 28 Jahren beendet war, wechselte Boškov 1960 zu Sampdoria Genua, als es ihm das Tito-Regime erlaubte. Verletzungen ließen aber keine großen Sprünge mehr zu. Ein Jahr später wurde er als Spielertrainer von Young Boys Bern verpflichtet.

„Wenn man alle Trainerbänke, auf denen ich gesessen bin, hintereinander stellen würde – man könnte kilometerweit gehen, ohne den Boden zu berühren!“

Womit die Trainerkarriere des damals 33-Jährigen begann, die ihn schon bald zu seinem Heimatklub Vojvodina Novi Sad zurückführen sollte. Sieben Jahre war er dort Coach und er führte Vojvodina zum historischen ersten Titel 1966, wurde dann 1971 zum jugoslawischen Teamchef bestellt, am Weg zur WM 1974 (die das Team als Achter beenden sollte) aber zugunsten von Roter-Stern-Coach Miljanic ausgebootet. Boškov ging nach Holland, wo er mit ADO Den Haag auf Anhieb Cupsieger wurde. Die Belohnung war ein Engagement bei Feyenoord, ehe es Boškov 1978 aus dem Land des Vize-Weltmeisters nach Spanien zog. Mit Aufsteiger Saragossa hielt er die Klasse.

1979 wechselte Boškov zu Real Madrid, gewann mit den Königlichen sofort das Double und erreichte im Jahr darauf das Meistercup-Finale. 1981 reichte es zu Liga-Platz zwei, 1982 wurde Boškov mit Real Dritter und erneut Cup-Sieger – zu wenig. Nach einem Jahr in Gijón ging Boškov nach Italien, wo er zwar den Abstieg von Ascoli aus der Serie A nicht verhindern konnte, aber direkt wieder aufstieg. Weshalb sich ein ambitionierter Serie-A-Mittelständler seine Dienste sicherte: Die UC Sampdoria aus Genua.

Etwas Großes im Entstehen

Sampdoria gehörte zwar zum Inventar der Serie A, hatte aber nie Titel geholt. Mitte der 70er-Jahre stieg der Klub schließlich ab, ehe sich Paolo Mantovani an die Spitze des Klubs schwang. Der als Lazio-Anhänger großgewordene Römer war während der Energie-Krise im Öl-Business zu Reichtum gekommen. Er investierte in den Klub, der schnell wieder aufstieg und sich anschickte, etwas Großes entstehen zu lassen.

„Man kann nicht vier Tore kassieren gegen ein Team, das nur dreimal in der gegnerischen Hälfte ist“

Vujadin Boškov wurde 1986, also mit 55 Jahren, Trainer bei Sampdoria. Er übernahm den Liga-Elften, führte diesen in seinem ersten Jahr auf Platz sechs und verpasste den UEFA-Cup erst in den Entscheidungsspielen gegen Milan. Im Jahr darauf wurde Sampdoria Vierter und gewann den italienischen Pokal im Finale gegen Torino. Zwei Eigentoren im Rückspiel zum Trotz.

Der Lauf ins erste Europapokal-Finale

Boškov konnte auf einem bestehenden Stamm von äußert talentierten Spielern aufbauen, als er kam – und noch viel mehr, als es 1988/89 in den Europacup der Cupsieger ging. Allen voran das Sturm-Duo mit Roberto Mancini (23) und Gianluca Vialli (23), Libero Luca Pellegrini (25), Manndecker Pietro Vierchowod (29) und Defensiv-Allrounder Fausto Pari (26) bildeten das Grundgerüst des Teams. Dazu kamen mit Torhüter Gianluca Pagliuca (21) und Manndecker Marco Lanna (20) starke junge Kräfte und mit Außenspieler Beppe Dossena (30) und dem brasilianischen Strategen Cerezo (33) routinierte Führungsfiguren. Zudem gelang es Sampdoria, von Barcelona Flügelspieler Victor Muñoz (31) zu verpflichten.

„Große Spieler erkennen Autobahn wo andere nur Trampelpfade sehen.“

Neben großem, aber noch rohem Talent fand Boškov aber auch einen in Cliquen zerklüfteten Klub und es brauchte Zeit, bis alles nach Wunsch zusammen wuchs. Die Truppe hatte viel Mühe, in Runde 1 Norrköping auszuschalten. Nicht anders war es gegen DDR-Cupsieger Jena im Achtel- und vor allem Dinamo Bukarest im Viertelfinale, während man sich in der Serie A auf Kurs in Richtung Platz fünf begab. Im Halbfinale wurde gegen Mechelen aus Belgien eine 1:2-Auswärtsniederlage mit späten Toren (Cerezo 71., Dossena 85., Salsano 88.) gedreht, und nach dem 3:0 stand der Klub erstmals in einem europäischen Finale.

10. Mai 1989 in Bern gegen den FC Barcelona

Gegner im Wankdorf-Stadion von Bern war der FC Barcelona unter Trainer Johan Cruyff, der bei den Katalanen in der Tradition des „Totaalvoetbal“ spielen ließ und als klarer Favorit gegen den italienischen Emporkömmling galt. Dennoch ließ es sich Boškov nicht nehmen, im Vorfeld gegen Barcelona und Cruyff zu sticheln, so die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und den medialen Druck von den Spielern zu nehmen. Nicht unähnlich der Herangehensweise eines José Mourinho heute. „Super Spieler war das, dieser Cruyff. Aber als Trainer hat er ja wohl noch überhaupt nix gewonnen“. Was, angesichts des Cupsieger-Europacups zwei Jahre zuvor mit Ajax schlicht nicht stimmte.

Der Holländer blieb cool. „Klar ist Sampdoria gut. Aber wir treffen auch nicht direkt auf Inter, Milan oder Juventus“, gab er trocken zu Protokoll. Und seine Einschätzung sollte sich schnell bestätigen: Lange Flanke von Rechtsaußen Gary Lineker, Pagliuca berechnet die Flugkurve völlig falsch – am zweiten Pfosten steht Roberto, dieser legt zurück und Mittelstürmer Salinas muss den Ball nur noch über die Linie drücken. Nach nicht mal drei Minuten war Barcelona in Front.

Cupsieger-Finale 1989: Sampdoria - Barcelona 0:2
Cupsieger-Finale 1989: Sampdoria – Barcelona 0:2

Der äußerst rabiate Barça-Linksverteidiger Aloisio hätte nach heutigen Maßstäben zwar schon in der 10. Minute vom Platz fliegen können und in der 15. Minute müssen, aber es waren halt andere Zeiten. Barcelona machte weiterhin Druck, ehe Mitte der ersten Hälfte Sampdoria durch Konzentration auf das Zentrum begann, die Kontrolle über das Spiel zu erlangen – auch weil sich immer ein Stürmer (zumeist eher Mancini) auf die rechte Mittelfeld-Seite begab, wodurch Dossena einrücken konnte.

Aber nicht falsch verstehen: Eine unterhaltsame Mannschaft war Sampdoria ganz und gar nicht. Sie machte es dem neutralen Zuseher sehr schwer, Sympathien zu ihr aufzubauen. 70-Meter-Abschläge von Pagliuca waren keine Seltenheit, Dossena und Victor versuchten viel mit dem Kopf durch die Wand, es gab versteckte Fouls und kleine Gemeinheiten am laufenden Band. Dazu auch teilweise offene Brutalitäten, wie in der 68. Minute, als Salsano mit vollem Anlauf Lineker von der Seite niedergrätschte – und dafür nicht mal Gelb sah. Und vor allem in der zweiten Halbzeit wurde mehrfach plump versucht, durch offensichtliche Schwalben Elfmeter zu schinden.

Nur Cerezo brachte als laufstarker Alleskönnen etwas Kultur ins Spiel von Sampdoria. Nach der Verletzung von Libero Luca Pellegrini – die er sich bei einem Foul AN Beguiristain zuzog – musste der Brasilianer aber zurück in die Abwehr und hatte nur noch begrenzten Einfluss.

Barcelona hingegen ging die Ballführenden oft schon im Aufbau, spätestens aber im Mittelfeld an. Samp hatte viel Ball, aber kaum Torchancen, und als (der für Milla eingewechselte) Paco Soler einen Konter anzog und den (für Beguiristain eingewechselte) Defensiv-Mann López-Rekarte bediente, war in der 80. Minute alles gelaufen: Letzterer lief alleine auf Pagliuca zu und ließ dem jungen Schlussmann keine Chance. Barcelona gewann das Spiel mit 2:0.

Unterhaltung nur von der Bank

Das Entertainment kam bei Sampdoria nicht vom Feld, sondern von der Bank. Die selbstironische und lakonische Art von Boškov ist in Italien heute noch bekannt und geschätzt. „Partita finita quando arbitro fischia“ etwa ist eines jener grammatikalisch nach ganz einwandfreien Statements, die immer noch jeder italienische Fußball-Fans mit dem Serben verbindet – „Spiel vorbei wenn Schiedsrichter pfeift“. Auch auf große Analysen im öffentlichen Rahmen wollte sich Boškov nicht so recht einlassen. „Wer weniger Fehler macht, gewinnt. Wir haben mehr Fehler gemacht, also verloren“, ist ein weitere dieser Sätze, die Boškov gerade in Italien, einem Land, in dem alles und jedes Detail mit blumiger Sprache bis ins Letzte zerredet wird, Furore machte.

Vujadin Boskov beim EC-Finale 1989
Vujadin Boskov beim EC-Finale 1989

Auf dem Feld  bewegte sich der Serbe, wie etwa auch Arrigo Sacchi bei Milan, weg vom in den 80er-Jahren üblichen „Gioco all’Italiano„, mehr hin zu einem symmetrischer besetzten 4-4-2 – allerdings gab es, anders als bei Sacchi kein Pressing. Um den Libero herum (in der Regel Luca Pellegrini), der viele Freiheiten hatte und das Spiel von hinten eröffnete, spielte ein klarer Manndecker gegen den gegnerischen Mittelstürmer, dazu ein dezidiert defensiver (Mannini rechts) und ein etwas offensiverer Außenverteidiger (ein Überbleibsel aus dem „Gioco all’Italiano“). Im Mittelfeld gab es einen laufstarken Kreierer (erst Cerezo, in weiterer Folge Katanec) und einen Schmutzfink, der für diesen Kreativen die Drecksarbeit erledigt (Pari). Dazu zwei Flügelspieler und die beiden Stürmer, die sich auch viel ins Mittelfeld zurück fallen ließen.

„Ohne Disziplin ist Leben hart.“

Es herrschte vor allem im Defensiv-Verbund hohe taktische Disziplin, wie in Italien üblich. Es gab immer mindestens einen Spieler, zumeist aber mehr, als Absicherung hinter dem Ballführenden, es wurden nie zu viele Räume zwischen Abwehr und Mittelfeld gelassen. Hinten kein Tor zu kassieren ist wichtiger als vorne viele zu machen. Am Ende der Saison 88/89 hatte Sampdoria in 34 Serie-A-Spielen nur 25 Tore kassiert, womit man hinter Meister Inter die zweitbeste Abwehr hatte. Es gelangen in dieser Saison aber auch „nur“ 43 eigene Tore. Fünf Teams hatten mehr, Samp wurde auch Fünfter – aber wiederum Pokalsieger, wodurch man es in der Saison 1989/90 wieder im Cup der Cup-Gewinner versuchen durfte.

Diesmal ging es den Blucerchiati deutlich leichter von der Hand. Brann Bergen aus Norwegen war kein Problem, gegen Borussia Dortmund machte man nach einem 1:1 im Westfalenstadion daheim alles klar, gegen GC Zürich im Viertelfinale gab’s zwei Siege und auch gegen Monaco im Semifinale schuf man sich mit einem 2:2 im Stade Louis II. eine gute Ausgangsposition, ehe es im heimischen Marassi ein 2:0 gab.

