Zidane – Ballverliebt https://ballverliebt.eu Fußball. Fußball. Fußball. Sun, 04 Jun 2017 07:22:48 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.7.2 Real holt wieder die CL: Wie ist das einzuordnen? https://ballverliebt.eu/2017/06/04/real-madrid-zidane-juventus-einordnung-sacchi-guardiola/ https://ballverliebt.eu/2017/06/04/real-madrid-zidane-juventus-einordnung-sacchi-guardiola/#comments Sun, 04 Jun 2017 07:21:53 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=13538 Real holt wieder die CL: Wie ist das einzuordnen? weiterlesen ]]> Real Madrid hat also den Champions-League-Titel verteidigt. Als erstes Team seit dem Re-Branding des Landesmeister-Pokals 1992/93 bzw. der Einführung der Gruppenphase ein Jahr davor. Das 4:1 gegen Juventus Turin zementiert den Platz dieses Teams in der Fußball-Geschichte. Aber wie ist Zidanes Real etwa mit Sacchis Milan oder Guardiolas Barcelona zu vergleichen?

Real Madrid – Juventus Turin 4:1 (1:1)

Der Schlüssel zum Erfolg des aktuellen Teams von Real Madrid liegt in der Balance und der Stabilität, welche Zinedine Zidane mit seinem System und seiner Taktik verleiht. Als in den letzten Wochen Isco – der immer eher Edel-Joker war – für den verletzten Bale in die erste Elf rückte, wurde diese noch einmal auf ein neues Level gehoben.

Die beiden Achter von Real – also Modric und Kroos – agieren in der Grundformation recht weit hinten und kippen gerne ein wenig seitlich ab. Das erlaubt den Außenverteidigern – also Marcelo und Carvajal – ein schwungvolles Aufrücken, weil sie in ihrem Rücken keine Löcher offenbaren. Wenn man so spielt, entsteht aber in der Regel ein Loch im Halbfeld, weil das der Raum ist, um den sich sonst der Achter kümmert.

Schlüsselspieler Isco

Und hier kommt Isco ins Spiel. Er ist nicht fix an eine Position gebunden, sondern hat einen extremen Radius und er ist auch nicht eine Nummer zehn im klassischen Sinn, sondern eher der ultimative Balance-Geber, wo immer er gerade gebraucht wird. Der vor vier Jahren von Málaga gekommene Isco ist die Rückversicherung für alle Bereiche des Offensivspiels – und des Defensivspiels.

Da Modric und Kroos seitlich defensiv agieren können, ohne vor ihnen Platz zu geben (weil ja Isco da ist), konnten die raumgreifenden Laufwege von Dybala – von einer recht wild von Juventus gestalteten Anfangsphase – nie eine wirkliche Wirkung entfalten. Sobald sich das Spiel nach ein paar Minuten gelegt hatte, kamen die Italiener kaum zur Geltung.

Auch mit Spielglück

Juve verteidigte in zwei Viererketten. Isco wurde mit Back-up übergeben, konnte so offensiv keine Wirkung entfalten; die Außenspieler im Mittelfeld (Dani Alves rechts, Mandzukic links) rückten immer wieder ein, um die Kreise von Kroos und Modric einzuengen. Juve-Linksverteidiger Alex Sandro wusste genau, wie er gegen Carvajal spielen musste; Marcelo war zwar aktiv, hatte mit Barzagli aber einen gelernten Innenverteidiger gegen sich.

Erst ein Real-Konter mit schlechter Staffelung bei Juventus, ein gescheitert Doppelpass und ein abgefälschter Schuss von Ronaldo sorgten für die Real-Führung, die dank Mandzukic‘ Fallrückzieher nicht lange hielt. Das Spiel war auf höchstem taktischen Niveau, aber relativ statisch – bis zu Casemiros krummem Ding nach einer Stunde.

Das war weder besonders gut gemacht von Real Madrid noch dramatisch schlecht gemacht von Juventus, es war letztlich einfach Glück/Pech (je nach Sichtweise). Drei Minuten nach dem 2:1 war die Juve-Innenverteidiger noch ein zweites mal nicht gut postiert und es hieß 3:1 – die Entscheidung. Man kann nicht mal mehr wirklich von „Faden verlieren“ sprechen, es war einfach vorbei. Asensios Tor in der Nachspielzeit hatte nur noch kosmetischen Wert.

Wo steht dieses Real-Team?

Real Madrid hat nun drei der letzten vier CL-Titel geholt. Das ist eine unglaubliche Leistung, die gerade bei der Leistungsdichte im modernen Spitzenfußball umso erstaulicher ist. Das zieht automatisch Vergleiche mit zwei anderen großen Teams nach sich: Das Milan der Sacchi-Jahre (die letzten Back-to-Back-Sieger) und das Barcelona der Guardiola-Jahre (zwei Siege in drei Jahren und Grundstock für die Dominanz auch des spanischen Nationalteams).

Finale 1990: Milan – Benfica 1:0 (0:0)

Sacchi brachte mit seiner Vorstellung vom Fußball beinahe eine Revolution in Gang. Extrem enge Abstände zwischen den Mannschaftsteilen, Abkehr von der gerade in Italien als heiliger Kuh behandelten Manndeckung, Vielseitigkeit der Spieler und eine Neuinterpretation der Viererkette.

Milan gewann so den Meistercup 1989 (mit einem 5:0 im Halbfinale gegen Real Madrid sowie einem 4:0 im Endspiel gegen Steaua Bukarest) und wiederholte den Triumph 1990 beim Finale in Wien mit einem 1:0 über Benfica Lissabon mit Trainer Sven-Göran Eriksson.

Das war stilprägend für viele Jahre und noch in den mittleren und späten Nuller-Jahren betrachtete etwa Walter Schachner diese Interpretation des 4-4-2 als Höhepunkt der Fußballgeschichte und er versuchte, dem Vorbild entsprechend nahe zu kommen (wie beim Titel mit dem GAK 2004). Sacchis Vorbild strahlte also nicht nur auf andere Spitzenteams aus, sondern hatte großen Einfluss selbst auf die Verästelungen der Fußballwelt.

Und auch auf Milan selbst: Sacchis Nachfolger Fabio Capello baute auf dem Fundament auf, erreichte von 1993 bis 1995 dreimal hintereinander das Champions-League-Finale und gewann jenes von 1994 mit einem überragenden 4:0 gegen den FC Barcelona.

2011: Barcelona – Manchester Utd 3:1 (1:1)

Jener FC Barcelona installierte 2008 Pep Guardiola und er verwandelte das RIjkaard-Team, das er übernommen hat, von einer direkten und auch mit relativ vielen langen Bällen agierenden Mannschaft in die ultimative Ballbesitz-, Pressing- und Dominanzmaschine. Schon in seinem ersten Jahr gewann er das Triple – inklusive einem 2:0 im CL-Finale gegen Manchster United, zwei Jahre später gab es im Endspiel ein unerhört dominantes 3:1 gegen den selben Gegner.

In seinen vier Jahren beim Klub gewann Guardiola 3x die Meisterschaft, 2x die Champions League, 2x den Weltpokal und 2x den spanischen Pokal, dazu 3x den spanischen und 2x den europäischen Supercup. Das spanischen Nationalteam, das unter Vicente del Bosque den Barcelona-Stil kopierte, wurde 2010 Welt- und 2012 Europameister.

Verschüchterte Gegner verbunkerten nur noch die Strafräume, viele andere Teams übernahmen vor allem das Pressing-Element – mache besser (Dortmund), manche weniger gut (die meisten Teams der österreichischen Liga, zum Beispiel). Der viel zu früh verstorbene Tito Vilanova und dessen Nachfolger Luis Enrique übernahmen das breite Fundamet, Enrique gewann 2015 ebenso das Triple.

Finale 2016: Real – Atlético 1:1 nV, 5:3 iE

Und Zidane? Er ist kein Innovator wie Sacchi und Guardiola. Er gewinnt, weil er es versteht, sein Team bestmöglich nach seinen Stärken einzustellen und er versteht es, bestmöglich um Schwächen herum zu spielen. Zidane verleiht seinem Team eine extreme Balance, er hat ein unglaublich starkes zentrales Mittelfeld zu Verfügung.

Er ist, dem Vernehmen nach, kein kühl-distanzierter Chef wie Ancelotti oder ein Reibebaum wie Mourinho, von atmosphärischen Störungen ist in seinen anderthalb Jahren im Amt praktisch nie etwas zu hören gewesen. Und Zidane profitiert davon, dass er nun schon über längere Zeit den de facto unveränderten Kader zur Verfügung hat.

Völlig sinnlose Mega-Transfers wie zur Zeit, als Klub-Präsident Florentino Pérez die Galacticos wieder aufleben lassen wollte (mit sündteuren Flops wie James Rodríguez und Asier Illarramendi, die alleine über 100 Millionen Euro gekostet haben) finden in letzter Zeit nicht mehr statt. Beim 4:1 über Juventus waren nur zwei Spieler vom 2016er-Finale nicht wieder in der Startformation – Bale und Pepe, beide verletzt bzw. noch nicht ganz fit. Neun der 14 eingesetzten Spieler beim CL-Sieg 2014 waren gegen Juventus wieder dabei.

