International – Ballverliebt https://ballverliebt.eu Fußball. Fußball. Fußball. Wed, 20 Nov 2024 10:39:07 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.7.2 Der ÖFB und sein Team: Gut gemeint und doch auf die Nase gefallen https://ballverliebt.eu/2024/11/19/nations-league-ofb-slowenien-kasachstan-rangnick-mitterdorfer-gartner/ https://ballverliebt.eu/2024/11/19/nations-league-ofb-slowenien-kasachstan-rangnick-mitterdorfer-gartner/#respond Tue, 19 Nov 2024 15:13:01 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20837 Der ÖFB und sein Team: Gut gemeint und doch auf die Nase gefallen weiterlesen ]]> Nein, nötig wäre das nicht gewesen. Ist es wirklich ein sportliches Drama? Naja. Österreich hat in den Schlussminuten des Heimspiels gegen Slowenien noch den Sieg hergeschenkt und mit dem 1:1 den Direktaufstieg in die A-Gruppe der Nations League verpasst. Verschmerzbar, es gibt ja eh noch das Aufstiegsplayoff, und selbst wenn man in der B-Gruppe bleiben sollte – eigentlich wurscht. Der erste Topf für die WM-Quali ist sich gerade noch ausgegangen, das ist sicher wichtiger.

Aber die beiden abschließenden Spiele der vierten Nations League sind aus österreichischer Sicht ein Spiegelbild des Krawalls im ÖFB, der eben nicht hinter den Kulissen stattfindet, sondern auf dem Altar der Öffentlichkeit.

Klare Parallelen

Das Team erledigte einen potenziell unangenehmen Job beim 2:0 in Kasachstan ohne Drama. Dann, in einem voller Erwartung ausverkauften Happel-Stadion, ist man gegen Slowenien voll auf Kurs, kommt aber vor der Ziellinie ins Straucheln und fällt auf die Nase, wird für seine Versäumnisse bestraft.

Im Präsidium war davor die von Präsident Klaus Mitterdorfer angestrebte Strukturreform durchgegangen, alles sah eigentlich fein und zukunftsträchtig aus: Ein CEO, dazu ein Abteilungsleiter Sport (Peter Schöttel) und ein Finanz-Chef, also die Neuhold-Rolle. Als mögliche Geschäftsführer kursierten zunächst der aktuelle Bundesliga-Vorstand Christian Ebenbauer – dem im Frühjahr potenziell unangenehme Verhandlungen zum neuen TV-Vertrag ins Haus stehen – und der international bestens vernetzte ehemalige Bundesliga-Vorstand Georg Pangl, nun auch die von Mitterdorfer vorgeschlagene ehemalige Postbus-Chefin Silvia Kaupa-Götzl.

Und dann zerbröselt die Stimmung in schlechter Kommunikation und den verbalen Giftpfeilen, die sich die Beteiligten über die Medien gegenseitig zuwerfen: Die Mannschaft für Neuhold. Gartner gegen Rangnick („Man muss aufpassen, wo er hingaloppiert“). Alaba gegen Gartner (der verletzte Kapitän bezichtigt NÖFV-Präsidenten, unterstützt von OÖ-Präsident Götschhofer, bezüglich der von Gartner verbreiteten angeblichen Streik-Drohung der Spieler nun offen der Lüge). Mitterdorfer kann nur noch versuchen, die Brände auszutreten.

Wir erleben die größten Chaos-Tage im ÖFB seit dem Winter 2001/02, als Beppo Mauhart irgendwie einen Präsidenten Frank Stronach verhindern wollte und gleichzeitig ein neuer Teamchef gesucht wurde

Das 2:0 in Kasachstan

Dabei hat ja allgemein gefallen, was die Repräsentanten des ÖFB in diesem Jahr auf dem Rasen gezeigt haben, ach ja, Fußball wurde ja auch gespielt. Dem EM-Katerfrühstück im September (nur 1:1 in Slowenien, 1:2-Niederlage in Oslo) folgte die schwungvolle Auferstehung im September (4:0 gegen Kasachstan, gar 5:1 gegen Norwegen). Die Rechnung war klar: Zwei Siege in den letzten zwei Spielen, und Österreich ist Gruppensieger.