9. Mai 1990 in Göteborg gegen den RSC Anderlecht

Gegenüber der letzten Saison hatte es zwei wichtige Neuzugänge gegeben. Zum einen war das Giovanni Invernizzi (26) von Absteiger Como und vor allem der jugoslawische Teamspieler Srecko Katanec. Der 26-jährige Slowene kam von UEFA-Cup-Finalist VfB Stuttgart und konnte sowohl als Libero als auch als Eröffnungsspieler im Mittelfeld agieren. Letzteres war seine vornehmliche Rolle, als er nach Genua kam.

Anderlecht war in den 80er-Jahren ein europäisches Spitzenteam in einer Liga, die zur erweiterten Top-Klasse zählte, gegen Ende des Jahrzehnts allerdings nachzulassen begann. Die Stärke, die belgische Teams aber immer noch haben konnten, zeigte sich in diesem Finale: Zwei Teams, die sich gegenseitig neutralisierten.

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Cupsieger-Finale 1990: Samp – Anderlecht 2:0 n.V.

Anderlecht-Coach Aad de Mos (der schon zwei Jahre davor das Cupsieger-Finale mit Mechelen gegen Ajax gewonnen hatte und später bei Werder Bremen kläglich scheitern sollte) verfolgte eine klare Marschroute: Im Zentrum, wo bei Sampdoria Katanec die Fäden zog und wohin sich im Aufbau vieles konzentrierte, komplett zumachen und dafür über die Außenbahnen nach vorne kommen.

Das passierte rechts vor allem mit Ardor Gudjohnsen (dem Vater von Eidur) und links im Zusammenspiel von Kooiman und Vervoort. Dazu ließ sich Stürmer Marc Degryse oft weit zurückfallen, wodurch er Mannini quer über den Platz zog und so Räume für Vervoort schuf. Das hatte zur Folge, dass bei Sampdoria Invernizzi, der gegen Kooiman und Vervoort spielte, oft in Unterzahl-Situationen verwickelt wurde und offensiv nichts brachte.

Sampdoria jedoch ließ sich davon überhaupt nicht aus der Ruhe bringen und machte die Räume vor dem Tor so eng, dass die 20-Meter-Pässe, auf die Anderlecht setzte, sehr oft bei einem Italiener landete. Selbiges passierte aber auch auf der anderen Seite, wo der spätere nigerianische Teamchef Stephen Keshi extrem umsichtig agierte, der Sambier Charly Musonda im Mittelfeld überall zu finden war und sich Milan Jankovic, der von Real Madrid gekommen war, ein gutes Gespür dafür hatte, welchen Raum er abdecken musste.

Langweiler-Fußball

Die Folge war ein ungeheuer zähes, unansehnliches und ganz einfach todlangweiliges Fußballspiel, das „0:0“ und „Elfmeterschießen“ recht schnell als logischen Ausgang erscheinen ließ. Echte Torchancen entstanden nur aus Standardsituationen oder aus individuellen Fehlern (wie Mancini in der 37., der nach einem Pagliuca-Abschlag Grun verlud und Marchoul den Richtung Tor hoppelnden Ball nach einem Sprint gerade noch von der Linie kratzen konnte – oder Gudjohnsen in der 88., nachdem Vierchowod den Ball vertendelt hatte).

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Wie lange geht dieser öde Kick denn noch? Diese Frage stellte sich nicht nur Vujadin Boskov.

Nach einer Stunde stellte Boškov um. Statt des wirkungslosen Invernizzi brachte er den flinken Attilio Lombardo – jenen 23-Jährigen mit der damals schon sehr übersichtlichen Frisur, der im Sommer davor als Ergänzungsspieler aus der Serie B gekommen war. Dieser agierte von weiter hinten heraus als Invernizzi zuvor, dafür ging Vialli mehr auf die rechte Außenbahn; Rechtsverteidiger Mannini übernahm nun etatmäßig eine zentralere Position – es entstand ein 4-3-3-ähnliches System. Damit hatte man beide Flügel defensiv im Griff und wusste, dass man aus dem Zentrum heraus von Anderlecht nichts zu befürchten hatte. Kurz: Es wurde noch mühsamer, weil nun engültig keiner mehr ernsthaft versuchte, eine Entscheidung herbeizuführen.

Natürlich ging es in die Verlängerung, und natürlich war es ein individueller Fehler, der das Elfmeterschießen doch noch verhinderte, nachdem Anderlecht davor schon merklich körperliche Schwierigkeiten bekommen hatte. Der eingewechselte Lombardo ging in der 105. Minute auf seiner rechten Seite mal durch, der Ball kam vor den Strafraum zum ebenfalls eingewechselten Salsano (er war für Katanec gekommen, der nach einem Schlag auf’s Knie in der ersten Halbzeit nichts mehr ausrichten konnte), dieser zog ab. Anderlecht-Goalie De Wilde (später auch bei Sturm Graz) konnte den Schuss an den Pfosten ablenken, der Ball kam genau zu ihm zurück, er konnte ihn aber nicht festhalten – und Vialli staubte ab.

Ehe Anderlecht reagieren konnte, landete nach einem erneuten Energie-Anfall von Lombardo eine Mancini-Flanke in der 108. Minute genau auf dem Kopf von Vialli, den die stehend k.o. verteidigenden Marchoul und Keshi nicht mehr angehen konnten. Das 2:0, die Entscheidung – und der Endstand. Vialli und Gudjohnsen arrangierten sich schon in der 119. Minute ihren bevorstehenden Trikot-Tausch. Wenige Augenblicke später überreichte UEFA-Boss Lennart Johansson die Trophäe an Kapitän Luca Pellegrini.

Das Lire-Paradies, die beste Liga der Welt

1989 waren in allen drei EC-Finals Serie-A-Klubs vertreten und zwei davon gewannen auch, 1990 gingen sogar alle drei Cups nach Italien, jenes im UEFA-Cup sogar nach einem rein-italienischen Endspiel. Dazu stieg eben 1990 die Fußball-WM in Italien, die besten Spieler der Welt prügelten sich um die begehrten Plätze im Lire-Paradies (es waren ja nur drei pro Team erlaubt). Ein Trainer wie Boškov, der davor ja schon mit Real Madrid Meister war, musste durch die Hintertür Ascoli und die Serie B in Italien Fuß fassen. Parallel zur erfolgreichen Europapokal-Kampagne 1989/90 wurde Samp hinter Maradonas Napoli, Sacchis Milan, Trapattonis Inter und Zoffs Juventus Vierter. Im Cup gab’s das Aus gegen Juventus, aber als Titelvertediger durfte der Klub dennoch wieder im Cupsieger-Bewerb antreten.

Nach dem Kollaps der Sowjetunion gelang es Klub-Boss Mantovani im Sommer 1990, Alexej Michailitschenko von Dynamo Kiew loszubekommen – also zusätzliche Option im Mittelfeld. International hatte man schon in der 1. Runde gegen Kaiserslautern arge Probleme, dafür keine im Achtelfinale gegen Olympiakos. National gab’s etwa ein 4:1 auswärts bei Meister Napoli, ehe es ausgerechnet im Derby gegen Genoa eine 1:2-Niederlage setzte.

„Ich hab‘ vor dem Derby gesagt, das wäre ein Spiel wie jedes andere. War’s doch nicht. Wir haben verloren.“

Inter verbrachte die meiste Zeit des Herbstdurchgangs an der Spitze, Sampdoria fand erst nach einer peinlichen Pleite bei Abstiegskandidat Lecce wieder in die Spur, beendete die Hinrunde letztlich als Vierter, zwei Punkte hinter Spitzenreiter Inter, einen hinter Milan und punktegleich mit Juventus und Überraschungs-Team Parma – Meister Napoli hingegen war mit nur vier Siegen mittendrin im Abstiegskampf. Nach dem überraschenden Aus im Europacup-Viertelfinale gegen Legia Warschau und nachdem klar war, dass Michailitschenko keine wirkliche Alternative war – er fand sich in der fremden Kultur nicht schnell genug zurecht – drehte Samp aber auf.

Der große Coup

Die Pleite in Lecce am 16. Spieltag sollte die letzte der Saison werden. Inter hingegen startete die Rückrunde nur mit Remis gegen den Vorletzten Cagliari und den Drittletzten Bologna. Samp war schon gleichauf, und es blieb in den folgenden Monaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen, ehe das Team von Boskov am fünftletzten Spieltag mit einem Zähler Vorsprung auf Inter ins San Siro musste.

Dort machte Samp, was Samp am Besten konnte: Verteidigen. Mit Lombardo, der sich wegen seines Tempos in die Stamm-Elf gespielt hatte, verfügte man über eine Waffe im Konter und man schaffte es mit der für dieses Team typischen etwas hinterfotzigen Art zu spielen, an Inters Nerven zu gehen. So musste Inter-Libero Bergomi schon vor der Halbzeit mit Rot vom Platz, gemeinsam mit Roberto Mancini – die beiden waren sich gar zu sehr ins Gehege gekommen.

„Ich mag deutsche Spieler nicht. Die sind nicht teamfähig. Die sind arrogant.“

Inter, mit dem deutschen Weltmeister-Trio Matthäus, Brehme und Klinsmann, drückte vehement, aber Pagliuca hielt alles, ehe Dossena nach einer Stunde aus einem Konter das 1:0 für Sampdoria erzielte. Wenige Minuten später verschoss Matthäus einen Elfmeter und mit Viallis 2:0 eine Viertelstunde vor Schluss hatte Samp den Sieg in der Tasche. Damit hieß es nur noch, in den letzten Spielen nicht mehr auszurutschen, was schon beim 1:1 bei Torino nicht gelang. Weil aber Milan in den letzten zwei Spielen nur noch einen Punkt holte, machte das nichts. Sampdoria hatte erstmals den Scudetto geholt.

Top-8 der Serie A 1990/91
Top-8 der Serie A 1990/91

„Ich habe in meinem Leben einiges gewonnen“, sagte Boškov später einmal, „aber der Scudetto mit Sampdoria war der schönste Triumph, der süßeste. Weil es die stärkste und ausgeglichenste Liga der Welt war. Es ist ein wenig so, wie wenn man erstmals Vater wird!“

Zeit zur Revanche

Und weil die Serie A damals meilenweit vor allen anderen Ligen in Europa war, war Sampdoria natürlich auch der logische Favorit in der Meistercup-Saison 1991/92, obwohl der Klub noch nie an diesem Wettbewerb teilgenommen hatte. Darauf lag auch der ganze Fokus in der Saison nach dem Titel. Milan saß eine einjährige Europacup-Sperre ab und lief ohne Doppelbelastung mit dem neuen Trainer Fabio Capello früh allen anderen davon (und wurde ungeschlagener Meister), Sampdoria erlebte nach einem ganz ordentlichen Saisonstart in Oktober und November einen radikalen Einbruch (1:2 in Parma, 0:2 gegen Atalanta, 0:0 im Derby gegen Genoa, dann noch ein 1:2 bei Napoli, je 0:2 gegen Milan und bei der Roma, 0:0 gegen Torino und in Foggia) und lag nach acht sieglosen Spielen am zweiten Adventsonntag nur noch einen Punkt vor einem Abstiegsplatz.

Außerdem verlor man in dieser Phase 1:2 im Meistercup bei Honved Budapest, ehe ein Zitter-3:1 im Rückspiel doch noch das Ticket für die erstmals ausgetragene Gruppenphase der besten acht Teams bedeutete. Die beiden Gruppensieger sollten das Finale bestreiten und Sampdoria wurde in die Gruppe mit viel Revanche-Potenzial gelost. Zum einen gegen den RSC Anderlecht, den man anderthalb Jahre davor im Endspiel bezwungen hatte. Und Titelverteidiger Roter Stern Belgrad – jener Klub, der Boškov durch welche Kräfte auch immer in seiner Zeit bei Vojvodina immer im Weg gestanden war. Dazu kam Panathinaikos Athen.