Einordnung

Zidanes Real Madrid ist eine Mannschaft, die sehr viel gewinnt und alleine dadurch schon ihren Platz in der langfristigen Fußball-Geschichte haben wird. Aber: Diese vielen Siege werden keinen Einfluss auf viele andere Teams haben, welche die Spielweise von Real nun kopieren könnten.

Sacchis Milan lebte von der Innovation, Guardiolas Barcelona lebte von der Innovation. Zidanes Real lebt von der Stabilität und zeigt eine hohe Qualität, sie macht aber nichts wirklich besonderes oder dramatisch andersartiges. Das Team ist über Jahre hinweg einfach richtig, richtig gut und vereint großartiges individuelles Talent (wie Ronaldo in seinem vermutlich letzten Frühling) mit einem kompakten und funktionierenden Teamgefüge.

Zidane hat sein Team komplett im Griff und hat die richtige Mischung aus taktischem Korsett und dem Auslebenlassen individueller Qualität gefunden. Unter den richtigen Umständen ist das alles, was es braucht. Auch ohne revolutionäre Andersartigkeit.

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WM-Geschichte für Einsteiger (4) https://ballverliebt.eu/2014/06/12/wm-geschichte-fuer-einsteiger-4/ https://ballverliebt.eu/2014/06/12/wm-geschichte-fuer-einsteiger-4/#comments Thu, 12 Jun 2014 04:16:12 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=10312 WM-Geschichte für Einsteiger (4) weiterlesen ]]> Eine Weltmeisterschaft, das war immer auch ein Treffen der Weltanschauungen. Die spielerischen Brasilianer, die giftigen Argentinier und die bärbeißigen Urus aus Südamerika. Dazu die athletischen Deutschen, die disziplinierten Italiener, die kampfstarken Engländer, die schöngeistigen Holländer und die permanent unter Wert geschlagenen Spanier. Dazu ein paar lustige, aber chancenlose Farbtupfer von anderswo her. In den 1990er-Jahren aber weichte dieses Bild aber zunehmend auf. Außenseiter aus allen Kontinenten stießen plötzlich in ungeahnte Gefilde vor. Die Fußballwelt globalisierte.

1994 – Auf zu neuen Ufern

Bei der 15. Endrunde betrat man erstmals geographisches Neuland – bis dahin hatte die WM immer in Europa oder Lateinamerika stattgefunden. Das Globalisierungsdenken der FIFA führte dazu, dass man Fußball-Entwicklungsland USA das Turnier veranstalten lässt, einem Land, das neun Jahre nach dem Ende der NASL nicht mal eine eigene Liga hatte, das seit 44 Jahren kein WM-Spiel gewonnen hatte und 1990 erstmals nach 40 Jahren überhaupt dabei war. Dennoch war der Zuschauer-Zuspruch enorm, der Schnitt von 69.000 pro Match wurde nie wieder auch nur annähernd erreicht. Es hat aber auch sonst kein Land eine derartige Masse an Riesen-Arenen, der NFL sei Dank.

Und waren es bislang immer nur einzelne Außenseiter, die im Turnierverlauf weit kommen, startete nun die Zeit, in der das zum Massenphänomen wurde. Natürlich auf Kosten der arrivierten Teams. Argentinien etwa wurde durch Diego Maradonas positiven Dopingtest nicht stärker, blieb im Achtelfinale hängen – an Rumänien. Top-Favorit Deutschland schwächte sich durch die Stinkefinger-Affäre von Stefan Effenberg selbst, scheiterte im Viertelfinale – an Bulgarien. Kolumbien, als Mitfavorit zur WM gefahren, überstand nicht einmal die Vorrunde und Verteidiger Andres Escobar wurde zehn Tage nach seinem Eigentor gegen die USA in der Heimat umgebracht. Andererseits kamen krasse Außenseiter mit gutklassigen Kadern und Spielern, die in ganz Europa verstreut spielten, sehr weit – wie die Semifinalisten Schweden und Bulgarien, wie Viertelfinalist Rumänien. Die Zeiten, in denen nur Nationalmannschaften aus Ländern mit starken Ligen erfolgreich sein konnten, war vorbei, weil nun auch die Kicker aus anderen Ländern in diesen guten Ligen spielten.

Brasilien - Italien 0:0 n.V., 4:2 i.E.
Brasilien – Italien 0:0 n.V., 4:2 i.E.

Nur zwei „Große“ hatten die Viertelfinals überstanden, und letztlich trafen sich Brasilien und Italien dann auch im Finale. Die Azzurri unter Arrigo Sacchi spielten jenes kompakte Raumdeckungs-Spiel, mit dem das große Milan unter Sacchi so erfolgreich war. Bei Brasilien wurde der etatmäßige Kapitän Raí schon in der Vorrunde wegen Verhaltens-Auffälligkeiten rasiert. Carlos Alberto Parreira ließ ein zutiefst un-brasilianisches Spiel spielen, pragmatisch, sichere Defensive, nichts zulassen. Die Folge war ein Finale, das sich zog.

120 Minuten lang kaum eine echte Torchance produzierte. Und so das erste WM-Finale wurde, das im Elfmeterschießen entschieden wurde. Nach dem Fehlschuss von Roby Baggio jubelte die Seleção über den vierten Titel. Dass Carlos Dunga, der wegen seiner taktischen Disziplin „der Deutsche“ genannt wurde, Kapitän dieses Teams war, war kein Zufall.

1998 – Intervention von oben

Auf der Bank saß beim Triumph in der Rose Bowl bereits ein 17-jähriger Nachwuchsstürmer, der vier Jahre später der große Star des Turniers in Frankreich werden sollte: Ronaldo. Mit Mario Zagallo hatte der Weltmeister-Trainer von 1970 das Ruder wieder übernommen und von einer (bedeutungslosen) Niederlage im letzten Gruppenspiel gegen Norwegen abgesehen ging zunächst auch alles glatt. Was man von anderen nicht behaupten konnte, setzte sich doch der schon in Amerika begonnene Trend der starken Außenseiter und der schwächelnden vermeintlichen Top-Teams fort.

Spanien etwa blieb nach einer Pleite gegen Nigeria schon in der Vorrunde kleben, die Deutschen würgten sich ins Viertelfinale und wurden dort von Kroatien zerlegt, England spielte einen schönen Mist und musste nach Beckhams Auszucker im Achtelfinale auch früh heim. Dafür zeigte Dänemark herzerfrischenden Fußball und brachte Brasilien im Viertelfinale an den Rand der Niederlage, butterte Kroaten bei der ersten WM-Teilnahme als eigener Staat auf, wirbelte sich ins Halbfinale und führte dort sogar

Bei Gastgeber Frankreich war der störrische Teamchef Aimé Jacquet schon vor dem Turnier ein Feinbild der Medien, weil der Erz-Pragmatiker Weltklassespieler wie Eric Cantona und David Ginola nicht berief und er stattdessen auf eine gut zusammengeschweißte, aber auch irgendwie langweilige Truppe setzte. Verlängerung gegen Paraguay, Elferschießen gegen Italien, purer Wille gegen Kroatien – aber man schaffte es ins Finale.

Frankreich - Brasilien 3:0 (1:0)
Frankreich – Brasilien 3:0 (2:0)

Vor dem Ronaldo einen epileptischen Anfall erlitt, er daher auch von Zagallo nicht in die Start-Elf berufen wurde, zur allgemeinen Verwirrung. Es muss Druck von oben gegeben haben – Verband? Nike? Vielleicht sogar die FIFA? – jedenfalls spielte Ronaldo dann doch. Oder besser: Er war auf dem Platz, taumelte aber mehr nur über das Spielfeld und war von seiner Top-Form, die er beim Turnier zeigte, meilenweit entfernt.

Mit de facto zehn Mann am Platz und mit ihrem Besten im Grunde nicht involviert fand Brasilien keine Antwort auf die beiden Kopfballtore, die Zinedine Zidane jeweils nach Eckbällen erzielte. So gewann der aufstrebende Star seiner Zeit nach verlorenen Europacup-Finals 1996, 1997 und 1998 nun doch endlich mal was Großes. Nicht mal Marcel Desaillys Ausschluss halb durch die zweite Hälfte konnte daran etwas ändern und Emmanuel Petit sorgte in der Nachspielzeit den 3:0-Endstand. Frankreich war der erste neue Weltmeister seit 20 Jahren.

2002 – Sportliches Chaos

Die Equipe Tricolore dominierte in den Jahren danach den europäischen Fußball, wurde als klar beste Mannschaft des Turniers 2000 Europameister. In der Tat hieß es vor der WM 2002 in Japan und Südkorea – wieder betrat man mit der ersten Endrunde in Asien Neuland – dass nur zwei Teams Weltmeister werden können, weil sie um so viel besser sind als alle anderen: Frankreich und Argentinien.Schon im Achtelfinale aber war keines der beiden Teams übrig.

In einer WM, die man nicht nach rationalen Gesichtspunkten erklären kann. Japan und Südkorea, zwei historische Feinde, wurden zusammengespannt, aber jeder wollte eigentlich seine eigene WM haben. So kam jedes der beiden Länder mit zehn modernen Stadien daher – also 20 Arenen für die 64 Spiele. Durch die extreme Klub-Saison in Europa mit der Zwischenrunde in der Champions League, durch den ungewöhnlich frühen Start der WM bereits im Mai und durch die hohe Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren alle Prognosen schnell für die Würste.