Der Flug ist lang, das Wetter kalt, das Stadion nicht mal halbvoll und der Gegner kann unangenehm sein – aber Österreich war in Kasachstan von der ersten Minute an da. Wie schon beim souveränen 4:0 in Linz war das ÖFB-Team wieder wach im Pressing, man ließ die Kasachen kaum Zeit am Ball und wenn die Hausherren doch mal am österreichischen Strafraum waren – wie in der 10. Minute – wirkte das so „hui, wir sind im Angriffsdrittel, ähm…. was mach ma jetzt? Na, versuch du was! Was? Keine Ahnung…“

Der kasachische Block ließ sich relativ leicht mittels Überladungen ins Zentrum ziehen, wodurch Posch extrem viel Raum zum Aufrücken hatte, zudem waren die beiden Ketten alles andere als kompakt – der einrückende Romano Schmid machte sich dort immer wieder anspielbar. Das 1:0 nach einer Viertelstunde wurde genau über so einen Pass rechts neben den in die Mitte geschobenen kasachischen Block vorgetragen, vor dem 2:0 versprach Marotchkin der Ball, was ihn zu einer Notbremse zwang. Der Freistoß saß, Kasachstan war einer weniger, das Match entschieden.

Österreich blieb griffig und giftig und die Kasachen (dann im 4-4-1) rissen den Zwischenlinienraum noch weiter auf, das war ein richtiger Ozean. Das ÖFB-Team bearbeitete diesen nach Belieben hätte bis zur Halbzeit schon auf 5:0 stellen können und nach nach dem Seitenwechsel gab es zwei, drei gute Aktionen, die jedoch nicht mit einem Tor endeten. So ab der 60. Minute wurde immer noch vorne draufgegangen, im eigenen Aufbau von hinten entwich jedoch das Tempo und die Bereitschaft zu Risikopässen. Das Spiel schlief ein wenig ein und plätscherte dem Endstand von 2:0 entgegen.

Das 1:1 gegen Slowenien

Da sich Norwegen am Donnerstag in Slowenien durchgesetzt hatte, brauchte Österreich auch im abschließenden Heimspiel gegen die Slowenen einen Sieg für Platz eins in der Gruppe und den direkten Aufstieg. Die Gäste überließen erwartungsgemäß dem ÖFB-Team den Ball und störte die Eröffnung.

Das sah in der Praxis so aus, dass die Stürmer Šeško und Vipotnik das österreichische ZM in den Deckungsschatten stellte und Timi-Max Elšnik aus dem Mittelfeld aufrückend und die österreichische IV anlaufend einen Eröffnungspass provizierte. Das in den schwarzen Trikots zum 50. Jubiläum der Kooperation mit Puma spielende ÖFB-Team löste diese Situationen zwar gefahrlos auf, situativ kippte Seiwald dafür ab. Es gelang aber nicht, etwa durch den entstehenden Raum zwischen Gnezda-Čerin und Mlakar hindurch nach vorne zu kommen.

Österreich vermied Risikopässe und achtete darauf, möglichst nicht in billige Ballverluste zu laufen. Wie in Kasachstan verdichtete man im Zentrum, Slowenien gab aber längst nicht so bereitwillig die Außenbahnen her. Die beste Route zum Tor ergab sich für Österreich, wenn man Slowenien aufgerückt erwischte – wie eben beim 1:0 nach einer halben Stunde. Ein Konter gegen Slowenien im eigenen Stadion, wenn sich die Gelegenheit ergibt, muss man sie auch nützen.

Allerdings: Das Bemühen, sich in den Zwischenlinienraum zu arbeiten und dort durch zu kommen, zeitigte ebenso immer wieder Erfolg. In der 33. Minute, als es aber knapp abseits war. In der 35. Minute, als Oblak gegen Baumgartner parierte. Wie Sabitzer, der in der 61. Minute aus aussichtsreicher Position zum Abschluss kam. Wie in der 64. Minute, als Sabitzer verzog. Defensiv schaffet es Österreich gleichzeitig, Šeško nie Tempo aufnehmen zu lassen.

Es war sicher nicht jene ultimative Glanzleistung, als die es Rangnick nach dem Spiel am ORF-Mikro zu verkaufen versuchte (was auch sicher eher als Signal und nicht als Analyse zu werten war), aber eine professionelle und konzentrierte, seriöse Darbietung, der einzig das Tor zur Entscheidung gefehlt hat. Erst, als nach 70 Minuten die Intensität kräftebedingt nachließ, konnte sich Slowenien etwas mehr ins Spiel einbringen. Matjaž Kek brachte einen neuen Flügelspieler, Rangnick beließ die Startformation hingegen bis kurz vor Schluss auf dem Feld.