„Der Ball geht rein, wenn Gott das so will“

Im ersten Spiel daheim gegen den jugoslawischen Meister und Meistercup-Titelverteidiger mit Spielern wie Mihajlovic und Jugovic brachte ein Belgrader Eigentor Samp schnell in Führung, ehe Vialli nach der Pause alles klarmachte. Dann wurde es aber harzig. In Athen gab’s nur ein 0:0 und bei Anderlecht sogar eine 2:3-Niederlage. Dank eines 2:0-Heimsieges gegen die Belgier fuhr Sampdoria einen Punkt hinter Roter Stern auf Platz zwei liegend nach Sofia, wo das Spiel wegen des beginnenden Krieges am Balkan ausgetragen werden musste.

Wie schon im Jahr davor gegen Inter machte Boškov auch in diesem Spiel die Abwehr dicht, und wie schon im Jahr davor gegen Inter verstand es Boškov, seine Spieler extrem heiß zu machen und mit einem ungeheuren Glauben in sich selbst auszustatten. Das 0:1 durch Mihajlovic schockte Samp nicht, obwohl sie gewinnen mussten. Immer aggressiver wurde das Team, zur Pause führte man schon 2:1, am Ende gab’s einen 3:1-Sieg. Wegen der klar besseren Tordifferenz reichte im letzten Spiel daheim gegen Panathinaikos ein Punkt, den gab’s auch – wiewohl Roter Stern in Brüssel sogar verlor.

20. Mai 1992 in London gegen den FC Barcelona

In der Serie A hatte Sampdoria wieder zu Form gefunden, nach der schwarzen Serie im Herbst hatte es nur noch eine einzige Niederlage gegeben, als Sechster verpasste man aber die Qualifikation für die folgende Europacup-Saison – zu viele Unentschieden hatte man aufs Konto gebracht.

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Meistercup-Finale 1992: Samp – Barcelona 0:1 n.V.

Dennoch sollte das Finale im Wembley der Höhepunkt der Ära werden, Gegner war- wie schon im Cupsieger-Finale drei Jahre davor – Johan Cruyffs FC Barcelona. Bei dem allerdings nur noch drei Spieler vom Finale 1989 mit dabei waren, bei Sampdoria waren es sieben.

Boškov setzte, eh klar, vornehmlich auf Defensive. Lanna war nach dem Abgang von Luca Pellegrini zum Libero geworden, Vierchowod (gegen Salinas) und Mannini (gegen Stoichkov) gaben die Manndecker, dazu wurde Fausto Pari speziell auf Michael Laudrup angesetzt und Katanec sollte die Kreise des 21-jährigen Mittelfeld-Organisators Pep Guardiola einengen und ihm die Passwege zu Bakero und Laudrup zustellen.

Cruyff ging ein wenig von seinem 4-3-3 ab, indem er Eusebio und Bakero beide Richtung Mittefeld-Zentrum tendieren und die rechte offensive Außenbahn damit eher verwaisen ließ. Auch er hatte Respekt vor den Pässen Cerezos und auch Katanec‘, die die „gemelli terribili“, die schecklichen Zwillinge Mancini und Vialli, aus dem defensiven Mittelfeld heraus bedienen sollten. Das war, neben Dauerläufer Lombardo auf der rechten Seite, Sampdorias einziger echter Plan nach vorne.

Bei Barcelona war Ronald Koeman derjenige, über den im Aufbau so gut wie alles lief, mit Guardiola als Adjutanten. Cryuff ließ mit Hristo Stoitchkov einen echten Linksaußen beginnen, hatte mit Salínas einen klassischen Mittelstürmer auf dem Platz, und setzte auf ein Trio im offensiven Mittelfeld – Laudrup, Bakero und Eusebio. Da die beiden Teams ihre jeweiligen Matchpläne auf einem sehr ähnlichen Niveau ablieferten, hatte zur Folge, dass es zwar kein schlechtes Spiel war, aber eines ohne echte Höhepunkte. Barcelona kam gegen die robuste Manndeckung von Samp nicht zur Geltung, die Italiener wurden in ihrem recht vorhersehbaren Aufbauspiel gut von der Defensive der Katalanen in Schach gehalten.

Der erste, der sich bewegte, war nach einer Stunde Cruyff. Er nahm Salinas vom Feld und brachte dafür mit Andoni Goikoetxea einen echten Rechtsaußen, dafür ging Stoitchkov ins Sturmzentrum und Laudrup auf die linke Seite – eine Maßnahme, die bei Stoitchkovs Pfostenschuss schon beinahe gefruchtet hätte. Andererseits fehlte nun aber natürlich ein Spieler im Zentrum, wodurch die Anspiele in die Spitze höhere Chancen hatten, anzukommen – Vialli vergab in dieser Phase zwei Sitzer, die die Partie zugusten von Sampdoria vorentscheiden hätten können.

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Ausgeglichenes Finale im alten Wembley, das sah auch Boskov so.

Dadurch, dass Barcelona die rechte Seite nun besetzt hatte, musste Boškov reagieren und statt des offensiver denkenden Bonetti einen eher defensiver denkenden bringen – das war Giovanni Invernizzi. Goikoetxea mühte sich ab, konnte aber gegen den neuen Mann keine Akzente setzen. So ging’s in die Verlängerung, wo Barcelona sich langsam leichte Vorteile erarbeiten konnte – das aggressive Spiel von Sampdoria forderte langsam aber sicher Tribut. So ging’s etwa für Vialli nach 100 Minuten gar nicht mehr weiter, für ihn kam Renato Buso in die Partie – der Stürmer war vor der Saison von der Fiorentina gekommen.

In der 111. Minute versuchte dann Invernizzi, vor der Strafraumgrenze den Ball gegen Eusebio zu erobern, fiel dabei hin, bekam den Ball etwas unglücklich auf die Hand und bekam die Kugel am Boden sitzend noch einmal an den Ellenbogen. Der deutsche Referee Schmidhuber entschied auf Absicht und damit indirekten Freistoß – weil Ronald Koeman für seinen brutalen Wumms bekannt war, den er auch in diesem Spiel schon diverse Male ausgepackt hatte, eine gefährliche Situation. Und eine Entscheidung, über die sich die Italiener aufregten (natürlich, sonst wären sie ja keine Italiener) – aber in diesem Fall hatten sich wohl nicht ganz Unrecht mit ihrem Unverständnis.

So oder so: Koeman drosch die Kugel durch die aus der Mauer herausstürmenden Mannini und Pari hindurch am chancenlosen Pagliuca vorbei ins Tor – das 1:0, auf das Sampdoria in den verbleibenden acht Minuten keine Antwort mehr hatte. Mit Barcelona hatte erstmals nach 26 Jahren wieder ein spanisches Team den Meistercup geholt, und für die Katalanen war es der erste überhaupt. Bei Sampdoria endete eine Ära.

Das Team zerfällt, der Präsident stirbt

Dass Boškov den Klub nach sechs Jahren verlassen und zur Roma wechseln würde, war schon vor dem Endspiel in London klar, vier Tage nach der bitteren Niederlage gegen Barcelona endete die Ära Boškov mit einem 2:2 gegen Absteiger Cremonese, ein von Fauso Pari erzieltes Elfmeter-Tor war das letzte unter dem Serben. Gianluca Vialli, mit 27 Jahren mittlerweile im besten Fußballer-Alter, nahm ein Angebot von Juventus Turin an. Mangelnde Ambition kann man dem Klub aber auch danach nicht absprechen: Benficas Meistertrainer Sven-Göran Eriksson beerbte Boškov als Coach, mit Vladimir Jugovic kam ein europäischer Superstar von Roter Stern Belgrad, als dieser Klub wegen des gerade ausgebrochenen Krieges alle seine Topspieler verlor. Ein Jahr später – Samp hatte 1993 als Sechster erneut den internationalen Bewerb verpasst – verpflichtete man den bei Milan im Kampf von sechs Legionären um drei Plätze aufgeriebenen Ruud Gullit und den Engländer David Platt von Juventus und wurde immerhin Dritter und gewann den Cup. Bis heute der letzte Titel des Klubs.

Allerdings lag da schon der drohende Schatten des Niedergangs über dem Klub, weil Präsident Paolo Mantovani im November 1993 mit nur 63 Jahren starb. Sein Sohn Enrico übernahm Sampdoria, und auch ohne Gullit (der zu Milan zurückkehrte), Katanec (der aufhörte) und Pagliuca (der zu Inter ging) scheiterte man im Halbfinale des Cupsieger-Bewerbs erst im Elferschießen an Arsenal. Danach ging’s nur noch bergab: Nach dem achten Platz 1995 gingen Lombardo, Vierchowod und Jugovic allesamt zu Inter, Roberto Mancini konnte man immerhin bis 1997 halten, ehe er gemeinsam mit Trainer Eriksson zu Lazio ging. Boškov war da nach einem Jahr bei der Roma und zwei bei Napoli bereits bei Servette Genf gelandet, ehe er Nachfolger seines Nachfolgers wurde und zu Sampdoria zurückkehrte.

Mit Rechtsverteidiger Moreno Mannini und Wadenbeißer Fausto Salsano fand er nur noch einen Spieler aus seiner erfolgreichen Ära immer noch vor, dazu einen schon ansatzweise altersmüden Jürgen Klinsmann, einen noch sehr jungen Vincenzo Montella, die späteren Weltmeister Boghossian und Karembeu – und seinen Landsmann Sinisa Mihajlovic. Das Rad der Fußball-Welt hatte sich aber weitergedreht, Boškov konnte an alte Erfolge nicht anschließen. Sampdoria landete im Tabellen-Niemandsland und Boškov zog weiter.

Epilog: Charleroi am 13. Juni 2000

Nach einem Kurzauftrit Boškov, mittlerweile 68-jährig, in Perugia übernahm er 1999 wieder die Nationalmannschaft Jugoslawiens – wiewohl das nur noch der „Rest“ war, nach dem Balkan-Krieg, mit Serbien und Montenegro. 27 Jahre nach seiner Ausbootung vor der WM in Deutschland durfte Boškov diesmal das Turnier auch tatsächlich als Teamchef erleben. Obwohl er sich im Nachhinein vielleicht gewünscht hat, es wäre nicht so gewesen. In der Vorbereitung schickte Boškov seine Truppe auf eine ausgedehnte Asien-Tournee, was ihm viele seiner nach einer langen europäischen Saison ausgelaugten Stars – allen voran Sinisa Mihajlovic – übel nahmen. Dazu musste er bei einer Presse-Konferenz vorm ersten Spiel zugeben, sich von den Gruppengegnern nicht einmal Videomaterial angesehen zu haben. Und dann kam’s zum Wiedersehen mit seinem alten Schüler Srecko Katanec.

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Jugoslawien – Slowenien 3:3 (0:1) bei der EM 2000

Katanec war slowenischer Teamchef geworden und hatte die No-Name-Truppe sensationell zur EM geführt. Niemand gab dem mit vier Spielern aus der österreichischen Liga antretenden Underdog (Milanic von Sturm, Ceh vom GAK, Milinovic und Udovic vom LASK) eine Chance. Doch nach einer Stunde führte der freche Außenseiter gegen die mit einer beinahe unerträglichen Überheblichkeit auftretenden Serben mit 3:0, dann gingen auch noch Sinisa Mihajlovic die Gäule durch, er sah nach 60 Minuten die rote Karte.

Erst jetzt wachten die Serben auf, retteten noch ein 3:3-Remis. Aber mit ihrer überharten und weitgehend unkreativen Spielweise wirkte die Mannschaft bei dem Turnier, das vor allem wegen außergewöhnlichem Offensiv-Fußball und spielerischen Highlights glänzte, völlig deplatziert. Im zweiten Spiel mühte man ein 1:0 gegen Norwegen über die Zeit, obwohl sich Mateja Kezman schon 44 Sekunden (!) nach seiner Einwechslung die rote Karte abholte und auch beim 3:4 gegen Spanien absolvierte man die letzte halbe Stunde nur noch zuzehnt. Dazu gab’s in den letzten beiden Gruppenspielen zehn gelbe Karten, damit einige Gesperrte in der nächsten Runde.