Neben Frankreich und Argentinien war auch EM-Halbfinalist Portugal schon nach der Vorrunde draußen, eine seltsam leblose italienische Auswahl nach dem Achtelfinale, mit der Folge, dass Perugia-Präsident Gaucci den bei ihm angestellten Ahn Jung-Hwan, dessen Tor Italien besiegt hatte, feuern wollte. Dafür trumpften Außenseiter auf. Der Senegal etwa, der Frankreich im Eröffnungsspiel besiegt hatte, eine davor und danach im Weltfußball absolut inexistente Mannschaft, kam ins Viertelfinale. Die Türkei, die eine der aufregendsten Mannschaften waren, kamen ins Halbfinale, ebenso wie Co-Gastgeber Südkorea (wenn auch mit ein wenig Hilfe der Referees), ein ausgesprochen biederes US-Team hatte im Viertelfinale Deutschland am Nasenring durchs Stadion gezogen und verlor mit sehr viel Pech 0:1.

In Deutschland hatte man im Vorfeld angesichts der nicht vorhandenen Klasse diskutiert, ob man überhaupt nach Asien fliegen und sich die Blamage des allseits erwarteten Vorrunden-Aus überhaupt antun sollte, Brasilien spielte eine Katastrophen-Quali, verschliss dabei zwei Trainer und erst Luiz Felipe Scolari brachte Ruhe rein und den RoRiRo-Angriff mit Ronaldo, Rivaldo und Ronaldinho so richtig zum funktionieren. Dass sich Kapitän und Mittelfeld-Stratege Emerson bei einem Jux-Kick im Training, wo er aus Gaudi als Torwart agierte und dabei die Schulter auskegelte, hatte angesichts des puren Chaos dieses Turniers keine aufhaltende Wirkung.

Brasilien - Deutschland 2:0 (0:0)
Brasilien – Deutschland 2:0 (0:0)

Vor allem, weil Ronaldo nach einer Serie von schweren Verletzungen und nach Jahren des Leidens ein nicht mehr für möglich gehaltenes Comeback feierte. Er traf in jedem einzelnen WM-Spiel und profitierte auch davon, dass sich der einzige Grund für die Final-Teilnahme der deutschen Mannschaft – der überragende Torhüter Oliver Kahn – seinen ersten echten Fehler bei diesem Turnier für die 67. Minute des Finales aufgehoben hatte. Kahn ließ, nachdem Deutschland auch ohne den gelbgesperrten Michael Ballack eine erstaunlich gute Figur gemacht hatte, einen Schuss von Rivaldo prallen und Ronaldo staubte ab. Elf Minuten später ließ Rivaldo für Ronaldo durch, dieser zog ab, das 2:0. Die Entscheidung, der fünfte Titel für Brasilien und die persönliche Wiedergutmachung für Ronaldo.

2006 – Sommermärchen

In Deutschland passierten 2006 drei erstaunliche Dinge, mit denen nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht unbedingt zu rechnen war. Zum einen, dass das Team des Gastgebers nach wenigen guten, aber ziemlich vielen ziemlich schlechten Turnieren seit dem Titel 1990 plötzlich wieder ein ernst zu nehmender Faktor war, den man sich angesichts der flotten Spielweise auch gut ansehen konnten. Zweitens, dass das im Land der Humorlosen und Stocksteifen so etwas wie einen neuen Patriotismus auslöste, bei dem man sich nicht gleichzeitig für den 2. Weltkrieg entschuldigen muss – Stichwort „Sommermärchen“.

Und drittens, dass es plötzlich mit allen anderen sportlichen Überraschungen vorbei war. Zwei Jahre davor hatte Griechenland noch die Europameisterschaft gewonnen, aber nach den vielen Mittelklasse-Teams in Viertel- und Halbfinals bei den drei WM-Turnieren davor lief nun wieder alles erstaunlich nach Plan. Schon im Viertelfinale war nur noch ein einziges Team dabei, das man dort vor dem Turnier nicht unbedingt erwartet hatte, und die Ukraine haben auch nur aufgrund einer günstigen Auslosung und eines Elferschießen-Sieges gegen die Schweizer im Achtelfinale dorthin. Und war beim 0:3 gegen Italien auch chancenlos. Doch sonst war alles irgendwie wie früher: Den Teams, die in der Vorrunde aufgeigen (diesmal: Argentinien, Spanien) ist ein frühes Aus beschieden. Den Teams, die langsam loslegen (diesmal: mal wieder Italien und ganz extrem Frankreich) gehören die entscheidenden Spiele. So beendete Italien mit Toren in den Minuten 119 und 122 die Finalhoffnungen der Gastgeber und in Zidanes letztem Turnier ein Elfer im Halbfinale die Finalhoffnungen von Figo in seinem letzten Turnier.

Italien - Frankreich 1:1 n.V. (1:1, 1:1), 5:3 i.E.
Italien – Frankreich 1:1 n.V. (1:1, 1:1), 5:3 i.E.

Wie schon 1982 kam Italien mit einem Serie-A-Skandal im Rücken zur Endrunde, und wie 1982 war es auch ein davon ausgelöstes „Jetzt-Erst-Recht“-Gefühl, das die Mannschaft immer mehr zusammen schweißte. Im Finale brachte ein frühes Gegentor von Zidane aus einem unter die Latte gezitterten Elfer Italien auch nicht aus der Ruhe, wenige Minuten später glich Innenverteidiger Materazzi nach einer Ecke aus.

Bei diesem 1:1 blieb es auch lange, bis in die Verlängerung, bis auch zu jenem Zeitpunkt, an dem sich Zidane vom nicht gerade mit Universitäts-Diploma überhäuften Materazzi provozieren ließ und zum Stier wurde, der seinen Gegner per Kopfstoß in die Brust fällte. Die rote Karte für Zidane in seinem letzten Spiel, einem WM-Finale, gab zwar ein emotionales Bild ab, als er am bereitstehenden Pokal vorbei in die Katakomben schlich, hatte aber für den Ausgang des Spiels bzw. des Elferschießens keine Auswirkung. Zidane wäre im Shoot-Out als letzter Franzose drangewesen. Dazu kam es nach Trezeguets Lattenschuss aber nicht mehr. Italien war Weltmeister.

2010 – Öööööööööööööööööööööööö

Sepp Blatter war beleidigt. Der FIFA-Boss hätte schon 2006 die WM gerne in Südafrika gesehen, das Exekutiv-Komitee machte ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Also erfand sich der Blatter-Sepp ein wunderbares Prinzip, um seinen Willen durchzusetzen: Die Kontinental-Rotation. Blatter sagt, für die WM 2010 dürfen sich nur afrikanische Länder bewerben. Prompt bekam er mit Südafrika seinen Wunsch. Und nachdem auch endlich Südamerika 2014 wieder eine WM bekam, mit Brasilien als einzigem Bewerber (die wohl langweiligste Host Selection ever), war’s mit der Kontinental-Rotation auch schon wieder vorbei.

Schnell vorbei war die WM 2006 ja für Brasilien gewesen, man agierte wie eine Ansammlung von Feuerhydranten (eher bewegungsarm) und schied im Viertelfinale aus. Für das Turnier in Südafrika sollte Carlos Dunga die richtige Mischung aus Pragmatismus und Angriff finden – umsonst, wieder war im Viertelfinale Schluss. Der andere Favorit, Europameister Spanien, setzte dafür eher auf die ultimative Form des Defensiv-Fußballs – Ballbesitz Ballbesitz Ballbesitz. Und die Zuseher in Südafrika setzten auf ihr bewährtes Mittel zur Herstellung von Stadion-Sound: der Vuvuzela. Ööööööööö.

Auch die gewöhnungsbedürfte Kulisse konnte aber nicht verhindern, dass Südafrika als erster Gastgeber überhaupt jemals die Vorrunde nicht überstand. Einige Nebengeräusche gab es auch bei Frankreich, wo die Spieler ihren Teamchef Domenech, der ihnen mit seiner schrulligen, esoterischen und gleichzeitig überstrengen Art schon seit Jahren mächtig auf den Sack gegangen war, boykottiertern. Deutlich unspektakulärer war da schon das Vorrunden-Aus von Titelverteidiger Italien. Man war einfach nicht gut genug.

Das Turnier verlief weitgehend pannenfrei (wenn man vom englischen Torhüter Rob Green absieht) und es gab auch wieder die eine oder andere Überraschung, allen voran Uruguay. Das kleine Land zwischen Argentinien und Brasilien, das zuletzt über 50 Jahre davor so etwas wie echte fußballerische Relevanz hatte, schaffte es angetrieben von Diego Forlán und der Handarbeit von Luis Suárez bis ins Halbfinale. Auch mit Ghana und Paraguay unter den letzten Acht konnte man nicht unbedingt rechnen. So sehr das Turnier aber lange ein Festival der südamerikanischen Teams war – nur eines der 14 Vorrunden-Spiele verlor das CONMEBOL-Quintett und auch im Achtelfinale flog man nur gegen Seinesgleichen aus dem Turnier – trafen sich im Finale dennoch mit Europameister Spanien und mit Holland zwei euopäische Teams. Womit erstmals ein solches außerhalb des eigenen Kontinents Weltmeister wurde.