Ohne neue Impulse und vor allem ohne frische Beine war es Österreich nun kaum mehr möglich, offensive Akzente zu setzen. Es ging darum, zumindest das 1:0 über die Zeit zu bringen. Bis Österreich in der 81. Minute einmal das slowenische Anlaufen nicht gut auflöste, Pentz‘ Befreiungsschlag beim Gegner landete und via Karničnik der völlig freie Gnezda-Čerin bedient wurde, der zum 1:1 abdrückte. Der Sieg war verspielt, damit der Gruppensieg.

We seem to have a knack for miscommunication…

Norwegen gewann gegen Kasachstan 5:0 und staubte diesen ab. Ärgerlich aber nicht tragisch. Also wieder Vorhang auf für das Bühnenstück im ÖFB. Komische Oper? Schicksalsschwangere Tragödie? Oder gar eine Farce?

Mitterdorfer jedenfalls hat eben im Oktober die Strukturreform durchgebracht, das geht nicht ohne zerschlagenes Porzellan. Wenn die Fraktion der üblichen Verdächtigen im Präsidium beleidigt ist, soll das so sein, es gibt wahrlich Schlimmeres. Es sollte wohl keinen offensichtlichen Sieger im seit Jahren tobenden Machtkampf zwischen Generalsekretär Thomas Hollerer und Wirtschafts-Vorstand Bernhard Neuhold geben (zumal Neuhold eine Rolle beim Aus von Gerhard Milletich gespielt hatte), dann müssen halt beide gehen – vom Blick von außen: nachvollziehbar. Dass sich Trainerstab und Mannschaft dabei öffentlich für den als umgänglich und professionell geltenden Neuhold in den Kugelhagel warfen, war aus ihrer Sicht notwendig, entsprechend verständlich war die verschnupfte Reaktion auf dessen Ausbootung. Fünf seiner sechs Monate Kündigungsfrist sind noch übrig.

Dass davor über Monate die Kommunikation zwischen Mitterdorfer und Rangnick zusammengebrochen war bzw. sein soll, sickerte erst nach der entscheidenden Präsidiumssitzung am 18. Oktober durch. Ein Eigentor von Mitterdorfer: Bei der Präsidiumssitzung im August war Rangnick dabei und dort forderte er weitere Schritte in Richtung Professionalisierung des vor allem auf Entscheider-Ebene immer noch ziemlich kleinmütig aufgestellten ÖFB. Die Blockadehaltung vor allem von NÖFV-Präsident Johann Gartner, der diese gerne und oft öffentlich vertritt, kann Mitterdorfer nicht entgangen sein. Umso fahrlässiger, dass er den starken und öffentlich überaus beliebten Teamchef für seine Pläne nicht näher an sich band, sondern im Gegenteil durch (kolportierten) fehlenden Kontakt von sich weg schob.

…that stabbed us in the back this time.

Nun ist Mitterdorfer, der als Macher und Reformer in die ÖFB-Geschichte eingehen hätte können, in einer Lose-Lose-Situation: Er hat das Präsidium UND die Mannschaft verloren. Und ein Sicherheit vermittelndes Signal an die Angestellten der ÖFB-Geschäftsstelle – wo sehr viele „Team Neuhold“ waren und nur sehr wenige „Team Hollerer“ – war die Vorgehensweise eher auch nicht.

„Wenn ich in meiner Teamchef-Zeit zu Präsident Mauhart gesagt habe, ich brauche dieses oder jenes, konnte ich mich darauf verlassen, dass er sich darum kümmert“, sagte Herbert Prohaska im ORF, angesprochen auf die öffentlich beleuchteten Bruchlinien innerhalb des ÖFB. Nun verband Beppo Mauhart mit Prohaska eine Nibelungentreue, wie sie wohl kein ÖFB-Präsident jemals mit einem der 27 anderen Teamchefs hatte. Die Machtfülle von Mauhart und die Strukturen innerhalb des Verbandes waren in den 1990ern aber noch anders als das Standing von Klaus Mitterdorfer im heillos zerstrittenen ÖFB-Präsidium.

Is this the end of the line?