Und die Abneigung von ganz Fußball-Europa obendrein. Gegen Holland trauten sich die Serben nach Lastwagenladungen medialer Prügel selbst dafür nicht mehr austeilen, man ging 1:6 unter (und das Ehrentor fiel erst in der Nachspielzeit) und bis auf die serbischen Fußball-Fans trug darüber keiner Trauer. Der robuste Defensiv-Fußball, den Boškov spielen ließ, kann man mit zwar aufbrausenden, im Zweifel aber disziplinierten Italienern durchziehen, so lautete die Erkenntnis – aber nicht mit einer aufgestachelten Truppe, die wie auf einer persönlichen Vendetta gegen Fußball-Europa wirkte und bei der der so auf Disziplin achtende Boškov auch aufgrund der Vorkommnisse vor der EM keinerlei Autorität mehr hatte.

„Nach dem Regen kommt die Sonne!“

Das 1:6 gegen Holland war Boškovs letztes Spiel als Trainer. Er war kein Visionär, keiner, der für eine eventuelle taktische Revolution gesorgt hätte. Seine Teams hatten Erfolg durch ein extremes Maß an mannschaftlicher Geschlossenheit, robustem Zweikampfverhalten und dem Ausspielen individueller Klasse, wie jahrelang mit Vialli und Mancini. Er war bekannt und geachtet durch seine pointierten Aussagen, die oft mehr Spaß machten als Spiele seiner Mannschaften anzusehen.

Vujadin Boškov starb am 27. April in seiner Heimatstadt Novi Sad. Er wurde 82 Jahre alt.

(phe)

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Ballverliebt Classics: Senegal 2002 – in memoriam Bruno Metsu https://ballverliebt.eu/2013/10/24/ballverliebt-classics-senegal-2002-in-memoriam-bruno-metsu/ https://ballverliebt.eu/2013/10/24/ballverliebt-classics-senegal-2002-in-memoriam-bruno-metsu/#comments Thu, 24 Oct 2013 14:21:18 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=9686 Ballverliebt Classics: Senegal 2002 – in memoriam Bruno Metsu weiterlesen ]]> metsuBruno Metsu ist tot, der Franzose erlag 59-jährig einem Krebsleiden. Der Name des Trainers, dessen Markenzeichen seine wallende Haarmähne war, wird immer untrennbar mit einer der größten Leistungen verbunden bleiben, die je ein Underdog bei einem großen Turnier geschafft hat: Dem Viertelfinal-Einzug mit dem vor und auch nach seiner Ära international irrelevanten Team aus dem Senegal bei der WM-Endrunde 2002.

Zwei Jahre zuvor hatte der damals 46-Jährige, nach einigen Stationen in Frankreichs zweiter Liga, das Team übernommen. Nach einem achtbaren Afrikacup-Viertelfinale startete man noch unter Vorgänger Peter Schnittger nur mit zwei Remis in eine schwere WM-Quali-Gruppe mit Marokko, Ägypten und Algerien. Dann kam Metsu und der Aufstieg bekann.

Vor dem letzten Quali-Spieltag lag der Senegal in der Fünfergruppe auf Rang drei, aber nur der Sieger löste das WM-Ticket. Vorne lag Marokko mit 15 Zählern, war aber in der letzten Runde spielfrei. Mit je 12 Punkten folgten Ägypten und Senegal, beide aber mit einer besseren Tordifferenz als Marokko. Die Ausgangslage für Senegal war klar: Man musste drei Tore höher gewinnen als zeitgleich Ägypten bei deren Erzfeind Algerien.

Senegal gab in Namibia also Vollgas, führte zur Halbzeit schon 3:0, während es im Parallelspiel 0:0 stand. Das hätte gereicht. Nach einer Stunde ging Ägypten 1:0 in Führung – Senegal brauchte wieder ein Tor. Es gab zwei, stand zehn Minuten vor dem Ende 5:0, womit Ägypten wieder eines brauchte. Doch Algerien glich sogar aus. Dabei blieb es: Senegal sprang auf Gruppenplatz eins und war bei der WM in Südkorea und Japan dabei.

Und bekam neben Dänemark und Uruguay auch Frankreich zugelost. Sogar im Eröffnungsspiel.

Frankreich nimmt Senegal nicht ernst…

Frankreich war der amtierende Welt- und Europameister, hatte in seinem Kader die aktuellen Torschützenkönige aus der Premier League (Henry), der Serie A (Trezeguet) und der Ligue I (Cissé). Senegal gab im Eröffnungsspiel in Seoul niemand eine Chance, dam Team wurde im Vorfeld als „Frankreich B“ belächelt. Weil bis auf Leboeuf keiner aus der französischen Start-Elf in der Ligue I spielte, beim Senegal aber mit Ausnahme des zweiten und des dritten Torhüters der komplette Kader in Frankreich engagiert war. Nicht mal, dass Zinedine Zidane mit einem Muskelfaserriss fehlte, wurde als wirkliches Problem empfunden.

Senegal - Frankreich 1:0 (1:0)
Senegal – Frankreich 1:0 (1:0)

Und dann kam Senegal. Mit einer Spielanlage, die den Franzosen überhaupt nicht schmeckte: In einem 4-3-3 mit weit zurück gezogenen Außenstürmern und einer Mittelfeld-Zentrale, die ein Pressing aufzog, dass es eine Freude war. Vor allem was die körperliche Robustheit angeht, hatten Sechser Aliou Cissé und die beiden Achter Salif Diao und vor allem Papa Bouba Diop klare Vorteile gegenüber dem eher schmalen Djorkaeff und dem eleganten, aber langsamen Emmanuel Petit.

Statt Zidane spielte Djorkaeff – 34, mit seiner besten Zeit hinter sich und bei Bolton unter Vertrag – einen seltsamen Hybrid aus halbrechter Achter, aus Zehner und aus Linksaußen. Durch seine ständigen Positionswechsel entging er zwar der direkten Bewachung von Aliou Cissé, er überließ aber Petit und Vieira alleine die Arbeit gegen das extrem giftige senegalesische Mittelfeld-Trio.

Das Fehlen eines Verbindungsspielers zwischen Defensive und Offensive und die Tatsache, dass Petit und vor allem Vieira viel in Zweikämpfe verwickelt wurden, limitierte Frankreich zu langen Bällen von Petit auf die Flügelspieler Wiltord und Henry, die der starke Daf und der herausragende Coly aber in guten Händen waren.

…und wird bestraft

Die vielen Ballverluste in der Vorwärtsbewegung gegen das pressende Zentrum Senegals und die Tatsache, dass Sturmspitze Diouf links auftauchte, rechts auftauchte, ständig an der Abseitslinie lauerte (und auch 12-mal in selbigem stand) – all das beunruhigte Frankreich nicht. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass Desailly als Libero oft ins Mittelfeld aufrückte und den hüftsteifen Leboeuf alleine gegen den quirligen Diouf spielen ließ. Trezeguets Lattenschuss nach 22 Minuten schien dem Titelverteidiger zu versichern: Wir haben unsere Chancen, das wird schon.

Ehe nach einer halben Stunde Djorkaeff im Aufbau ein kurzes Anspiel von Vieira viel zu lässig annehmen wollte, von Salif Diao den Ball abgeluchst bekam, und Frankreich einmal mehr in der Vorwärtsbewegung erwischt war. Über den pfeilschnellen Diouf, der auf der linken Seite durchging, kam Senegal nach vorne, vor seiner Flanke ließ er noch Leboeuf wie einen Schlusjungen aussehen. Die Flanke selbst wurde erst von Desailly abgefälscht, Petit wollte klären und schoss dabei Barthez an, der Ball hüpfte Bouba Diop vor die Füße – und im Fallen stocherte er die Kugel über die Linie.

Zittern erst am Ende

Linksverteidiger Lizarazu schaltete sich viel in die Offensive ein, brachte aber wenig Konkretes zu Stande. Wiltord rieb sich gegen Daf völlig auf. Und Djorkaeff war eine Vorgabe, weshalb er nach einer Stunde Christophe Dugarry wich. Damit stellte Frankreichs Teamchef Lemerre auf ein schiefes 4-2-2-2 um, wie es ganz ähnlich auch sein Nachfolger Santini bei der EM zwei Jahre später spielen sollte: Mit Lizarazu hoch und Henry als Mittelding aus Linksaußen und Mittelstürmer, dazwischen mit Dugarry auf der linken Halbposition.

Mit schwindenden Kräften versuchten die Senegalese viel schneller und weniger durchdacht, Diouf zu schicken. Obwohl es noch für einen Alu-Treffer reichte, wurde es in der letzten halben Stunde ein Zittern für den Außenseiter, auch weil wenig später auch Henry am Pfosten scheiterte. Lemerre brachte Djibril Cissé für den abgemeldeten Wiltord, ließ den extravaganten, bulligen Mittelstürmer aber wie Wiltord als Rechtsaußen spielen – wo er sich sichtlich nicht wohl fühlte.

Erst fehlte Frankreich das Bewusstsein, dass diese senegalesische Mannschaft wirklich ein Problem sein könnte, dann konnte man den Schalter nicht so recht umlegen, und wenn es doch gelang, in Abschlussposition zu kommen, scheiterte man entweder am Torgestänge oder am hervorragenden Torhüter Tony Sylva – dem dritten Keeper des AS Monaco. Nach 93 Minuten und sechs Sekunden pfiff Referee Ali Bujsaim ab, Senegal hatte den haushohen Favoriten zu Fall gebracht.

Am Feld ordneten sich auch schwierige Charaktere unter

Im Vorfeld der zweiten Partie gegen Dänemark bekam Senegals Kapitän Aliou Cissé Probleme mit der Achillessehne (womit Metsu sein Sechser nicht zur Verfügung stand) und Khalilou Fadiga Probleme mit dem Gesetz. Der Mann vom AJ Auxerre ließ es sich nämlich nicht nehmen, bei einem Juwelier eine Halskette um 280 Euro mitzunehmen, ohne aber dafür zu bezahlen. Wegen des geringen Beutewerts und dank gutem Willen des Juweliers blieb Fadiga ohne Strafe.

Generell galt Metsu als ein Trainer, der es hervorragend verstand, auf die völlig unterschiedlichen Typen in seiner Mannschaft sehr individuell einzugehen. Schwierige Persönilchkeiten wie der auch im Privatleben eher exaltierte Diouf ließ er an der langen Leine, während gesetteltere Typen wie etwa Rechtsverteidiger Ferdinand Coly auch von innerhalb des Kaders dafür sorgten, dass alle an einem Strang zogen. So scherte auf dem Feld keiner aus, und das Kollektiv war besser als die Einzelteile.

Dänen frustrieren Senegal

Die Spielweise der Senegalesen war den Dänen, die in ihrem ersten Spiel Uruguay 2:1 besiegt hatten, natürlich nicht verborgen geblieben. Dänemark war, schon damals unter Morten Olsen, schon ein taktisch sehr progressives Team mit einem modernen 4-2-3-1, einem bulligen Abräumer vor der Abwehr (Tøfting), einem Spieleröffner als Achter (Gravesen) und mit robustem Forchecking im Mittelfeld. In letzterem also den Senegalesen sehr ähnlich.

Senegal - Dänemark 1:1 (0:1)
Senegal – Dänemark 1:1 (0:1)

Was in der brütenden Nachmittagshitze von Daegu dem Nervenkostüm der Beteiligten nicht gut tat. Die Dänen gingen ihrerseits im Mittelfeld sehr aggressiv auf ihre Gegenspieler, bei Senegal fehlte im Zentrum aber ganz deutlich die Ruhe, die Cissé-Ersatz Pape Sarr nicht ausstrahlen konnte. Zudem stand die Abwehrkette von Dänemark deutlich tiefer als jene von Frankreich. Das hatte mehrere für Senegal negative Folgen.