Spanien - Niederlande 1:0 n.V.
Spanien – Niederlande 1:0 n.V.

Im Endspiel tat Oranje dann alles, um das mühsam über Jahrzehnte aufgebaute Image des schöngeistigen Angriffs-Fußballs in Rekordzeit zu zerstören. Man trat auf alles ein, was sich nicht rechtzeitig aus dem Staub machen konnte, Nigel de Jong durfte trotz eines Kung-Fu-Tritts gegen Xabi Alonso weitermachen, insgesamt verteilte Referee Webb zehn gelbe Karten alleine gegen Holland, davon zwei gegen John Heitinga. Spanien behielt aber immer den Kopf oben, ließ sich nicht zu Revanche-Fouls hinreißen und wurde dafür belohnt, indem Arjen Robben alleine auf Casillas zulaufend vergab.

Als man sich schon auf ein Elfmeterschießen nach 120 torlosen Minuten eingestellt hatte, traf Andrés Iniesta nach 116 Zeigerumdrehungen doch noch zum Sieg. Womit Spanien der erste Premieren-Weltmeister seit Brasilien 52 Jahre davor wurde, der den ersten Titel nicht im eigenen Land eingefahren hat. Einen neuen Weltmeister kann es 2014 auch geben. Aber ein neuer Weltmeister mit Heimvorteil? Das geht sich nicht aus.

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Ballverliebt Classics: Als Europa zur Ottokratie wurde https://ballverliebt.eu/2011/12/23/ballverliebt-classics-als-europa-zur-ottokratie-wurde/ https://ballverliebt.eu/2011/12/23/ballverliebt-classics-als-europa-zur-ottokratie-wurde/#comments Fri, 23 Dec 2011 08:01:09 +0000 http://ballverliebt.eu/?p=6142 Ballverliebt Classics: Als Europa zur Ottokratie wurde weiterlesen ]]> „Otto…!“ Noch heute bekommen Griechen, ganz gleich ob Fußball-Fan oder nicht, leuchtende Augen und ein breites Lächeln im Gesicht, wenn der Name „Rehhagel“ fällt. Der knorrige Deutsche hatte 2001 das seit jeher national und international absolut bedeutungslose Team der Hellenen übernommen. In nur drei Jahren machte er daraus den Europameister – eine der größten Sensationen der Fußball-Geschichte. „Bevor ich kam“, erklärte der schon während der EM 2004 ‚Rehhakles‘ Genannte, „hat jeder gemacht, was er will. Jetzt macht jeder, was er kann!“

Dabei sprach Rehhagel kein Wort Griechisch – dafür holte er sich Jannis Topalidis. Der Deutsch-Grieche aus Stuttgart wurde mehr als nur Ottos Co-Trainer: Er war Dolmetscher, Vertrauter und auch sein Sprachrohr. Zwar ging sein erstes Spiel als Teamchef mit einem 1:5 in Finnland verloren, aber der belächelte Rehhagel machte bald ernst. Er verbannte Vereinsfunktionäre und Spielerberater aus dem Umfeld der Nationalmannschaft und machte die Ansammlung von Spielern aus drei gegnerischen Lagern – Olympiakos, Panathinaikos und AEK – ein Team. Ja, mehr noch, eine Familie. Eine Gemeinschaft.

Und doch schien in der Qualifikation zur Euro2004 in Portugal alles den gewohnten Gang zu nehmen: Zwei Niederlagen zum Start, daheim gegen Spanien und in der Ukraine. Doch die Maßnahmen Rehhagels begannen zu greifen, und in den restlichen sechs Quali-Spielen gab’s kein einziges Gegentor mehr, dafür nur noch Siege. Wie das 1:0 in Saragossa gegen Spanien. Und das 1:0 am letzten Spieltag gegen Nordirland, das die direkte Qualifikation sicherte und die Spanier ins Playoff schickte.

Die Griechen wurden in die Gruppe mit Veranstalter Portugal gelost; zu den Spaniern, die trotz des Umwegs als klar besser als die Hellenen galten; dazu kamen noch die Russen. Alleine die Tatsache, dass die Griechen dabei waren – erst zum dritten Mal hatte man es bei einem großen Turnier geschafft – wurde Rehhagel als Riesenerfolg angerechnet. Nur die Mega-Außenseiter aus Lettland, die sich überraschend qualifiziert hatten, sahen die Buchmacher noch chancenloser als die Griechen. Mehr als der dritte Gruppenplatz bei einem möglichen Sieg gegen die Russen im letzten Spiel wurde als pure Träumerei betrachtet.

Das Eröffnungsspiel

Griechenland - Portugal 2:1 (1:0)

Und vielleicht wäre ja alles ganz so gekommen, wenn nicht Paulo Ferreira in der allerersten Partie des Turniers nach sechs Minuten den Ball in der Vorwärtsbewegung in die Beine von Giorgios Karagounis gespielt hätte. Und sich Fernando Couto nicht so vornehm zurück gehalten und den Richtung Strafraum ziehenden Griechen gestellt hätte. So aber zog Karagounis ab und traf aus 20 Metern zum 1:0 für Griechenland. Es war der endgültige Startschuss zu diesem hellenischen Sommermärchen.

Denn die Führung und die Tatsache, dass der ganze Druck nun umso mehr auf den Portugiesen lastete, spielte dem Außenseiter in die Hände. Bei dem die Aufteilung in der Abwehr so aussah, dass Michalis Kapsis der portugiesischen Solo-Spitze Pauleta überall hin nachlief und Traianos Dellas, Rehhagels knapp zwei Meter großer „Koloss von Rhodos“, als Libero die restliche Abwehr organisierte.

Vor der Viererkette bauten die Griechen einen weiteren Wall aus drei defensiven Mittelfeldspielern auf. Basinas war dabei ein beinahe klassischer Vorstopper, dessen Hauptaufgabe darin bestand, Rui Costa aus dem Spiel zu nehmen. Assisiert wurde er von Zagorakis rechts und Karagounis links. Dieses Trio stellte die Mitte komplett zu, sodass Rui Costa unsichtbar wurde und die Mitte als Weg für die Portugiesen dicht.

Portugal auf die Außen gedrängt

Somit blieb dem Gastgeber nur der Weg über die Außen, aber Figo und Simão hatten es dort immer mit zumindest zwei Gegenspielern zu tun, weil die Dreierkette vor der Abwehr so verschob, dass Zagorakis bzw. Karagounis immer helfen konnten und somit immer eine Überzahl auch auf den Flanken gegeben war. Um die Außenverteidiger der Portugiesen kümmerten sich mit Charisteas und Giannakopoulos die beiden Außenspieler im griechischen Fünfer-Mittelfeld.

Der Weg in den Strafraum war den Portugiesen damit komplett versperrt, Pauleta sah kaum einen Ball. So konnten es sich Seitaridis und Fyssas auch immer wieder erlauben, nach vorne aufzurücken. Das Problem, dass im portugiesischen Rückraum mit Maniche und Costinha zwei Sechser ohne Gegenspieler dastanden und so theoretisch das Spiel von hinten lenken konnten, begegneten die Griechen mit durchaus sehenswertem Pressing.

Portugals Teamchef Scolari kratzte für die zweite Hälfte nur an Symptomen, aber nicht am System. Zwar machten Cristiano Ronaldo (statt Simão) und Deco (statt Rui Costa) einen deutlich agileren Eindruck als ihre Vorgänger vor der Pause, aber die Griechen mussten ihrerseits nichts umstellen. Und nachdem der damals 19-jährige Cristiano Ronaldo in seiner ersten Defensivaktion im eigenen Strafraum den aufgerückten Seitaridis umrannte, gab’s Elfmeter und Basinas verwertete diesen unhaltbar zum 2:0.

Schlussphase im Eröffnungsspiel

Zweiter Stürmer, zweiter Manndecker

Dann erst entschloss sich Scolari, mit Nuno Gomes (statt Costinha) einen zweiten Stürmer einzuwechseln. Rehhagel ließ sich nicht darauf ein, hinten Dellas mit Manndeckung zu betrauen, sondern beorderte stattdessen Katsouranis (der zur Pause für den gelb-rot-gefährdeten Karagounis gekommen war) nach hinten, um sich des zweiten Stürmers anzunehmen. Fyssas blieb auf der Außenbahn und kümmerte sich nun praktisch alleine um diese.

Mit den aktiven neuen Spielern entwickelte das Spiel der Potugiesen einen fast schon dramatischen Linksdrall, Figo wurde überhaupt nicht mehr eingebunden, wie generell es Deco und Co. verabsäumten, die auch bei den Griechen nun unterbesetzte Seite zu bespielen. So lief sich Portugal immer wieder fest, die Abstimmung vor allem zwischen Cristiano Ronaldo und Pauleta passte überhaupt nicht, bei beiden Stürmer kamen mit der Manndeckung nicht zurecht und Dellas, ohne direkten Gegenspieler, klärte immer wieder. Das 2:1 durch Ronaldo in der Nachspielzeit (nach einer Ecke von Figo) fiel viel zu spät, die Griechen hatten die Sensation trocken nach Hause verteidigt.