Eine mögliche vorzeitige Vertragsverlängerung von Rangnick über die WM-Kampagne für 2026 hinaus wurde intern, wie kolportiert, seit Monaten auf Eis gelegt. Der Teamchef selbst tat das in seiner PK-Rede vor dem Flug nach Kasachstan aber ohnehin als nicht besonders pressierendes Thema ab – wird das WM-Ticket verpasst, wäre er sowieso von sich aus weg. Übrigens: Rangnick ist schon jetzt der viertälteste Teamchef der ÖFB-Geschichte (nach Brückner, Baric und Happel).

Rangnick wird jedoch eine Verlängerung über 2026 hinaus, dieses Urteil lässt seine bisherige Vita zu, auch von der Art und Weise abhängig machen, wie sich das Umfeld im ÖFB in den kommenden anderthalb Jahren entwickelt. Auf einen unprofessionellen Jahrmarkt der Eitelkeiten hat er keine Lust und mit dem muss er sich jetzt schon seit zweieinhalb Jahren herumschlagen.

Fraglos schwebte das Damoklesschwert eines schnellen Rangnick-Abgangs über der Abstimmung über die Struktur-Reform am 18. Oktober. Die nötige Zustimmung mit Zwei-Drittel-Mehrheit (die einzige, mit der aus seiner Sicht nicht gegebenen Zuständigkeit des Präsidiums für so eine Reform begründeten Gegenstimme kam von Josef Geisler aus Tirol, der sich im TT-Interview aber als Unterstützer des Teams in der Causa Neuhold präsentierte; Salzburg und Oberösterreich enthielten sich) wohl auch deshalb zustande, weil niemand derjenige sein wollte, der von mit Mistgabeln bewaffneten Nationalteam-Fans für eine Rangnick-Flucht ans Kreuz genagelt wird.

Dass einige von ihnen 2017 im Zuge der Ruttensteiner- und Koller-Entsorgung sogar vom ORF als Dorftrottel an die Öffentlichkeit gezerrt und als Karrieristen mit bestenfalls beiläufigem Sinn für die tatsächlichen Interessen des heimischen Spitzenfußballs gebrandmarkt wurden, haben die Landespräsidenten nicht vergessen. Es hat ihnen nicht gefallen.

Hinzu kommt: Mehrheitlich handelt es sich um Langzeit-Präsidenten, die nicht mehr lange in ihrem Amt sein werden. Götschhofer und Bartosch (beide 66) sowie Lumper (62) sind in Oberösterreich, der Steiermark und Vorarlberg in ihren letzten Amtsperioden, sie gelten aber ohnehin als unverdächtig, was persönliches Machtstreben angeht. Salzburgs Ewig-Landeschef Herbert Hübel (66) hat sich vor zwei Monaten zurückgezogen, Geisler (69) hat seine letzte, bis 2028 laufende Amtszeit begonnen. Dieses Quintett wird die reduzierte Rolle der Landes-Chefs im ÖFB-Präsidium nicht mehr betreffen.

Sedlacek (69) hat sich dafür in Wien erst letztes Jahr in eine vierte Amtszeit wählen lassen und Gartner (73), im Jahr 2002 (!) erstmals NÖFV-Präsident, kann sich eine weitere Amtsperiode durchaus vorstellen.

Noch nicht lange amtieren Mitterdorfers Nachfolger in Kärnten, Jurist Martin Mutz (51), Salzburgs Übergangs-Chef Wolfgang Zingerle (65) sowie Georg Pangl (59) im Burgenland. Dieser macht keinen Hehl daraus, das Amt des ÖFB-Präsidenten anzustreben – aber nur hauptamtlich. Ob sich das bis zur nächsten Wahl in einem halben Jahr ausgeht? Zweifelhaft. So viel Reform auf einmal, und der ÖFB ist ein verkrustetes Schlachtschiff, kein agiles Startup.

Cos that would be a crime!

Wo bei alledem die Mannschaft selbst steht? Nun, sie steht vor Aufstiegsspielen für die A-Liga der Nations League (am 22. November wird einer aus dem Quartett Belgien, Serbien, Ungarn, Schottland zugelost) und vor einer WM-Qualifikation, die man als Team aus Topf 1 in Angriff nehmen wird.

Das heißt: Frankreich, Spanien, England, Deutschland, Portugal, Italien, Niederlande, Belgien, Kroatien, Dänemark und die Schweiz kommen als Gegner nicht in Frage. Die zwölf Gruppensieger fahren direkt zur WM nach Nordamerika, die Zweiten müssen in ein zweistufiges Playoff. Keine Frage: Die Voraussetzungen, sich erstmals seit 1998 für eine WM-Endrunde zu qualifizieren, sind so gut wie in den letzten sieben Turnieren vermutlich nie.