Zum einen nämlich konnte man das Pressing- und Umschaltspiel, das gegen Frankreich so gut funktioniert hatte, nicht ausspielen; und zum anderen fehlte Diouf der Platz im Rücken der Abwehr, in den er steil gehen konnte. So bewegte er sich zwar auch diesmal viel im Abseits, strahlte aber keine Gefahr aus.

Das Pärchen aber, das sich am heißesten liebte, waren Khalilou Fadiga und Thomas Helveg. Schon nach zehn Minuten hätte Fadiga schon nach einem Ellbogenschlag Rot sehen müssen, der ansonsten gute Referee Batres aus Guatemala übersah die Szene aber, gab sogar Foul gegen Helveg. Von da an war der kaum mehr zu bändigen.

Zu sagen, das Spiel wäre flapsig formuliert eine 90-minütige Massenschlägerei gewesen, wäre dann doch zu hart, aber auf dem Feld herrscht sehr wohl eine sehr vergiftete Atmosphäre. Und wie sehr Senegal von der extrem körperpetoten Gangart der Dänen beeindruckt waren, zeigte sich auch an dem völlig patscherten Rempler von Diao an Tomasson, der den fälligen Elfer nach einer Viertelstunde zum 1:0 für Dänemark verwertete.

Metsu stellt um, personell und inhaltlich

Den als Sechser gegen das dänische Körperspiel und den starken Tomasson überforderten Sarr nahm Metsu für die zweite Halbzeit ebenso vom Feld wie Rechtsaußen Moussa N’Diaye. Er brachte aber nicht nur mit Henri Camara und Souleymane Camara zwei Offensivkräfte, sonder stellte auch sein System auf ein 4-2-1-3 um. Diao und Bouba Diop spielten nun eine Doppel-Sechs gegen Tomasson, Fadiga war der Freigeist vor den beiden; während Henri (rechts) und Souleymane (links) nun Diouf flankierten.

Dazu presste Senegal die Gegenspieler nun nicht erst in der eigenen Hälfte an, sondern schon deutlich weiter vorne. Olsen reagierte auf das sich verändernde Spiel und brachte für statt Gravesen nun mit Christian Poulsen einen frischen Gegenspieler für den nun zentral agierenden Fadiga; davor hatte schon der von Coly komplett abmontierte und entsprechend frustrierte Grønkjær für Jørgensen Platz gemacht.

Die Dänen zeigten sich beeindruckt und nach einem Weltklasse-Konter zum 1:1 sogar schwer getroffen. Henri Camara hatte am eigenen Strafraum den Ball von Jørgensen erobert, 13 Sekunden und vier Stationen später schlug es am anderen Ende des Feldes ein. Salif Diao, dessen Wechsel vom damaligen französischen Erstligisten CS Sedan zu Liverpool bereits feststand, schloss den Konter mit einem Außenristschuss ab.

Auch in der Folge war Senegal klar am Drücker. Fadiga hätte gleich das zweite Tor nachlegen können (58.), Souleymane Camara vergab etwa eine Riesenchance (69.), Diatta kam danach bei einer Ecke frei zum Kopfball (72.). Die drückende Überlegenheit der Senegalesen gegen ein in sich zusammen klappendes dänisches Team endete erst mit Diaos Attentat auf Henriksens Schienbein, für das der Torschütze zu Recht die rote Karte sah. Metsu nahm Souleymane Camara wieder aus dem Spiel, brachte mit Habib Beye einen Defensiven, und ließ in einem 4-4-1 das Unentschieden über die Zeit verwalten.

Keine Missionars-Arbeit

Dass in Afrika andere Gepflogenheiten herrschen, als in Frankreichs zweiter Liga, wurde Metsu nach seinem Engagement schnell klar. Er versuchte aber nicht, dem mitunter etwas eigenwilligen Umfeld europäische Humorlosigkeit überzustülpen, Metsu begriff, dass das kontraproduktiv gewesen wäre. Die fünf Voodoo-Priester, die der Fußballverband beschäftigte, ließ er gewähren. Was ihm wohl auch deshalb nicht so schwer fiel, weil er sich im Senegal sehr wohl fühlte. Er lernte eine Senegalesin kennen und lieben, heiratete sie, und konvertierte nach der WM ihr zuliebe sogar zum Islam.

Seine totale Identifikation mit dem Land und mit der Mannschaft, verbunden mit der Erkenntnis, dass die Mannschaft unter ihm einem dramatischen Schritt nach vorne gemacht hat, verliehen Metsu in seinem Team eine Autorität, die nicht auf Angst fußte, sondern auf Kollegialität. „Man kann mit Bruno über alles reden, sogar über Sex“, grinste Elhadji Diouf während der WM.

Uruguay bereitet Probleme…

Vor dem letzten Gruppenspiel gegen Uruguay war klar, dass ein Remis auf jeden Fall für das Achtelfinale reicht. Doch die Urus, die ihrerseits einen Sieg benötigten, bereiteten schon aufgrund ihrer Formation einige Probleme. Das 3-4-3 von Victor Pua war ob der Dreierkette hinten deutlich weniger anfällig für Dioufs Tänze an der Abseitslinie, weil statt zwei hier natürlich drei Spieler da waren, die den flinken Stürmer stellen konnten. Zudem wurde durch die Wing-Backs der Urus im Notfall hinten eine Fünferkette gegen Außenstürmer aufgefädelt – was aber selten der Fall war.

Senegal - Uruguay 3:3 (3:0)
Senegal – Uruguay 3:3 (3:0)

Die Senegalesen konnten ihr auf Ballgewinn im Zentrum ausgelegtes Spiel nicht aufziehen, weil Uruguay den Ball ganz einfach nicht ins Zentrum kommen ließ. Zwar hatten García und Romero in der Theorie eine 2-gegen-3-Unterzahl im Zentrum, aber weil das Spiel der Urus ohnehin darauf ausgelegt war, mit langen Bällen die trickreichen Außenstürmer Recoba und Silva ins Spiel zu bringen, bekam Senegal im Zentrum keinen Zugriff. Und was noch dazu kam: Uruguay war ein sehr körperbetont spielendes Team voller harter Arbeiter, in der es mit Álvaro Recoba von Inter Mailand, dem damals bestbezahlten Spieler der Welt, nur einen echten Künstler.

…trotz 0:3-Rückstands

Dennoch lag Senegal zur Halbzeit 3:0 voran – ein Hohn eigentlich, wenn man sich den Spielverlauf betrachtet. Das 1:0 resultierte aus einem geschenkten Elfer, den Diouf mit einer klaren Schwalbe herausgeholt hatte; es folgten zwei sinnvoll aufgezogene Konter, die beide von Bouba Diop zu Toren abgeschlossen worden – einer davon noch dazu aus Abseits-Position.

Pua ging nach dem Seitenwechsel natürlich volles Risiko. Morales ersetzte als Sturmspitze den glücklosen Abréu, dazu kam Diego Forlán für Sechser Romero. Forlán spielte als rechter Wing-Bank, der vom nach innen gerückten späteren Schalke-Legionär Varela abgedeckt wurde. Kaum eine halbe Minute nach Wiederanpfiff stocherte Morales den Ball zum 1:3 über die Linie, und Forlán besorgte in der Folge mit einem Tausendguldenschuss das 2:3.

Metsu nahm den schwer gelb-rot-gefährdeten Coly (der schon in der 1. Minute Gelb sah, Daf keine 120 Sekunden später) für vom Feld, um ihn vor dem schwer überforderten holländischen Referee Jan Wegereef zu schützen, dazu kam Amdy Faye als defensivere Alternative für N’Dour (der für den gesperrten Diao in die Start-Elf gerückt war) und Moussa N’Diaye, der seinen Startplatz an Henri Camara verloren hatte, für eben diesen. Und obwohl Uruguay drückte, sah es so aus, als sollte Senegal das 3:2 über die Zeit zittern.

Am Ende war’s auch Glück

Bis der für Coly gekommene Beye in der 87. Minute im Strafraum den Ball erreichen wollte, und Morales zu Boden sackte – ohne aber auch nur annähernd von Beye getackelt zu werden. Wegereef war einmal mehr auf eine Schwalbe hereingefallen, Recoba verwandelte sicher und die Urus hatten zwei Minuten später sogar noch die Riesen-Chance auf den Sieg. Rodríguez kam aus 20 Metern zum Schuss, Diatta klärte für den schon geschlagenen Sylva per Kopf. Der steil nach oben prallende Ball fiel genau zu Uru-Stürmer Morales, der einen Meter vor dem leeren Tor zum Kopfball kam – und rechts am Gehäuse vorbei zielte…

Senegal hatte das 3:3 und damit den Achtelfinal-Einzug gerettet, das aber wegen des holländischen Kartenspielers auch teuer bezahlt. Khalilou Fadiga würde das anstehende Spiel gegen Schweden gesperrt verpassen. Was allerdings mit Tunesien, Kamerun, Nigeria und Südafrika auch die anderen vier afrikanischen Teams zutraf, ebenso wie für die von Senegal im Eröffnungsspiel besiegten Franzosen und mit Argentinien auch er zweite Top-Favorit. Schon im Achtelfinale waren nur noch Außenseiter übrig, ein Feld, in das Senegal so gesehen gut passte.

„Le sorcier blanc“

Senegal, so sagte Mestu später einmal, habe ihm die Lust am Fußball wiedergegeben. Er selbst sah sich weniger als Taktikfuchs, sondern eher als eine Art „Chef de Mission“, einen, der es versteht, eine Gruppe als Mannschaft zum Funktionieren zu bringen. Weshalb er auch den Spitznamen des „Weißen Zauberers“, der ihm verpasst wurde, nie mochte. Wenn man nicht an seine Spieler glaube und seine Spieler vor allem auch gern habe, so sein Credo, kann man auch keine guten Resultate mit ihnen einfahren.

So wusste er etwa vor dem Eröffnungsspiel um alle die Stärken, die Frankreich zu dieser Zeit hatte. Er entschied sich aber dafür, seiner Mannschaft im Vorfeld ein Video zu zeigen, wo man die Schwächen der einzelnen Spieler beim Welt- und Europameister erkennen konnte. Um nicht in Ehrfurcht zu erstarren, sondern im Gegenteil den Glauben zu vermitteln, dass tatsächlich etwas möglich ist.

Experiment im Achtelfinale: Diouf am Flügel

Daran glaubte man natürlich auch im Achtelfinale, obwohl man gegen Schweden wiederum leichter Außenseiter war. Henke Larsson und Co. hatten die im Vorfeld als „Todesgruppe“ bezeichnete Staffel mit Argentinien, England und Nigeria sogar gewonnen und sie gingen auch gegen den Senegal nach elf Minuten durch einem Larsson-Kopfball nach einer Ecke in Führung. Der Senegal war nun das erste Mal wirklich gezwungen, das Spiel selbst zu machen, und das machten sie gar nicht schlecht.

Senegal - Schweden 2:1 n.V. (1:1, 1:1)
Senegal – Schweden 2:1 n.V. (1:1, 1:1)

Statt des nach seinem Brutalo-Foul gegen Dänemark immer noch gesperrten Salif Diao kam diesmal Amdy Faye ins halblinke Mittelfeld, die entscheidendere Änderung betraf aber Elhadji Diouf. Weil Linksaußen Fadiga fehlte, stellte Metsu seinen schnellen und trickreichen Mittelstürmer an die linke Außenbahn, dafür kam Pape Thiaw zu seinem allerersten Turnier-Einsatz, der 21-Jährige spielte im Sturmzentrum.