Glück gegen Spanien

Griechenland - Spanien 1:1 (0:1)

Weil im zweiten Spiel die Spanier, die am Eröffnungstag die Russen mit viel Mühe 1:0 besiegt hatten, von Anfang an mit zwei Stürmern antraten, opferte Rehhagel Basinas und ließ mit Katsouranis gleich einen zweiten Manndecker auflaufen. Er kümmerte sich um Raúl, der etwas aus der Tiefe kam und somit auch seinen Gegenspieler oftmals aus der Abwehr herauszog.

Das fehlen von Basinas im Mittelfeld ließ aus der Dreierkette gegen Portugal gegen das 4-4-2 der Spanier (das eigentlich mehr ein 4-2-2-1-1 war) noch Zagorakis und Karagounis übrig. Das war aber kein Problem, weil es im Zentrum bei den Spaniern ohnehin keinen wirklich kreativen Spieler gab und somit auch keiner bewacht werden musste. So verlegte sich Zagorakis darauf, aus der Tiefe das Spiel zu lenken und Karagounis rückte immer wieder auf und presste auf Baraja und Albelda.

Die Spanier, bei denen Etxeberria von Fyssas komplett abgemeldet wurde, kamen nur über die linke Seite mit Raúl Bravo und Vicente nach vorne. Morientes und Raúl waren aber gut abgedeckt und so gab es den ersten Torschuss erst nach einer halben Stunde: Kapsis verlor den Ball leichtsinnig und Morientes nützte die plötzliche Unordnung zum 1:0 für Spanien.

Neue Situation: Man ist hinten

Das war eine komfortable Situation für die Spanier, die nun nicht mehr zwingend gegen die ungewohnte Manndeckung anrennen mussten, sondern sich ein wenig zurücklehnen konnten. Bei den Griechen wurde vor allem das Spiel über die Außenbahnen vernachlässigt. Charisteas und Giannakopoulos, die nominell über die Flanken kamen, spielten sehr weit innen und die Außenverteidigier sahen sich somit, anders als noch gegen Portugal, mit einer 1-gegen-2-Unterzahl konfrontiert.

Umso mehr, als Spaniens Teamchef Iñaki Saez nach der Pause für den unsichtbaren Etxeberria auch noch Joaquín einwechselte. Dieser machte sofort viel Wirbel und narrte Fyssas nach Belieben. Die Spanier hatten alles sicher im Griff und das zweite Tor schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, zumal Saez nach einer Stunde auch das Mittelfeld stärkte, indem er statt Spitze Morientes nun Zehner Valerón ins Spiel brachte.

Rehhagel versuchte seinerseits, mit Vassilis Zartas mit einen offensiveren Mittelfeldspieler (statt Karagounis) mehr Akzente nach vorne setzen zu können. Der neue Mann orientierte sich deutlich höher und spielte mit den Flügelspielern (Charisteas und Vryzas, nachdem Mittelstürmer Nikolaidis für den angeschlagenen Giannakopoulos eingewechselt worden war). Zartas bereitete auch gleich den Ausgleich vor, auch wenn dieser mit den Umstellungen nichts zu tun hatte, sehr viel aber mit einer Unzulänglichkeit des spanischen Innenverteidigers Helguera: Der Mann von Real Madrid berechnete einen 50-Meter-Pass von Zartas auf Charisteas völlig falsch, sprang unter dem Ball durch und Charisteas schoss aus dem nichts das 1:1.

Da bei den Spaniern nun nur noch eine Spitze übrig war (Raúl) und Valerón auf die Zehn ging, wechselten Kapsis und Katsouranis ihre Gegenspieler – Kapsis blieb hinten und rannte Raúl nach, während Katsouranis ins Mittelfeld zu Zagorakis aufrückte und dort Valerón das Leben schwer machte. Die Folge war ein ähnliches Spiel wie gegen Portugal: Durch die Mitte kam Spanien nicht durch, so musste es über die Flügel gehen. Und her machte Joaquín seinen Gegner Fyssas so sehr zu schaffen, dass Rehhagel ihn noch vor Spielende durch Venetidis ersetzen musste.

Doch trotz der drückenden Dominanz über die rechte Seite scheiterte Spanien zum einen am wieder hervorragend spielenden Nikopolidis und an der Tatsache, dass man sich in der Mitte gegen die Überzahl, welche die Griechen durch den Einsatz eines Liberos erhielten, nicht entscheidend durchsetzen konnte. So führte Rehhagels Team die Gruppe vorm letzten Spiel mit vier Zählern an, punktgleich mit Spanien, dahinter Portugal mit drei Punkten und Russland mit zwei Niederlagen.

Nach Rückstand das Spiel machen? Funktioniert nicht!

Griechenland - Russland 1:2 (1:2)

Das Turnier der Russen stand unter keinem guten Stern. Erst fiel Teamchef Georgi Jartsev mit Onopko und Ignashevitch die komplette Innenverteidigung aus, dann flog im zweiten Spiel gegen Portugal auch noch Torhüter Ovtchinnikov zu Unrecht vom Platz – so war das Aus der Sbornaja eben schon vorm letzten Gruppenspiel in Faro an der Algarve besiegelt.

Dennoch gaben sie Vollgas und brachten durch das 1:0 von Kirichenko schon in der 2. Minute die Griechen dazu, einem Rückstand hinterher laufen zu müssen. Was in diesem Fall tatsächlich so war, denn ob der Situation in der Gruppe konnte sich Griechenland alles andere als sicher sein, dass es auch mit einer Niederlage für das Viertelfinale reicht. Mit einem 0:1 standen die Chancen noch recht gut, aber als nach einer Viertelstunde aus einem Eckball das 0:2 durch Bulykin fiel, wurde der Faden dünner. So lange Portugal in deren Must-Win-Spiel gegen Spanien nicht führt, reichte das zwar noch. Aber darauf vertrauen, dass das so bleibt, durfte man natürlich nicht.

Hatten die Griechen mit ihrer Spielanlage zuvor noch davon profitiert, dass der Gegner aktiv war und man selbst reagieren konnte, war man nun gezwungen, gegen eine sich zurückziehende Mannschaft, die nach Ballgewinn schnell kontert – vor allem Gusev machte der linken Seite der Griechen enorme Probleme – das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen. Das funktionierte nicht: Basinas und Zagorakis hatten acht russische Feldspieler zwischen sich und dem Tor, aber kaum mehr als drei eigene Mitspieler. Hinzu kam, dass Seitaridis auf der rechten Seite alleine für Breite sorgen sollte (gegen zwei Russen) und schlicht das Tempo und die Ideen nach vorne fehlten.

Anschlusstor – reicht das?

Deshalb brachte Rehhagel schon vor der Pause den kreativeren Zartas statt des tief agierenden Basinas. Schon in seiner ersten Aktion holte Zartas einen Eckball heraus, aus dem der Anschlusstreffer fiel – Zisis Vryzas konnte Malafejev überwinden. Damit waren die Griechen zur Pause erst einmal auf der sicheren Seite: Eine Niederlage, die nicht höher ausfällt als eine der Spanier, reicht – sofern die Iberer dabei nicht zwei Tore mehr erzielen. Das hieß zur Halbzeit: Das 1:2 reicht nur dann nicht, wenn Spanien gleichzeitig 3:4 oder 4:5 gegen Portugal verliert. Was bei einem Pausenstand von 0:0 im Parallelspiel mehr als unrealistisch erschien. Und als die Portugiesen nach rund einer Stunde in Führung gingen, hieß das für Griechenland: Bleibt’s beim eigenen 1:2, reicht das. Ein drittes Gegentor darf aber nicht mehr fallen.

Nach dem Seitenwechsel blieb Zartas aber unauffällig, auch weil die Russen – bei denen Alentichev deutlich in seinem Aktionsradius eingeschränkt worden war – die Mitte gut zumachten und die Griechen somit gezwungen waren, ihre Angriffe über die Flügel aufzubauen. Das machte vor allem der extrem aktive Seitaridis gut, er drückte Jevsejev und Semshov (war für Karjaka gekommen) nach hinten und sorgte so dafür, dass Kirichenko vorne in der Luft hing. Auf der anderen Seite bekam Gusev nun Unterstützung von Dmitri Sychov (war für Bulykin gekommen), sodass Venetidis immer deutlich mehr Defensivarbeit verrichten musste als Seitaridis. Das Spiel der Griechen nach vorne war damit sehr eindimensional – alles über Seitaridis – und harmlos.

Die Russen versuchten schon relativ früh, das Tempo aus dem eigenen Spiel nach vorne herauszunehmen. Sie hatten erkannt, dass dem Gegner nichts einfällt, wollten den Griechen gar nicht erst die Gelegenheit geben, zu schnellen Gegenstößen zu kommen. Außerdem führten sie ja und konnten selbst mit dem Sieg den letzten Gruppenplatz nicht mehr verlassen. Wozu also das Risiko eingehen, den Griechen ins offene Messer zu laufen.

Diesen war aber, je länger es dem Ende entgegen ging, auch immer mehr klar: Diese knappe Niederlage reicht, also war es ihnen wichtiger, kein Tor mehr zu kassieren, als mit aller Kraft – die, man hatte es ja gesehen, äußerst schwach übersetzt war – auf den Ausgleich zu gehen. So gab es in der letzten halben Stunde nur noch eine nennenswerte Chance (für die Russen). Beide Teams waren mit dem Resultat einverstanden. Die Griechen waren als Gruppenzweiter weiter, Spanien nach dem 0:1 gegen Portugal im Parallelspiel raus.