Bleibt nur zu hoffen, dass sich durch den verbandsinternen Wirbel nicht Umwälzungen ergeben, welche diesem Ziel Knüppel zwischen die Beide werfen.

Cos that would be a crime.

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Die Aktivität ist zurück: Österreich siegt 4:0 und 5:1 https://ballverliebt.eu/2024/10/18/osterreich-norwegen-kasachstan-nations-league/ https://ballverliebt.eu/2024/10/18/osterreich-norwegen-kasachstan-nations-league/#comments Fri, 18 Oct 2024 21:27:52 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20738 Die Aktivität ist zurück: Österreich siegt 4:0 und 5:1 weiterlesen ]]> „Wenn man so gar nichts von seinen Stärken zeigt, obwohl alle Gelegenheiten dafür da gewesen wären, ist das nicht gut.“ Die ersten beiden, sehr schaumgebremsten und auch vom Resultat her unbefriedigenden Länderspielen nach der EM, hinterließen etwas Ratlosigkeit: Negativer Ausreißer oder doch mehr?

Das 4:0 gegen Kasachstan und das 5:1 gegen Norwegen – und hierbei vor allem die Art und Weise des Auftritts, nicht nur die nackten Zahlen – stellten nun klar: Die Enttäuschungen vom September zeigten nicht das neue, blutleere Gesicht des EM-Achtelfinalisten. Sie bleiben aber das Mahnmal dafür, wie das ÖFB-Team aussieht, wenn die geistige Bereitschaft für das aufwändige Spiel nicht zu hundert Prozent gegeben ist.

Das 4:0 gegen Kasachstan

Der Wille, den gehemmten Eindruck vom September zu revidieren, war schon in den ersten Minuten des Matches gegen Kasachstan zu erkennen. Die Probleme, sich gegen tief stehende Gegner durchzukombinieren, sind bekannt – nicht zuletzt ganz frappant zu sehen gewesen im EM-Achtelfinale gegen die Türkei – und das ÖFB-Team hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie es sich gar nicht erst auf endlos-brotlose Ballstaffetten einlassen muss.

„Der beste Spielmacher war das Gegenpressing“, sagte Teamchef Ralf Rangnick nach dem Spiel und das war auch genau so gemeint. Österreich schlug immer wieder die Bälle vor das kasachische Tor bzw. in die grobe Richtung der Sturmspitzen. Gar nicht so sehr, um die Pässe direkt an den Mann zu bringen, sondern vor allem, um den Bällen nachzupressen und sie sofort zu erobern, weil die technisch recht limitierten kasachischen Verteidiger wenig damit anzufangen wussten und auch sofort ein Schwarm von Österreichern über sie herfiel.

Zudem gab man mit diesen Bällen dem unsicheren Torhüter Igor Shatsky die Möglichkeit, Fehler zu machen und Österreich holte auf diese Weise auch einen Eckball nach dem anderen heraus – alleine in der ersten Halbzeit waren es acht, am Ende des Spiels hieß die Eckenbilanz 14:3 für die Hausherren.

Es waren vielleicht nicht explizit absichtliche Ballverluste, um das Gegenpressing auszulösen, aber es ging schon deutlich in diese Richtung.

Leistung für die innere Hygiene

Das 1:0 durch Baumgartner fiel justament aus einer jener Situationen, in denen Kasachstan den Ball hinten gegen das scharfe österreichische Pressing nicht schnell genug und schon gar nicht kontrolliert nach vorne gebracht hat und den Gästen kam es überhaupt nicht gelegen, dass man eben nicht in Ruhe den Strafraum verbarrikadieren konnte. Kasachstan kam nie wirklich in die von Stanislav Tcherchessov gewünschte und etwa beim 0:0 gegen Norwegen und danach auch beim knappen 0:1 gegen Slowenien in anständiger Qualität gezeigte, eigene Spielweise.

Nach der Pause fielen auch die Tore, um innerhalb kürzester Zeit mit dem 2:0 und dem 3:0 alles klar zu machen, am Ende hieß es 4:0 und das war natürlich auch in der Höhe absolut korrekt. Dass man gegen Kasachstan gewinnen würde (und das auch muss), stand nie ernsthaft zur Debatte, es ging aber in der Tat mehr um das „Wie“ als um das „Was“. Gelingt es, wieder ein willigeres, aktiveres Gesicht zu zeigen als im September?