Einerseits zog sich Schweden nach dem Tor natürlich zurück, andererseits aber schnürte der Senegal die Skandinavier vor allem durch starkes Flügelspiel auch ziemlich hinten hinein. Auf der rechten Seite war es der einmal mehr bärenstarke Ferdinand Coly, der gemeinsam mit dem recht früh nach innen rückenden un zuweilen als zweite Sturmspitze spielenden Henri Camara für die Breite sorgte, auf der anderen Diouf.

Ihn auf den Flügel zu stellen, erwies sich als Goldgriff von Metsu. Diouf war sehr aktiv, immer anspielbar, verwickelte Mellberg und Jakobsson konsequent in 1-gegen-1-Duelle und wurde defensiv von Daf und Faye adäquat abgesichert. Als Camara nach 37 Minuten den hochverdienten Ausgleich erzielte, war das der neunte Torschuss vom Senegal. Schweden hatte bis dorthin genau einen – und das was das frühe Tor.

Gebremster Schwung

In der zweiten Hälfte stellte Metsu Diouf dann doch wieder ins Zentrum, Thiaw agierte dafür nun rechts und Camara wechselte auf die linke Seite. Er wollte wohl etwas mehr auch das dicht gestaffelte schwedische Zentrum anbohren, um für die Flügelspieler noch mehr Räume zu schaffen. Eine Maßnahme, die aber nicht ganz aufging – denn immer mehr präsentierte sich der Senegal in der zweiten Hälfte als One-Man-Team, in dem praktisch jede gefährliche Aktion nach vorne nur über Diouf ging.

Umso mehr, nachdem sich Innenverteidiger Malick Diop am Sprunggelenk verletzte, nach 66 Minuten raus musste. Weil Metsu keine gleichwertigen Innenverteidiger mehr auf der Bank hatte, musste Habib Beye kommen, dieser ist aber ein reiner Rechtsverteidiger. Somit übernahm Coly den rechten Innenverteidiger-Posten. Was defensiv keinen merkbaren Bruch verursachte, offensiv aber sehr wohl, denn obwohl Coly aus der Innenverteidiger-Position heraus weiterhin seine offensiven Pflichten als RV nachzugehen versuchte, fehlte nun natürlich der Punch aus der Tiefe.

Das Trainer-Duo der Schweden, Tommy Söderberg und Lars Lagerbäck, brachten in dieser Phase mit Andreas Andersson (für die rechte Seite) und dem 20-jährigen Stürmer-Talent Zlatan Ibrahimovic (für die Spitze neben Larsson) zwei neue Offensiv-Kräfte und vor allem Ibrahimovic sorgte zuweilen für mehr als nur Entlastung. Dennoch: Mit einem 1:1 ging’s in die Verlängerung.

Vollgas in der Verlängerung

Anstatt, wie bei Spielen mit Golden-Goal-Regel so oft der Fall, aber nun mehr Vorsicht an den Tag zu legen, gingen beide Teams voll auf den Sieg los. So traf für Schweden gleich mal Anders Svensson, nachdem er Diatta sehenswert aussteigen hat lassen, den Pfosten; im Gegenzug zielte Diouf nur knapp rechts am Tor vorbei. Das Offensiv-Trio des Senegal rochierte nun ziemlich wild: Diouf wich nun wieder viel auf die linke Seite aus; Camara agierte mal links, mal rechts; und Thiaw sorgte für Überzahl-Situationen in Ballnähe.

Und Thiaw war es letztlich auch, der das senegalisische Siegtor vorbereitete: Mit einem schnellen Horizontal-Lauf fünf Meter vor dem Strafraum zog er drei Schweden auf sich, legte mit der Ferse für den vertikal in den entstehenden Raum stoßenden Henri Camara ab. Dieser ging noch an Mjällby vorbei und zog ab: Das Tor, das 2:1, der Einzug ins Viertelfinale. Als erst zweites afrikanisches Team nach dem Kamerun zwölf Jahre zuvor.

Seltsames Turnier

„Der ganze afrikanische Kontinent drückt jetzt uns die Daumen“, hatte Metsu nach der Vorrunde, die seine Mannschaft ja als einzige des Kontinents überstanden hatte, selbstbewusst gesagt. Und in diesem Turnier war in der Tat auch für durchschnittliche Teams sehr viel möglich. Was mehrere Gründe hatte. Zum einen natürlich die übervolle Saison in Europa – zu dieser Zeit bestand die Champions League aus zwei Gruppenphasen, ehe die K.o.-Runde folgte. Dann natürlich die Hitze und gemeinsam mit der Hitze und vor allem der Luftfeuchtigkeit gerade bei den Spielen in Südkorea.

Und auch die im Vergleich zu Turnieren davor und danach zwei Wochen kürzere Vorbereitungszeit (das Turnier startete schon am 31. Mai) trug dazu bei, dass Top-Teams strauchelten und Außenseiter, ohne groß über ihre Verhältnisse zu spielen, weit kommen konnten. Frankreich, Argentinien und Portugal blieben schon in der Vorrunde auf der Strecke. England musste schon in der Gruppenphase an die Grenzen gehen und war im Viertelfinale gegen Brasilien dann schlicht und einfach körperlich leer. Spanien konnte den Schalter nach einer leichter Vorrunde, in der man unterfordert war, nicht auf mehr Ernsthaftigkeit umlegen und scheiterte gegen Südkorea auch am Referee.

Italien quälte sich schon in der Vorrunde und blieb dann im Achtelfinale ebenso an Südkorea hängen – wobei die Entscheidungen von Schiedsrichter Byron Moreno gar nicht sooo falsch waren, wie sie in Erinnerung blieben. Andererseits aber schaffte es ein wirklich nicht besonders gutes US-Team ins Viertelfinale, kam ein wirklich nicht besonders gutes deutsches Team nur dank der überragenden Kahn und Ballack ins Finale. Dazu trumpfte Brasilien, in den vier Jahren davor die reinste Chaos-Truppe, angeführt von Ronaldo, Ronaldinho und Rivaldo auf.

Ungewöhnlich uninspriert gegen tolle Türken

Und die Türkei kam zur ihrer Sternstunde. In einer Gruppe mit Costa Rica und den heillos überforderten Chinesen belegte man hinter Brasilien Platz zwei, unbekümmert eliminierten die Türken dann im Achtelfinale des Co-Gastgeber aus Japan, der von seltsamen Umstellungen des eigenwilligen Teamchefs Philippe Troussier verunsichert und von der Chance, daheim ins Viertelfinale zu kommen, mental überwältigt war. Man darf aber nicht den Fehler machen, zu glauben, die Türken wären nur durch glückliche Umstände so weit gekommen. Nein, Teamchef Senol Günes hatte einerseits einen sehr guten Kader zur Verfügung, verpasste diesem ein hochinteressantes taktisches Konzept, mit dem man eine der aufregendsten Teams einer sonst nicht so aufregenden WM wurde. Dazu stieg das Selbstvertrauen der Mannschaft von Spiel zu Spiel.

Anders als beim Senegal, wo eher die Selbstverliebtheit gestiegen war. Metsu machte diese Beobachtungen im Vorfeld des Viertelfinales, und er artikulierte dieses Gefühl später dann auch. Die Spieler hätten begonnen, den entstehenden Hype um sie selbst zu glauben. Die lockere Stimmung breitete sich auch auf das Spielfeld aus, dort, wo bei allem Laissez-faire noch immer große Disziplin geherrscht hatte. Was sich dann auch im Spiel gegen die Türken zeigen sollte. Vor allem Khalilou Fadiga, der nach seiner Gelbsperre wieder spielberechtigt war, tauchte völlig ab. Aber auch das zentrale Mittelfeld, das sich bis dahin als stark im Ballgewinn und schnellen Umschalten präsentiert hatte, agierte nicht nur ungewöhnlich zahm, sondern vor allem ausgesprochen zögerlich und vorsichtig.

Senegal - Türkei 0:1 n.V.
Senegal – Türkei 0:1 n.V.

Ferdinand Coly, der so brilliante Rechtsverteidiger, wirkte müde und von zahlreichen Wehwehchen geplagt, konnte den an sich gigantischen Platz vor ihm nicht nützen. So hingen Henri Camara und Elhadji Diouf, die sich wirklich bemühten, ziemlich in der Luft. Anders die türkischen Offensiv-Kräfte. Beim Team von Senol Günes gab es vor der Viererkette einen Sechser, Tugay half dort gegen Diouf und bediente die Achter. Das war halblinks Emre, der eher die Pässe schlug als selbst nach vorne zu gehen, und rechts Ümit Davala, der Achter, offensiver Außenverteidiger und Rechtsaußen in Personalunion war. Dazu gab es mit Bastürk und dem Glatzkopf Hasan Sas, der ein unglaubliches Turnier zeigte, zwei Spielmacher mit allen erdenklichen Freiheiten. Und vorne mit Hakan Sükür eine Strafraum-Kobra, die das Spiel schon früh entscheiden hätte können, wenn er nicht so eine unglaubliche Un-Form gehabt hätte und größte Chancen versemmelt hätte.

Keine Wechsel von Metsu

Die einzige echte Chance für den Senegal hatte Henri Camara kurz vor der Halbzeit, aber ein Tor für die Türken schien an diesem Abend in Osaka immer näher zu sein als eines für die Afrikaner. Umso mehr, als Günes halb durch die zweite Halbzeit den indisponierten Sükür vom Platz nahm und Joker İlhan Mansız brachte. Der in Schwaben geborene und aufgewachsene Stürmer, der sich später auch als Mode-Designer und Eiskunstläufer (!) versuchen sollte, prüfte gleich nach seiner Einwechslung Tony Sylva, konnte ihn weder da noch in der folge überwinden, womit es mit einem 0:0 nach 90 Minuten in die Verlängerung ging.

Metsu war während des ganzen Turniers tendenziell eher sparsam mit seinen Wechseln umgegangen. Gegen Frankreich gab es keinen einzigen, gegen Schweden einen und auch gegen Uruguay wechselte er nur verletztungsbedingt, bzw. um Coly vorm Ausschluss zu bewahren. Nur gegen Dänemark drehte er das komplette Team während des Spiels um. Dennoch ist es erstaunlich, dass er gerade im Viertelfinale, als zumindest fünf Spieler deutlich unter Form agierten, alle elf Akteure aus der Startformation durchspielen ließ, keinerlei Impulse setzte, keine neuen und vor allem frischen Kräfte brachte. Auch in der Verlängerung nicht. In der nach drei Minuten Ümit Davala einen seiner vielen Sprints auf der rechten Seite anzog und seine Flanke den vor dem Tor postierten İlhan fand. Für den fühlten sich weder Malick Diop noch Lamine Diatta verantwortlich, sodass der Türke unbedrängt zu einem sehenswerten Volley-Drehschuss ansetzen konnte, gegen den Sylva machtlos war. Die Türkei war damit im Halbfinale, die Reise des Senegal bei dieser WM-Endrunde war vorbei.

One Hit Wonder

Der Niederlage zum Trotz: Der Senegal hatte ein großartiges Turnier gespielt und die Trauer über den verpassten Halbfinal-Einzug wich schnell dem Stolz über das Erreichte. Als erst zweites afrikanisches Team war man ins WM-Viertelfinale vorgestoßen, was für die bis dahin international völlig unbekannten Spieler das Tor zur großen Fußball-Welt öffente und auch die Möglichkeit brachte, den in Südkorea und Japan erzielten Erfolg zu versilbern. Doch wer glaubte, das senegalesische Team würde sich als neue Nummer eins Afrikas etablieren können, sah sich schnell eines Besseren belehrt. 2004 und 2006 ging es noch ins Viertel- bzw. Halbfinale des Afrikacups, bei dem man seither nie mehr auch nur die Vorrunde überstanden hat. Weder bei der WM in Deutschland noch bei der in Südafrika war der Senegal dabei. Metsu hat das womöglich geahnt, legte nach der WM sein Amt zurück.