Großer Erkenntnisgewinn

Das 1:2 hat außerhalb der beiden Länder kaum jemand gesehen – alles hatte sich natürlich auf die Parallel-Partie konzentriert – brachte aber für Otto Rehhagel ganz entscheidende Erkenntnisse. Selbst gegen die eher limitierten Russen – die Mannschaft war mit jener, die vier Jahre später unter Guus Hiddink so überzeugend ins Halbfinale marschiert war, nicht einmal im Ansatz zu vergleichen – war es den Griechen nicht möglich, mit eigenen Mitteln das Spiel zu machen. Das hieß im Viertelfinale gegen Frankreich umso mehr: Seine Mannschaft darf unter gar keinen Umständen in Rückstand geraten, will sie eine Chance haben. Was gegen Russland nicht geht, wird gegen den Titelverteidiger, auch wenn der keine überzeugende Vorrunde absolviert hatte, erst recht nicht klappen.

Griechenland - Frankreich 1:0 (0:0)

So stellte Rehhagel für das Spiel gegen Frankreich auch um. Seine größte Sorge galt dabei natürlich dem genialen Zinedine Zidane und dem flinken Thierry Henry. Dem Arsenal-Stürmer, der in der Premier-League-Saison vor dem Turnier 30 Tore erzielt hatte, stellte er nicht Katsouranis auf die Füße, sondern opferte Rechtsverteidiger Seitaridis, der in den Gruppenspielen so stark auf der Außenbahn agiert hatte. Der Plan dahinter war klar: Der schnelle Seitaridis hatte gegenüber Katsouranis klare Tempo-Vorteile. Die erachtete Rehhagel als wichtiger als die Vorstöße auf der rechten Flanke.

Bei Zidane kam Rehhagel entgegen, dass der französische Teamchef Jacques Santini seinen Kapitän und Superstar nicht auf der Zehn spielen ließ, sondern auf der rechten Seite in einem 4-2-2-2. Das erlaubte es Rehhagel, dem Star von Real Madrid gleich von drei Leuten umzingeln zu lassen: Linksverteidiger Fyssas, dazu den ins linke Halbfeld geschobenen Katsouranis.

Und Giorgios Karagounis. Der rückte statt eines Linksaußen (in der Vorrunde Giannakopoulos bzw. Papadopoulos) auf diese Position und lief Zidane, sofern sich dieser auf dieser Seite aufhielt, praktisch überallhin nach.

Das Fehlen von Seitaridis auf der anderen Seite glich Rehhagel aus, indem er Kapitän Zagorakis auf die Außenbahn stellte, um dort Pirès das Leben schwer zu machen; falls nötig unterstützt von Basinas und Charisteas. Was im Umkehrschluss hieß: Rehhagel hatte noch anderthalb dezidiert offensive Spieler auf dem Feld – Sturmspitze Nikolaidis, der nach drei Kurzeinsätzen nun erstmals im Turnier von Beginn an spielen durfte, und eben Charisteas.

Extrem statisches Spiel

Der Plan war damit deutlich defensiver als in den Gruppenspielen angelegt: Dem Gegner die Spielgestaltung rauben, die Angreifer somit gleich doppelt aus der Partie zu nehmen – zum einen durch strenge Manndeckung, zum anderen eben durch das Abschneiden vom Nachschub aus dem Mittelfeld. Es dauerte nicht lange, ehe Zidane – der seine Verfolger auch durch frühes Einrücken nicht abschütteln konnte – mit Pirès die Seiten tauschte. Aber auch das half nichts, weil der extrem giftige Zagorakis ein mindestens genauso unangenehmer Gegenspieler war. Wenn nicht sogar noch unangenehmer.

So wurde das Spiel extrem statisch: Den Franzosen wurde auf den Flanken und in der Spitze jede Luft zum atmen genommen und die Griechen hatten überhaupt nie die Absicht, und auch nicht das Personal, selbst etwas nach vorne zu machen. So blieb den recht hilflos im Raum stehenden Makélélé und Dacourt (der den angeschlagenen Vieira nicht einmal ansatzweise ersetzen konnte) nur die Option „lang und weit“, aber mit vier eigenen Offensivspielern gegen acht bis neun Griechen konnte das nicht gut gehen. So kamen auch keinerlei Impulse.

Eine zentrale Stärke der Griechen: Keine billigen Freistöße!

Eine ganz große Stärke der Mannschaft aus Griechenland war es bei diesem Turnier aber nicht nur, aus dem Spiel heraus wenig bis gar nichts zuzulassen – sondern, mindestens ebenso wichtig, keine billigen Freistöße in der Nähe des Strafraums zu erlauben. Bei aller Härte im Spiel gegen den Mann und aller Konsequenz im verhindern des gegnerischen Spielaufbaus verstanden es vor allem Zagorakis und Basinas, die hauptsächlich für diesen Raum zuständig waren, sich taktisch so diszipliniert zu verhalten, dass es praktisch keine Fouls in gefährlichen Lagen gab und so etwa in diesem Spiel Zidane und Henry nie die Gelegenheit hatten, mal einen Freistoß Richtung Tor zu zirkeln.

Mit der Konzentration von Zagorakis auf die Defensive war zwar die rechte Seite offensiv relativ begrenzt, was aber nicht heißt, dass der Kapitän nicht durchaus auch mal den Vorwärtsgang einlegte und schnell umschaltete, wenn sich die Gelegenheit ergab. So wie etwa in der 65. Minute, als er Lizarazu sehenswert aussteigen ließ, eine Flanke zur Mitte brachte und dort Charisteas völlig frei zum 1:0 einköpfeln konnte – weder Thuram noch Gallas fühlten sich für den Reservisten von Werder Bremen zuständig.

Zu späte Umstellung von Santini

Die ganze Problematik dieser lustlosen und satt wirkenden französischen Mannschaft manifestierte sich im Gesichtsausdruck von Teamchef Santini, der wie eine Mischung aus Hilflosigkeit und Trägheit wirkte. Es war kein Feuer erkennbar, kein Teamgeist, kein echter Plan. Wenn die Franzosen in die Nähe des griechischen Tores kamen, dann lange nur über Einzelaktionen – ein Vorstoß von Bixente Lizarazu, ein Lauf aus der Tiefe von Henry. Aber mehr Druck konnte erst aufgebaut werden, als Santini viel zu spät die völlig überflüssige Doppelsechs auflöste.

Mit Wiltord (statt den überforderten Dacourt) auf der rechten Seite und Zidane zentral konnte das Geflecht der Griechen etwas entzerrt werden, dazu bewegte sich Louis Saha (statt des von Kapsis komplett abmontierten Trezeguet) deutlich mehr und deutlich besser als sein Vorgänger. So gelang es den auch immer müder werdenden Griechen kaum noch, sich nachhaltig zu befreien. Bestes Beispiel dafür war Libero Traianos Dellas: Der 1.97m-Riese zeigte sich als reiner Holzhacker, als totaler Zerstörer unfähig zur Spieleröffnung. Er holzte die Bälle nur noch so weit wie möglich weg, nicht selten auf die Tribüne. Aber man hielt den Franzosen stand und hatte sensationell das Halbfinale erreicht.

Das beste Team des Turniers

Dort wartete aber mit den Tschechen das zweifellos beste Team des Turniers. Die große Stärke der Mannschaft von Karel Brückner war die enorme Vielseitigkeit: Da war der schnelle Milan Baroš, der schon fünf Turniertore auf dem Konto hatte. Neben ihm Jan Koller, ein Baum von einem Kerl. Und dahinter mit Pavel Nedvěd, Tomáš Rosický und Karel Poborský drei der besten offensiven Mittelfeldspieler Europas – abgesichert vom extrem verlässlichen Tomáš Galásek. Das war eine andere Hausnummer als die lustlosen Franzosen.

Griechenland - Tschechien 1:0 n.V.

Rehhagel stellte Rechtsverteidiger Seitaridis auch diesmal als Manndecker auf, er sollte den in Überform agierenden Baroš neutralisieren. Die Bewachung von Jan Koller wurde indes aufgeteilt: Aus dem laufenden Spiel heraus war Michalis Kapsis der Bewacher des Zwei-Meter-Riesen von Borussia Dortmund, im Strafraum und bei Standard-Situationen übernahm jedoch Dellas. Ganz einfach deshalb, weil der selbst annähernd zwei Meter groß war.

Auch das Mittelfeld-Trio der Tschechen wurde manngedeckt: Katsouranis kümmerte sich um Nedvěd, Fyssas degradierte Poborský zur Wirkungslosigkeit und Zagorakis wich nie weit von Rosickýs Seite. Doch mit dem hohen Tempo und vor allem der hohen Variabilität der tschechischen Offensiv-Kräfte kamen die Griechen zu Beginn kaum mit. Koller und Baroš ließen sich oft weit fallen und kamen aus der Tiefe, Nedvěd rückte viel ein und erlaubte Jankulovski das Hinterlaufen – Charisteas hatte damit große Probleme. Es brauchte schon ein paar gute Aktionen von Nikopolidis im Tor, um diese Phase unbeschadet zu überstehen.