Die klare Antwort war „Ja!“ und damit versicherte man sich auch selbst, dass es kein grundsätzliches Problem war vor allem beim Spiel in Oslo, sondern eine mentale Blockade, entstanden aus den psychischen Nachwirkungen des zu frühen EM-Aus und den spezifischen Umständen des Spiels (Norwegens lange Bälle, die man nicht verteidigt bekam und das Doppelmühle-Spiel, das Sørloth und Ødegård mit Prass veranstalteten).

Das 5:1 gegen Norwegen

Der klare Sieg gegen Kasachstan war schön, aber es wurde auch deutlich, dass dieses Team das eindeutig schwächste der Gruppe ist. Wie soll man also gegen Norwegen jene Problemfelder umgehen, die in Oslo so schlagend wurden – sprich: Wie kann Österreich das eigene Spiel aufziehen, ohne Norwegen wieder ins offene Messer zu laufen?

Einer der größten Faktoren waren die Pressingauslöser. Es wurden die norwegischen Innenverteidiger vor allem dann mit Macht angelaufen, wenn sie mit dem Rücken zum Spielgeschehen standen – also nicht unmittelbar die Gefahr eines langen norwegischen Passes bestand. Wenn die Gäste es schafften, diese erste Welle zu überspielen – wie in der 6. Minute – hatten sie im Zentrum sofort Platz, was gleich mit einem Pfostenschuss von Håland bestraft wurde.

Oder – wenn doch ein langer Ball in Richtung des österreichischen Sechserraumes geflogen kam – verdichtete Österreich so rasch in dieser Zone, dass Norwegen eben nicht ungehindert die zweiten Bälle aufsammeln konnten. Dazu ging das ÖFB-Team wiederum früh durch Arnautovic in Führung, Baumgartner hatte ausnahmsweise zu viel Platz im norwegischen Zwischenlinienraum gehabt, konnte quasi ungehindert vor das Tor, ähnlich wie schon beim 1:0 gegen Kasachstan.

Österreich war danach sehr bemüht, die Kontrolle über das Spiel zu etablieren, indem Ballbesitzphasen ausgedehnt wurden – auch gegen das Anlaufen der Norweger. Im Zweifel mal ein Rückpass, jeder Ballführende hatte immer eine Exit-Option. Zwischen der 20. und der 25. Minute gab es eine Phase von 41 Pässen, nur von einem norwegischen Befreiungsschlag unterbrochen, die in einem Torschuss von Baumgartner mündete. Es folgte eine weitere Ballbesitzphase mit 27 Pässen. Zwischen 21:15 und 25:15 Minuten Spielzeit gab es nur drei norwegische Ballkontakte: der erwähnte Befreiungsschlag sowie danach Torhüter Nyland und Pedersen, der den Ball dann wegdrosch.

Norwegen mit untauglichen Mitteln

Norwegen machte den Zwischenlinienraum zu und verdichtete dort extrem, wenn Österreich da rein wollte. Da macht die Gestaltung zäh und zwang Österreich auf die Flügel – mit der Führung im Rücken hatte das ÖFB-Team aber keine Veranlassung, das mit aller Macht verhindern zu wollen. Zudem hatte Norwegen versucht, durch ein Hochschieben von Thorsby die österreichische Eröffnung zu behindern. Aber weil sich Seiwald (gegebenenfalls auch Laimer) zurückfallen ließ und Österreich so aus einer Dreierkette eröffnete, hatte das für Norwegen nicht den erhofften Effekt.

Der aus einem Freistoß resultierende 1:1-Ausgleich kurz vor der Pause – Pentz war auf der Linie geklebt – kam aus dem Nichts, sollte sich aber dank des reichlich ungeschickten Elfmeter-Fouls von Hanche-Olsen wenige Sekunden Beginn der zweiten Halbzeit nicht als nachhaltige Spaßbremse erweisen. Damit war Norwegen wieder gezwungen, selbst mehr zu tun, nun fiel das Fehlen von Martin Ødegaard so richtig ins Gewicht: Das Mittelfeld-Zentrum war kreativ tot, Linksaußen Nusa war vor der Pause kaum involviert und nach einer Stunde ausgewechselt; der wuchtige Ryerson hatte mit dem wuseligen Mwene große Probleme und Håland hing wie Sørloth in der Luft.