Wie durchschnittlich der Kader eigentlich besetzt war, wird deutlich, wenn man sich den weiteren Karriere-Verlauf der Spieler ansieht. Diouf fiel bei Liverpool komplett durch, war bei Bolton noch ganz okay, findet aber seither nirgendwo mehr wirklichen Anschluss. Diatta versuchte sich ohne Glück bei Lyon, Diao setzte sich bei Liverpool nicht durch, Fadiga weder bei Inter noch bei Bolton. Respektable Premier-League-Karrieren können Bouba Diop (Fulham und Portsmouth), Cissé (Birmingham und Portsmouth) und Camara (Wigan) vorweisen; Tony Sylva wurde vom dritten Monaco-Torhüter zum Lille-Stammgoalie. Wirkliche Welt-Stars wurden sie aber allesamt nicht.

Metsu, der in seinen 20 Monaten im Senegal zum Islam konvertiert war, ging in den arabischen Raum, wo er große Erfolge feierte. Champions-League-Sieger mit dem FC Al-Ain, dazu drei nationale Meistertitel in Katar und den Emiraten. Außerdem erreichte er 2011 als Teamchef von Gastgeber Katar das Viertelfinale im Asien-Cup, wo man knapp am späteren Sieger Japan scheiterte. Trotzdem: Für alle Beteiligten bleibt als größte Leistung ihrer Karriere das WM-Viertelfinale mit dem Senegal hängen. Obwohl – oder gerade weil – es ein klassisches One-Hit-Wonder war.

Metsu war 2004 im Gespräch als französischer Teamchef, nach der verkorksten EM in Portugal bekam aber Raymond Domenech den Vorzug. Vor anderhalb Jahren, nach einem peinlichen Vorrunden-Aus beim Afrika-Cup, war er in der engeren Auswahl für eine Rückkehr als Nationaltrainer des Senegal. Daraus wurde auch nichts. Wenig später wurde bei Metsu Darmkrebs diagnostiziert.

Diesen Kampf gewann er nicht.

(phe)

Foto: www.dohastadiumplusqatar.com via fr.wikipedia.org

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Ballverliebt Classics: Old-School-Deutsche, im WM-Finale vom hochmodernen Norwegen zerlegt https://ballverliebt.eu/2013/07/26/ballverliebt-classics-old-school-deutsche-im-wm-finale-vom-hochmodernen-norwegen-zerlegt/ https://ballverliebt.eu/2013/07/26/ballverliebt-classics-old-school-deutsche-im-wm-finale-vom-hochmodernen-norwegen-zerlegt/#comments Fri, 26 Jul 2013 20:45:12 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=9260 Ballverliebt Classics: Old-School-Deutsche, im WM-Finale vom hochmodernen Norwegen zerlegt weiterlesen ]]> Deutschland gegen Norwegen im Finale eines großen Frauen-Turniers in Schweden – das EM-Finale 2013 ist nicht das erste Mal, dass es diese Kombination gibt. Im Jahr 1995 fand die Weltmeisterschaft in Schweden statt, und auch damals trafen sich diese beiden Teams im Endspiel von Stockholm. Wenn auch mit anderen Vorzeichen: Norwegen war klarer Favorit und setzte sich auch problemlos mit 2:0 durch.

Weil man unter Trainer Even Pellerud dem deutschen Gegner mit brutalem Pressing und extrem schnellen Umschalten nach Ballgewinn innerhalb kürzester Zeit den Nerv gezogen hatte. Das ist sogar im Jahr 2013, achtzehn Jahre später, ein extrem moderner Zugang.

Norwegen - Deutschland 2:0 (2:0)
Norwegen – Deutschland 2:0 (2:0)

Dabei fehlte Norwegen mit Sechser Heidi Støre das eigentliche Hirn der Mannschaft, sie war im Semifinale gegen China ausgeschlossen worden. Statt ihre rückte Anne Nymark-Andersen in die Mannschaft. Ein Niveau-Verlust in Pelleruds 4-3-3 war nicht zu merken. Der damals 42-Jährige stellte hinten eine Viererkette auf’s Feld, in der die Außenverteidiger aber vornehmlich hinten blieben. Davor aber ging’s rund.

Mit dem zentralen Trio, bestehend aus eben Anne Nymark, dazu Tone Haugen halblinks und Hege Riise – der kongenialen Partnerin von Heidi Støre – rückte gegen den Ball eng zusammen und wurde dabei von den drei Stürmerinnen, die ebenso alle gegen den Ball arbeiten mussten, unterstützt. Dabei stürzten sich immer mindestens zwei, meistens aber sogar drei Norwegerinnen auf die ballführende Deutsche.

Die hatte dadruch oft nicht mal die Zeit, den Ball vernünftig anzunehmen, von einer sinnvollen Weiterverarbeitung ganz zu schweigen. So wurde ein Aufbau des DFB-Teams im Keim erstickt und es gab viele norwegische Ballgewinne in der deutschen Hälfte. Daraufhin wurde blitzschnell umgeschaltet. Die deutschen Manndecker Anouschka Bernhard und Birgitt Austermühl hatten keine echten Gegenspieler und hingen entweder in der Luft oder ließen sich von Aarønes und Pettersen außen aus der Position ziehen. Libero Ursula Lohn war heillos überfordert, schlug am laufenden Band an Bällen vorbei, war gedanklich zu langsam.

Als Riise das 1:0 für Norwegen erzielte, war die einzige Überraschung, dass es 37 Minuten gedauert hatte.

DFB-Team ohne den Funken einer Chance

Deutschland hatte Probleme von hinten bis vorne. Die Abwehr versank im Chaos, die Flügelspieler Pohlmann und Meinert rieben sich in der Defensive auf und konnten keine Impulse setzen, den Kreativspielerinnen Silvia Neid und Martina Voss fehlte die Zeit am Ball – und Birgit Prinz vorne war sogar noch die mit Abstand schlechteste Deutsche. Die damals gerade mal 17-jährige Stürmerin konnte nicht einen Ball halten, womit auch die Option „hoher Ball“ für Deutschland nicht in Frage kam.

Einzig der schlampigen Chancenverwertung von Norwegen hatte es das komplett chancenlose deutsche Team zu verdanken, dass es nicht schon viel früher deutlich im Rückstand lag. Am Ende der ersten Hälfte stand es 9:0 an Eckbällen für Norwegen, 8:2 an Torschüssen – eine ernsthafte deutsche Torchance war da aber nicht dabei. In der 37. Minute sorgte ein Riise-Weitschuss für die Führung, drei Minuten später erkämpfte sich Aarønes einen Pressball an der Strafraumgrenze, dieser kam zu Medalen. Deren Schuss konnte DFB-Goalie Goller nur zur Seite abklatschen, wo Pettersen völlig frei stand. Der Pausenstand von 2:0 für Norwegen schmeichelte Deutschland massiv.

Weniger Druck von Norwegen, aber kaum deutsche Gefahr

DFB-Teamchef Gero Bisanz nahm Prinz schon vor der Halbzeit raus und brachte statt ihr die routinierte Patricia Brocker. Sie ließ sich dann deutlich weiter ins Mittelfeld fallen, um dort das deutsche Spiel zu stärken. Und tatsächlich bekam Deutschland nach dem Seitenwechsel deutlich Ruhe ins Spiel. In der 49. Minute hatte Heidi Mohr die erste echte Mini-Chance für ihr Team, als ein Steilpass in den Rücken der Viererkette ankam.

Deutschland kam aber auch deshalb besser ins Spiel, weil Norwegen einen Gang zurückschaltete. Völlig logisch: Einerseits führte man 2:0, andererseits hatte das ohnehin laufintensive Spiel beim starken Regenfall und dem damit tiefen Boden noch mehr Substanz gekostet als sonst. Das Mittelfeld-Trio agierte nun deutlich tiefer. Bisanz brachte im Laufe der zweiten Hälfte noch die junge Wunderlich und die noch jüngere Smisek (positionsgetreu für die Flügelspieler Pohlmann und Meinert).

Aber echter, dauerhafter Druck konnte gegen die sicher stehenden Norwegerinnen nicht erzeugt werden. Erst ein Kopfball von Silvia Neid in der 76. Minute kam einem möglichen Torerfolg tatsächlich Nahe, ebenso wie Smisek in der 85. Minute. Aber ein wirklicher Impuls von draußen kam nicht – wenig überraschend, in einer Zeit, in der Deutschland generell von taktischen Finessen wenig gehalten wurde.

Norwegen brachte das 2:0 problemlos drüber, ohne noch viel zu tun. Auch bei Kontern rückten maximal drei Spielerinnen mit auf – Kontrolle war angesagt.

Geschichtliche Einordnung

Norwegen war damals – dem EM-Semifinal-Aus gegen Schweden vier Monate vorm WM-Endspiel zum trotz – die klare Nummer eins in Europa und auch weltweit in der absoluten Spitze. 1991, bei der ersten Frauen-WM, verlor man das Finale gegen die USA erst durch ein Gegentor zwei Minuten vor Schluss mit 1:2, war 1993 Europameister und wurde 1995 eben Weltmeister – mit 23:1 Toren in sechs Spielen, als mit massivem Abstand beste Mannschaft des Turniers.

Es war der absolute Höhepunkt der großen Generation um Heidi Støre und Hege Riise. Sechs Spielerinnen vom Finale 1991 (Støre, Riise, Espeseth, Haugen, Medalen und Svensson) waren auch in Stockholm dabei. Dazu hatte man mit Turnier-Schützenkönigin Ann-Kristin Aarønes, 1.82m groß und kopfballstark, als in den Strafraum ziehende Linksaußen eine kaum zu verteidigende Waffe dazubekommen, dazu mit Bente Nordby eine solide Torfrau. Die unveränderte Mannschaft holte ein Jahr später Olympia-Bronze in Atlanta.

Und auch die nächste Generation aus Norwegen holte mit Gold in Sydney noch einen großen Titel – das einzige Olympia-Turnier, das nicht die USA gewannen.

Bei Deutschland entwickelte sich eine Mannschaft, die in den kommenden fünfzehn Jahren zur dominanten Kraft der Frauenfußball-Welt wurde – mit der im Finale von Stockholm erst 17-jährigen Birgit Prinz als Gesicht der Mannschaft. Mit ihr begann der Aufstieg zur echten Macht, mit ihrem Karriere-Ende war auch der Nimbus der deutschen Unbesiegbarkeit verflogen. Aber zwei WM-Titel (2003 und 2007) und fünf EM-Titel (1995, 1997, 2001, 2005, 2009) sprechen eine deutliche Sprache.

Und ein sechster EM-Titel in Folge kommt dazu – wenn man die Revanche für damals, das EM-Finale 2013, gegen Norwegen gewinnt.

Das Personal

Norwegen: Bente Nordby (20) – Tina Svensson (28), Nina Nymark Andersen (22), Gro Espeseth (22), Merete Myklebust (22) – Hege Riise (25), Ana Nymark Andersen (22), Tone Haugen (31) – Marianne Pettersen (19), Linda Medalen (29), Ann-Kristin Aarønes (22). Teamchef Even Pellerud (42, seit sechs Jahren).

Deutschland: Manuela Goller (24) – Birgitt Austermühl (29), Ursula Lohn (28), Anouschka Bernhard (24) – Maren Meinert (22), Silvia Neid (31), Bettina Wiegmann (23), Martina Voss (27), Dagmar Pohlmann (23) – Birgit Prinz (17), Heidi Mohr (28). Eingewechselt: Particia Brocker (29), Pia Wunderlich (20), Sandra Smisek (17). Teamchef Gero Bisanz (59, seit 13 Jahren).