Der zweite freie Mann: Angelos Basinas

Dass es die Griechen aber mit Fortdauer der ersten Halbzeit doch geschafft haben, das Spiel zu beruhigen und nicht mehr permanent unter Beschuss zu stehen, war vor allem einem der unbesungenen Helden dieser Mannschaft zu verdanken: Angelos Basinas. Der schmächtige Sechser mit dem schon etwas schütteren Haaransatz war, wenn man so will, der zweite Libero im System von Otto Rehhagel; der freie Mann im Mittelfeld.

Während um ihn herum alle mit klaren Mann-gegen-Mann-Zuteilungen eingedeckt waren, musste Basinas den Löcherstopfer im Zentrum spielen. Das erforderte enorme Spielübersicht, die Fähigkeit, das Spiel lesen zu können, und vor allem eine absolute Pferdelunge. Die Laufleistung von Basinas suchte seinesgleichen. Nicht nur in diesem Spiel, sondern im ganzen Turnier – nur war er gegen die quirligen Tschechen ganz besonders wichtig.

Mit seiner permanenten Unterstützung wo immer gerade eine Unterzahl-Situation zu entstehen drohte, war Basinas der große Stabilisator im Mittelfeld und entlastete vor allem Zagorakis gegen Rosický. Doppelt wichtig – denn Zagorakis hatte schon im Viertelfinale eine gelbe Karte gesehen und wäre somit bei einer weiteren Verwarnung im Finale gesperrt gewesen, und zum anderen stellte Basinas immer wieder mögliche Passwege zu, wenn Rosický unter Druck kam und zu einem schnellen Abspiel gezwungen wurde.

Pavel Nedvěd muss raus

Womöglich hätten die Tschechen das alles schon noch irgendwie austanzen können, wenn sich nicht nach einer halben Stunde ihre wichtigster Spieler verletzt hätte: Pavel Nedvěd ramponierte sich in einem unglücklichen Zweikampf mit Katsouranis sein rechtes Knie. Humpelnd versuchte er es noch ein paar Minuten, letztlich musste aber Šmicer noch vor der Halbzeitpause den Blondschopf ersetzen.

Hatte Katsouranis mit Nedvěd noch so seine Schwierigkeiten, hatte nun Šmicer ganz klar das Nachsehen. So gelang es den Griechen in der zweiten Halbzeit, mit der Manndeckung gegen Šmicer und Poborský die Flügel zu neutralisieren, mit Dellas als überzähligem Mann in der Abwehr die Stürmer zu kontrollieren und mit Basinas als überzähligem Mann im Zentrum auch dort die Tschechen immer weniger zur Geltung kommen zu lassen.

Rehhagel schaltet einen Gang hoch

Was den Teamchef der Griechen dazu veranlasste, nach 70 Minuten einen Gang nach vorne zu schalten. Er nahm den sichtlich überraschten Basinas vom Feld und brachte dafür mit dem nach seiner Zerrung wieder genesenen Giannakopoulos einen offensiveren Mann; anders als bei seinen ersten zwei Einsätzen spielte er aber nicht auf der Flanke, sondern tatsächlich im Zentrum. Es war dies eigentlich der Wechsel, der zuvor im Turnierverlauf eher Zartas ins Spiel kommen sah, aber Rehhagel wollte wohl eher einen schnellen Spieler zum flinken Umschalten als den eher statischeren Ballverteiler Zartas in der Partie haben.

Was aber nicht den gewünschten Effekt hatte – denn ohne Basinas als freien Mann im Mittelfeld hatte Rosický plötzlich wieder etwas mehr Freiräume und vor allem konnten sich Koller und Baroš durch ihr Zurückfallen lassen wieder Räume erarbeiten und ihre Tempoläufe waren immer wieder nur durch Fouls zu stoppen. Erstmals im Turnierverlauf gaben die Griechen vermehrt Freistöße in Strafraumnähe her. Ein Tor der Tschechen sah deutlich wahrscheinlicher aus als eines des Außenseiters, dennoch ging es mit dem 0:0 in die Verlängerung.

Alles auf eine Karte

In der Verlängerung

Für diese wechselte Rehhagel erneut: Statt des extrem fleißigen Stürmers Vryzas brachte er nun doch Vassilis Zartas in die Partie. Er und Giannakopoulos flankierten nun den in die Spitze aufgerückten Charisteas, gaben praktisch zwei Spielgestalter, die auch ein wenig auf die Flanken aufpassen mussten. So stellte Rehhagel, zum ersten Mal überhaupt in diesem Turnier, eine Überzahl in der kreativen Zone der gegnerischen Hälfte her.

Damit nahmen die Griechen nun tatsächlich das Heft in die Hand und die Tschechen, die damit ganz offensichtlich nicht gerechnet hatte, wussten nicht wirklich damit umzugehen. Zudem machte Petr Čech, damals noch ohne Rugby-Mütze, im Tor einen alles andere als sicheren Eindruck: Unsicher beim Herauslaufen, mit Schwierigkeiten beim Fangen des Balles.

Und so kam, was kommen musste: In der 105. Minute ließ René Bolf nach einer Ecke von Zartas den aufgerückten Dellas zum Kopfball kommen, der Libero markierte das einzige Länderspiel-Tor seiner Karriere. Und weil die Silver-Goal-Regel galt, nach der bei einem Tor der Gegner nur bis zum Ende der laufenden Hälfte der Verlängerung die Chance zum Ausgleich hatte, war das natürlich die Entscheidung – Referee Pierluigi Collina pfiff in seinem letzten Spiel bei einem großen Turnier nur noch für einige Sekunden an, ehe er nicht nur dem Spiel ein Ende machte, sondern auch dem Turnier der an sich besten Mannschaft dieser Europameisterschaft. Ohne Nedvěd hatten es auch die Tschechen nicht geschafft, ein probates Mittel gegen die Manndeckung der Griechen zu finden.

Die Krönung im „Wiederholungsspiel“

So kam es im Finale quasi zur Wiederholung vom Eröffnungsspiel – Griechenland gegen Portugal. Das Team von Luiz Felipe Scolari war im Turnierverlauf der einzige Gegner der Griechen, der mit nur einem Stoßstürmer agierte und nicht im 4-4-2, dafür mit drei Spielmachern im Mittelfeld. Darum entschied sich Rehhagel für einen anderen Ansatz als in den Partien gegen Frankreich und Tschechien, und orientierte sich wiederum am ersten Spiel: Bis auf die klare Zuteilung von Kapsis auf Solo-Spitze Pauleta gab es keine Manndeckung mehr.

Griechenland - Portugal 1:0 (0:0)

Das Team von Portugal unterschied sich gegenüber dem ersten Aufeinandertreffen drei Wochen zuvor personell auf fünf Positionen, aber nicht von der Ausrichtung her. Es war ein 4-2-3-1, das auf der iberischen Halbinsel schon länger üblich war, den echten Durchbruch aber erst zwei Jahre später bei der WM in Deutschland feiern sollte.

Rehhagel stellte gegen das Triumvirat mit Figo, Deco und Ronaldo wieder die defensive Mittelfeld-Kette mit Basinas, Katsouranis und Kapitän Zagorakis, die im Verbund verschoben und die Portugiesen kaum zur Entfaltung kommen ließen. Pauleta hing in der Luft und wurde von seinem Bewacher Kapsis zusätzlich kaltgestellt.

Griechen spielen mit

Der große Unterschied zu Viertel- und Semifinale war aber, dass Seitaridis wieder fleißig über die rechte Außenbahn nach vorne randalieren konnte. Zagorakis übernahm in diesen Fällen Cristiano Ronaldo (bzw. Figo, die beiden tauschten sehr häufig die Seiten), Valente war somit sehr viel defensiv gebunden und durch den nach innen rückenden Charisteas und den wieder enorm viel arbeitenden Vryzas enstand durchaus Arbeit für die portugiesische Defensive. Costinha holte sich schon sehr früh eine gelbe Karte ab.

Ähnlich stellte sich die Situation auf der linken Flanke mit Fyssas und Giannakopoulos dar, mit Katsouranis als Absicherung. Das Spiel der Griechen musste fast zwangsläufig über die Außenbahnen kommen, weil Basinas, anders als in den Spielen davor, nicht mehr als freier Mann vor der Abwehr agieren konnte sondern mit Deco selbst viel gegen den Mann zu arbeiten hatte. So bekamen die Portugiesen keinen Zugriff auf den griechischen Strafraum und die Mannen von Otto Rehhagel sorgten mit einigen Angriffen über Seitaridis und Fyssas gut für Entlastung.

Führeres Stören nach Seitenwechsel

Den Hausherren hat sicher auch nicht geholfen, dass nach der nach einem unglücklichen Zweikampf verletzte Rechtsverteidiger Luis Miguel kurz vor der Halbzeit ausgewechselt werden musste. Seine Energie und sein Drang nach vorne kamen zwar nicht so gut zum Tragen wie in den Runden davor beim dramatischen Viertelfinale gegen England und dem letztlich recht sicheren Halbfinale gegen die Holländer, aber der für ihn eingewechselte Paulo Ferreira hatte nicht die Präsenz von Miguel.