Österreich hingegen ging weiter drauf. Posch bedrängte nach einer Stunde Møller-Wolfe an der norwegischen Torlinie so sehr, dass letzterer einen Eckball hergab – der landete zum 3:1 im Netz. Wenig später behauptete der sehr fleißige Arnautovic, wie schon zuvor in vielen Situationen, von drei Norwegern bedrängt im Zehnerraum den Ball, erlaubte den Mitspielern das Aufrücken und er bediente Sabitzer, der schließlich das 4:1 assistierte.

Norwegen wusste nicht so recht, ob man das Ergebnis aufzuhübschen trachten sollte oder doch das 1:4 verwalten, und schon fing man sich aus einem Konter das 1:5. Vor allem Flanken aus dem Halbfeld auf die zweite Stange erwiesen sich als für Norwegen kaum zu verteidigen.

Wenn alles passt, ist es immer noch gut

Die norwegischen Medien übergossen ihr Team mit einer Lawine der Kritik. Knut Espen Svegaarden etwa, Beatwriter des norwegischen Teams für die größte Boulevard-Zeitung VG, sprach gar von der „katastrophalsten, peinlichsten Halbzeit Norwegens in meinen 40 Jahren als Sportjournalist“. Besonders bitter, weil Norwegen ja vor gerade mal einem Monat in Oslo auf Augenhöhe mit Österreich agiert habe und sogar gewonnen hat.

Aber war das da wirklich so? „Das sind wir“, betonte Marko Arnautovic nach dem 5:1 von Linz ins ORF-Mikro. Das in Oslo im September, das war nur ein Schatten des österreichischen Teams. Norwegen sah damals auf Augenhöhe aus, weil Österreich wirklich schlecht war, vermutlich das schlechteste Spiel der bisherigen Amtszeit von Ralf Rangnick abgeliefert hat. Das von Linz, das ist der tatsächliche Leistungsunterschied. Vielleicht nicht vier Tore, das war auch situationsabhängig. Aber spielt Österreich, was Österreich kann, kann Norwegen nicht mal hinschnuppern.

Die Art und Weise, wie Österreich diese beiden Spiele absolviert hat ist beruhigend. Die Ergebnisse sowieso. Aber, auch wenn ein 4:0 und ein 5:1 natürlich ein super Statement sind – hier ging es um das Selbstverständnis und um die Erkenntnis: Wenn die passende Strategie ordentlich umgesetzt wird, ist Österreich zu stark für die Gegner im B-Zug der Nations League. Wenn es aber nicht passt – der Gegner einen am falschen Fuß erwischt, das unglückliche EM-Aus noch im Hinterkopf ist, kein Druck ausgeübt wird – geht es eben auch gegen die Truppen aus dem B-Zug der Nations League schief.

Österreich hat den Gruppensieg nun in der eigenen Hand, Siege in Astana sowie in Wien gegen Slowenien reichen fix zum direkten Wiederaufstieg in die A-Gruppe. Spielt man so wie in den beiden Oktober-Matches, gelingt das. Spielt man so wie im September, eher nicht.

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Die große EM-Bilanz 2024 https://ballverliebt.eu/2024/07/18/die-grosse-em-bilanz-2024/ https://ballverliebt.eu/2024/07/18/die-grosse-em-bilanz-2024/#respond Thu, 18 Jul 2024 14:33:51 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20450 Die große EM-Bilanz 2024 weiterlesen ]]> Was wird von der Europameisterschaft 2024 bleiben? Zum einen natürlich die großartige spanische Mannschaft, die das Turnier völlig zurecht gewonnen hat. Aber darüber hinaus? Sportlich hatte die EM ausgedehnte Hänger und viele nominell starke Teams verbreiteten vor allem Langeweile – während vermeintlich Kleine ihre Zeit im Scheinwerferlicht nützten. Dazu gab es die äußerst gelungene Maßnahme, das Meckern beim Schiedsrichter einzudämmen.

Und wie kann es dem Gastgeber aus Deutschland mit dieser EM gehen? All das und mehr in unserer großen Abschluss-Bilanz.

1. – Der Beginn einer Ära?