(phe)

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Ballverliebt Classics: Färöer II. https://ballverliebt.eu/2013/03/20/ballverliebt-classics-faroer-ii/ https://ballverliebt.eu/2013/03/20/ballverliebt-classics-faroer-ii/#comments Wed, 20 Mar 2013 14:56:08 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=8442 Ballverliebt Classics: Färöer II. weiterlesen ]]> Vom Winde verwehrt: 18 Jahre nach Landskrona versuchte sich wieder ein österreichisches Nationalteam auswärts gegen die Färinger, und wieder war das Resultat eine Blamage. Keine Jahrhundert-Peinlichkeit wie das Spiel im September ’90 zwar, aber in ihrer Entstehung nicht weniger dämlich – und in der Erinnerung auch wegen der „Radio-Übertragung“ von Thomas König (der ORF bekam kein Bildsignal) berüchtigt. Im teils heftigen Sturm auf den Schafsinseln agierte das Team fast ausschließlich mit hohen Bällen. Das 1:1 war letztlich auch der Anfang vom Ende der kurzen Ära Brückner.

Färöer - Österreich 1:1 (0:0)
Färöer – Österreich 1:1 (0:0)

„Du kannst bei so einem Gegner nicht sagen, ‚du musst auf das oder auf das aufpassen‘, wenn die davor 21 Spiele lang ohne Sieg waren!“ – So bilanzierte Herbert Prohaska das Spiel danach. Es hätte vermutlich aber schon gereicht, wenn man der Mannschaft gesagt hätte: „Da hat’s einen ziemlich üblen Wind, vermeidet hohe Bälle um jeden Preis.“

Das Gegenteil war der Fall: Die allzu offensichtliche Vorgabe war, es ausschließlich mit hohen Bällen zu versuchen.

System und Raumaufteilung

In seinem vierten Länderspiel als Teamchef war Karel Brückner erstmals von seinem Hybrid aus 4-1-4-1 und 4-3-3 abgegangen und stellte ein 4-4-2 auf. Gegen den wie erwartet sehr tief stehenden Gegner mit dessen zwei dichten Viererketten standen vorne Leuchtturm Janko und Wusler Hoffer. Der Plan war klar: Janko soll die hohen Bälle annehmen und Hoffer bedienen bzw. diesem den Weg freiblocken.

Die Flügel waren nicht synchron besetzt. Auf der rechten Seite hatte RV Garics durchaus den Vorwärtsgang drin, Vordermann Harnik rückte relativ früh ein und sollte von Garics – zumindest in der Theorie – hinterlaufen werden. Links hingegen war Emanuel Pogatetz deutlich vorsichtiger, wodurch sich mitunter hinten eine De-facto-Dreierkette ergab.

Der Wind fängt die hohen Bälle

Die beiden Viererketten der Färinger fingen rund 30 Meter vor dem eigenen Tor an, den ballführenden Österreicher aggressiv zu doppeln. Nicht aber im Sinne von Pressing, sondern mit ganz erdigen, körperbetonten Zweikämpfen. Dass der slowenische Referee Ceferin das Spiel eher an der langen Leine ließ, kam den Färingern da durchaus zu Pass.

Die Folge war, dass die hohen Bälle von immer weiter hinten in die grobe Richtung von Janko und Hoffer geschlagen wurden. Das Hauptproblem dabei war der Wind: In der ersten Hälfte spielte Österreich mit Rückenwind und dieser fing die Bälle ab einer Höhe von etwa fünf Metern ein. Präzision war dadurch völlig unmöglich, zudem waren die Gastgeber diese Bedingungen natürlich gewöhnt.

Kaum Kombinationsspiel

Von einem Aufbauspiel der Färinger zu sprechen, wäre eine Übertreibung: Die Abschläge von Torhüter Mikkelsen plumpsten, gegenwindbedingt, schon deutlich vor der Mittellinie zu Boden. Versuche, aus dem Mittelfeld die beiden Stürmer Hansen und Holst zu bedienen, scheiterten an der Ungenauigkeit und der Hast, mit der diese Pässe gespielt wurden. Versuche, den Ball mal ein wenig in den eigenen Reihen zu halten, endeten zumeist beim eigenen Torhüter und einem Abschlag, der wiederum Opfer des Windes wurde.

Der die Österreicher aber weiterhin nicht davon abhielt, den Ball in die Höhe zu bringen. Was auch deshalb nötig war, weil es de facto kein Kombinationsspiel ab. Auf den Außenbahnen preschten zwar Garics und Fuchs nach vorne, sie taten das zumeist allerdings ohne einmal mit einem Doppelpass den Gegner auszuspielen.

Dennoch genug gute Chancen

Einen Schönheitspreis hat niemand verlangt, und auch wenn die Herangehensweise mit den langen Bällen kein wirklich taugliches Rezept war, heißt das nicht, dass es nicht dennoch genug Chancen gegeben hätte. So wurde ein Schuss von Hoffer aus spitzem Winkel auf der Linie geklärt (9.), konnte Färöer-Goalie Mikkelsen einen Janko-Kopfball aus kurzer Distanz halten (16.), verpasst Harnik eine Flanke von links nur knapp (18.). Nach einem zu kurzen und zu ungenauen Freistoß der Färinger an der Mittellinie fing Ivanschitz den Ball ab und schickte Janko in den für einmal offenen Rücken der Abwehr, aber auch aus dieser Chance wurde nichts (26.). Und schließlich schob der für den verletzten Harnik eingewechselte Andi Hölzl einen Abpraller nach einem Freistoß am Tor vorbei (32.).

Stranzl etwas unglücklich

Prödl und Stranzl waren in der ersten Hälfte null gefordert – die Gastgeber brachten in der ersten Hälfte nur einen Schuss auf das Gehäuse von Alex Manninger – und vor allem Stranzl machte in der Folge einen eher schläfrigen Eindruck. Eine Minute und 20 Sekunden nach Beginn der zweiten Hälfte rückte er bei einem Angriff der Färinger etwas halbherzig heraus und ließ Bogi Løkin in seinem Rücken entwischen. Der 19-Jährige, der den angeschlagenen Borg auf der rechten Mittelfeld-Seite ersetzte, schob mühelos zum 1:0 ein.

Im direkten Gegenzug machte Stranzl seinen Patzer wieder gut, indem er eine von Arnbjørn Hansen per Kopf verlängerte Ivanschitz-Ecke im Fallen aus kurzer Distanz zum 1:1 über die Linie drückte, aber hinten blieb er weiterhin anfällig – wenige Minuten nach dem Ausgleich ließ er erneut einen Färinger laufen. Diesmal wurde die Schläfrigkeit aber nicht bestraft.

Österreich spielte in dieser zweiten Hälfte nun mit Gegenwind. Das mag auch ein Grund sein, warum nun deutlich weniger schnell nachgerückt wurde. Dadurch wurden auch weniger zweite Bälle erkämpft und es fiel den Färingern zunehmend leichter, gute österreichische Chancen zu verhindern. In der 61. Minute scheiterte Janko aus einem Meter an Goalie Mikkelsen, sonst war nicht viel los. Weshalb Brückner nach 67 Minuten ein ein 3-4-3 umstellte.

Mit dem Kopf durch die Wand

Ab Minute 67
Ab Minute 67

Je länger das Spiel aber dauerte, umso mehr war es geprägt von immer verzweifelteren Einzelaktionen, anstatt sich am Zusammenspiel zu versuchen. Das sah in der Regel so aus, dass einer einen Alleingang startete und die Teamkollegen ihm, ohne sich groß selbst zu bewegen, dabei zusahen.

Nicht selten war ein Spieler in Rot von drei Weißen umringt, aber niemand bot sich zum Helfen an. Die Abstimmung der drei Stürmer vorne passte nicht, daran konnte auch der zehn Minuten vor Schluss für Janko eingewechselte Arnautovic nichts mehr ändern. In Minute 75 zielte Jimmy Hoffer bei einem Torschuss ein wenig zu hoch – es war die einzige echte Tormöglichkeit in der letzten halben Stunde.

Die Färinger brachten das 1:1 ohne wirklich in Gefahr zu kommen über die Zeit. Das zweite Mal, dass man dem ÖFB-Team ein starkes Resultat abtrotzen konnte.

Die Auswirkungen

So blöd es klingt: Rein sportlich hatte der Punktverlust in Tórshavn keine allzu gravierenden Folgen – zu weit war man am Ende ohnehin von der Konkurrenz in der Gruppe entfernt. Viel schlimmer waren aber einerseits die psychischen Folgen einer erneuten Blamage gegen die Färöer-Inseln und die unmittelbar nach dem Spiel einsetzenden Selbstzerfleischung. Dass die Funktionäre schnellstmöglich ausgeflogen wurden, während sich die Spieler die Nacht am Flughafen um die Ohren schlagen mussten – wegen des Windes wurde ein Startverbot verhängt – monierte etwa Marc Janko lautstark und bekam dafür einen ordentlichen Rüffel und viel Häme.

Zermürbt von den medialen Prügeln, der unglücklichen Heimreise und dem Wissen um die Blamage war Österreich vier Tage später im Heimspiel gegen Serbien völlig chancenlos und lag nach 25 Minuten schon 0:3 im Rückstand. Die Hoffnung auf eine WM-Qualifikation war schon nach dem vierten Spiel endgültig dahin, der Schwung aus der eh ganz okay verlaufenen Heim-EM, dem Test-Remis gegen Italien und dem erfreulichen 3:1-Sieg im ersten WM-Quali-Spiel gegen Frankreich war komplett verfolgen.

Teamchef Karel Brückner, der nach der EM und sieben Jahren als tschechischer Teamchef eigentlich in Pension gehen wollte und von ÖFB-Präsident Stickler aus selbiger geholt wurde, war nach dem 0:2 in Litauen schon ein wenig angezählt. Nach dem Doppelspieltag mit dem 1:1 in Tórshavn und dem 1:3 gegen Serbien bildete sich endgültig eine massive Front gegen den Tschechen. Ihm wurde vorgehalten, sich zu wenig in Österreichs Stadien blicken zu lassen, seinen Wohnsitz nicht von Olmütz nach Wien zu verlegen, mitunter die Vornamen der Spieler nicht zu kennen. Kurz: Desinteresse am Teamchef-Posten.

Es folgten eine schlechte Leistung beim 2:4 in einem Freundschaftsspiel gegen Türkei und eine desaströse im Februar 2009 beim 0:2 gegen Schweden, ehe Brückner nach nur sieben Spielen im Amt das Handtuch warf. Der kurz zuvor als Stickler-Nachfolger ins Amt des ÖFB-Präsidenten gekommene Leo Windtner installierte Didi Constantini als neuen Teamchef. Es folgte eine Ära, die gemeinhin, nun ja, nicht so gut davonkommt.

Das Personal

Österreich: Alex Manninger (31, Juventus) – Gyuri Garics (24, Atalanta), Sebastian Prödl (21, Bremen), Martin Stranzl (28, Spartak Moskau), Emanuel Pogatetz (25, Middlesbrough) – Martin Harnik (21, Bremen), Paul Scharner (28, Wigan), Andreas Ivanschitz (24, Panathinaikos), Christian Fuchs (22, Bochum) – Jimmy Hoffer (21, Rapid), Marc Janko (25, Salzburg). Eingewechselt: Andreas Hölzl (23, Sturm Graz), Roman Kienast (24, Helsingborg), Marko Arnautovic (19, Twente). Teamchef: Karel Brückner (Tscheche, 68, seit zwei Monaten).

Färöer: Jakup Mikkelsen (38, Klaksvík) – Jónas Tór Næs (21, Köge/Dänemark), Egil Bø (34, Streymur), Jón Rói Jacobsen (25, Frem Kopenhagen), Jóhan Davidsen (20, Runavík) – Jákup Borg (28, HB Tórshávn), Atli Danielsen (25, Frem Kopenhagen), Mikkjal Thomassen (32, Streymur), Christian Høgni Jacobsen (28, AB Kopenhagen) – Christian Holst (26, Silkeborg/Dänemark), Arnbjørn Hansen (22, Streymur). Eingewechselt: Bogi Løkin (19, Runavík), Frodi Benjaminsen (30, HB Tórshavn), Andrew Fløtum (29, HB Tórshavn). Teamchef: Jógvan Martin Olsen (47, seit drei Jahren).

(phe)

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