Zudem attackierten die Griechen nach dem Seitenwechsel schon höher und erschwerten so die Spieleröffnung der Portugiesen zusätzlich. Maniche und Co. kamen mit dem Pressing überhaupt nicht zurecht. Ebenso wie mit Angelos Charisteas bei einer Ecke von Basinas von der rechten Seite: Costinha war zu weit weg vom Mann, Carvalho stand hinter dem griechischen Stürmer, und Ricardo segelte im Herauslaufen am Ball vorbei – so konnte Charisteas tatsächlich zum 1:0 treffen.

Otto parkt den Bus

Schlussphase

Scolari wusste auf dem Eröffnungsspiel, dass er mit einem zweiten Stürmer nichts erreichen würde. Also reagierte er, indem er sofort Costinha vom Feld nahm und mit Rui Costa einen vierten Spielgestalter für das Mittelfeld brachte. Dafür rückte Deco etwas zurück und kam eher aus der Etappe. Die Griechen zogen sich nun komplett zurück und parkten den sprichwörtlichen Bus vor dem eigenen Strafraum.

Die Zauberformel blieb aber weiterhin „Überzahl herstellen“ – den vier offensiven Mittelfeld-Leuten der Portugiesen stellten sich nun neben den drei zentralen Männern bei den Griechen zusätzlich Seitaridis (gegen Ronaldo) und erst Giannakopoulos und dann Venetidis gegen Figo auf den Flügeln gegenüber. Torschütze Charisteas und der statt Vryzas gekommene Papadopoulos sollten für etwas Entlastung sorgen.

Der Plan, schon im Mittelfeld den Raum eng zu machen und nicht auf eine reine Abwehrschlacht zu vertrauen, ging auf: Kaum einmal erreichte der Ball das innere des Strafraums, obwohl die Portugiesen den Ballbesitz in lichte Höhen schraubten. So blieb ein Weitschuss von Figo in der 89. Minute, der nur um ein paar Zentimeter links am Pfosten vorbei ging, die einzige wirkliche Ausgleichschance. Die Sensation war perfekt: Griechenland war Europameister!

Resonanz zwischen Bewunderung und Verärgerung

Die wohl größte Sensation der Fußball-Geschichte – ein Exot, von dem in Wahrheit drei Niederlagen erwartet wurden, gewinnt das Turnier – hat sehr gemischte Reaktionen hervorgerufen. Vor allem in Deutschland, der Heimat von Otto Rehhagel, war man vom sensationellen Erfolg des selbsternannten „Kindes der Bundesliga“ naturgemäß begeistert, zumal nach der eigenen eher schändlichen Vorstellung (dem Vorrunden-Aus, nachdem man gegen Lettland nicht gewonnen und dann gegen ein tschechisches B-Team verloren hatte) händeringend ein Erfolg versprechender neuer Teamchef für die zwei Jahre danach anstehende Heim-WM gesucht wurde.

Ansonsten herrschte aber weniger Bewunderung über die taktisch äußerst durchdachte Herangehensweise, die sich von Spiel zu Spiel zum Teil sehr deutlich unterschied, sondern eher Verärgerung. Über die Tatsache nämlich, dass man ein Turnier, das von sensationell hohem Niveau, sehenswertem Angriffsfußball und wundervollen Spielen am laufenden Band geprägt war, vom Triumph der als äußerst negativ und ob der Verwendung von Libero und Manndeckern auch noch extrem rückständig empfundenen Griechen entwertet sah.

Die Nachwirkungen

Eine Sichtweise, die sich bei den nur noch plumpen Vorstellungen der Mannschaft bei der Euro2008 und der WM 2010 noch verstärkte. Die Gegner hatten sich auf das Spiel der Griechen eingestellt. Dabei darf man aber nicht außer Acht lassen, dass sich vor dem Triumphzug in Portugal erst zweimal überhaupt eine griechische Mannschaft für ein großes Turnier hatte qualifizieren können – für die EM 1980 und die WM 1994. Nach dem Turnier in Portugal gelang die Qualifikation für die EM-Endrunden 2008 und 2012, sowie für die WM-Endrunde in Südafrika.

Dass Griechenland sich nicht dauerhaft in der Weltspitze etablieren konnte, ist logisch und erwartbar. Aber das Team aus Hellas ist nach den drei Wochen von Portugal nicht wieder in der völligen Versenkung verschwunden, in der es sich davor befunden hatte. Griechenland wurde zum Stammgast bei großen Turnieren, und das alleine ist aller Ehren wert.

Zumal es vielen Helden von 2004 nicht beschieden war, auf Klub-Ebene an diesen Erfolg anzuknüpfen. Zerstörer Traianos Dellas etwa, Libero mit Holzfuß, konnte sich bei der Roma in der folgenden Saison zwar einen Stammplatz erkämpfen, wurde über die Zwischenstation AEK aber nur vier Jahre später, auch wegen der fehlenden Fähigkeit zur Spieleröffnung, ins Ausgedinge nach Zypern abgeschoben. Auch Michalis Kapsis, der als Manndecker in allen Spielen dabei war, hatte nur noch eine gute Saison, bei Girondins Bordeaux. Viele Verletzungen plagen ihn aber seither. Giorgos Karagounis konnte sich trotz einer starken EM auch weiterhin nicht bei Inter Mailand durchsetzen nach zwei Jahren bein Benfica kehrte er zu Panathinaikos zurück.

Zehner Vassilis Zartas ging in die zweite deutsche Liga zu Köln und trug nur vier Spiele zum Aufstieg bei, Angelos Basinas bekam nach zwei ordentlichen Jahren in Mallorca nichts mehr auf die Kette. Und Angelos Charisteas, der drei Tore erzielt hatte – darunter die goldenen gegen Frankreich und im Finale gegen Portugal – konnte sich bei Bremen weiterhin nicht durchsetzen, flüchtete nach Holland und ist danach nur noch mit unübersichtlich vielen Vereinswechseln aufgefallen. Dimitris Papadopoulos landete bei seinen Auslandsversuchen bei Dinamo Zagreb und in der zweiten spanischen Liga bei Celta de Vigo.

Aber es gibt auch positivere Karriere-Verläufe – Linksverteidiger Seitaridis etwa wechselte nach der EM zum FC Porto und war danach noch drei Jahre bei Atlético Madrid aktiv; Stelios Giannakopoulos blieb noch lange Jahre Stammspieler bei den Bolton Wanderers, Kostas Katsouranis wurde Führungsspieler bei Benfica, Torhüter Nikopolidis holte – obwohl ihm immer eher das Image eines Fliegenfängers treu blieb – noch sieben Meisterschaften mit Olympiakos, ehe er 2011 aufhörte.

Einige Europameister ihren Status in der Heimat genützt und sind in vielen verschiedenen Funktionen tätig geworden. Kapitän Theodoros Zagorakis etwa wurde Präsident von seinem Stamm-Klub PAOK, mit Zisis Vryzas als Sportdirektor. Linksverteidiger Fyssas wurde Technischer Direktor beim griechischen Verband, Flügelspieler Georgios Georgiadis, den Rehhagel bei der triumphalen EM aber nicht einsetzte, U-21-Teamchef. Lebemann Demis Nikolaidis, der unmittelbar nach dem Turnier seine aktive Karriere beendete, wurde Präsident bei seinem Klub AEK – mit mäßigen Resultaten, aber mit wirtschaftlichem Erfolg.

Und Otto? Teamchef Rehhagel trat nach dem Triumph nicht zurück und wurde klarerweise auch nicht deutscher Teamchef – da bekam Jürgen Klinsmann den Zuschlag. Er verpasste zwar knapp die WM 2006, qualifizierte sich aber für die Euro2008 und die WM 2010, nach der er dann doch Schluss machte. Nach neun Jahren auf der griechischen Bank, mit 106 Spielen – mehr als doppelt so vielen wie jeder andere Teamchef in der Geschichte des Verbandes.

Und ein Volksheld, ja, das ist der knorrige Deutsche immer noch. Er wird es bleiben.

(phe)

Der Kader…

Tor: Kostas Chalkias (30, AEK), Teofanis Katergiannakis (30, Olympiakos), Antonis Nikopolidis (33, Panathinaikos). Abwehr: Panagiotis Fyssas (31, Benfica), Nikos Dabizas (31, Leicester), Traianos Dellas (28, Roma), Mihalis Kapsis (31, AEK), Giorgios Seitaridis (23, Panathinaikos), Stylianos Venetidis (28, Olympiakos). Mittelfeld: Angelos Basinas (28, Panathinaikos), Giorgios Georgiadis (32, Olympiakos), Sylianos Giannakopoulos (30, Bolton), Jannis Goumas (29, Panathinaikos), Pantelis Kafes (26, Olympiakos), Giorgios Karagounis (27, Inter Mailand), Kostas Katsouranis (25, AEK), Vassilis Lakis (28, AEK), Theodoros Zagorakis (33, AEK). Angriff: Angelos Charisteas (24, Bremen), Demis Nikolaidis (31, Atlético Madrid), Dimitris Papadopoulos (23, Panathinaikos), Zisis Vryzas (31, Fiorentina), Vassilis Zartas (32, AEK). Teamchef: Otto Rehhagel (65).

Bild:  Fritz Duras, Austria Aktuell

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