Spanien war das beste Team des Turniers und hat es verdient gewonnen. Siege gegen Kroatien (überzeugend), gegen Italien (überlegen), gegen Deutschland (mit Mühe und auch etwas Glück), gegen Frankreich (mit viel Kontrolle) und gegen England (mit Widerstandskraft) – da lässt sich schwer dagegen argumentieren.

Auf der anderen Seite stand im Finale ein englisches Team, dass mit einem einzigen Sieg aus einer Gruppe mit Dänemark, Slowenien und Serbien herausgekommen ist; gegen die Slowakei einen Zaubertrick in der 95. Minute brauchte, um nicht auszuscheiden; gegen die Schweiz das Elferschießen brauchte und das in der zweiten Halbzeit des Semifinales taktisch von einem diesbezüglich nicht übertrieben cleveren holländischen Team ausgehebelt worden war. Dazu wird davon berichtet, dass sich Bellingham intern mit großkotzigem und wenig mannschaftsdienlichem Verhalten menschlich ins Abseits manövriert haben soll.

Doch so unterschiedlich die zwei Teams performt haben, folgt ihr Finaleinzug doch einer gewissen Logik. Klasse setzt sich am Ende eben doch zumeist durch. Damit ist nicht nur gemeint, dass in der Fünfjahres-Wertung der UEFA die Ligen aus Spanien und England in 16 der letzten 18 Jahre als Nummer eins und Nummer zwei vom Kontinent abgeschlossen haben.

Aber bis auf Frankreich kann kein europäisches Land mit dem schier unendlichen Reservoir an Talent mithalten. Bei Spanien ist etwa ein Gavi verletzt gar nicht dabei gewesen, ebenso Balde, mit Pablo Cubarsí (17) gibt es ein Abwehr-Wunderkind in der Hinterhand, Grimaldo – der eine Mörder-Saison in Leverkusen hinter sich hat – bekam nur zwei Einsätze, Aleix García hat den Cut nicht geschafft. England hat Leute wie Maddison, Rashford, Grealish und Curtis Jones daheim gelassen, dazu Maguire, der unter Southgate eigentlich immer dabei war.

U-21-EM-Finale 2023: England mit dem 1:0-Sieg

Und nicht zuletzt haben sich Spanien und England auch vor einem Jahr im Finale der U-21-EM getroffen, damals mit einem 1:0-Sieg der Engländer. Die Talente werden den beiden Ländern so schnell nicht ausgehen, zumal ihre aktuellen Kader schon eher auf der jungen Seite sind. Bestimmen Spanien und England nach dem Klub-Fußball in den kommenden Jahren also auch den europäischen Nationalteam-Fußball? Gut möglich.

2. – Mutige Teams der zweiten Reihe

Die EM startete mit einer flotten ersten Woche, hatte dann einen kräftigen Durchhänger und nahm in der letzten Woche mit zumindest eineinhalb sehenswerten Halbfinals wieder Schwung auf. Es war nicht so schlimm wie 2016, aber man muss schon sagen: Rein vom fußballerischen Unterhaltungswert waren die vier Wochen in Deutschland keine Offenbarung. Nun hat jedes Team seine eigenen Beweggründe, aber im Ganzen lässt sich gegenüber früher eine gewisse Trendwende erkennen: Während es vor allem die „Großen“ waren, die ihre Angriffsbemühungen dosiert eingesetzt haben, waren es eher die „Kleinen“, die sich was zugetraut haben.

Die Österreicher mit ihrem aggressiven Vorwärts-Pressing. Die Slowaken, die ein ähnliches Spiel für sich entdeckt haben. Die Georgier, die zwar die laut xG schlechteste Abwehr der EM hatten, aber mit Verve ihren wenigen Ballbesitz zu nützen suchten und mit dem Achtelfinal-Einzug belohnt wurden. Die Türken: Wenig Struktur im Aufbau, aber umso mehr Wille. Die Schweizer wollten das Spiel mit dem Ball am Fuß kontrollieren, was sie beinahe ins Halbfinale gebracht hätte.

Vor allem England und Frankreich wollten Spiele und Turnierverlauf kontrollieren, indem sie das Tempo gering hielten und die Zeit vergehen ließen, dafür war die Herangehensweise bei den genannten Mannschaften eher: „Fuck it, wir wissen dass wir das Turnier nicht gewinnen werden, wozu also Zurückhaltung?“

Andererseits wurden diejenigen Teams aus der zweiten Reihe, die einen passiven Zugang wählten, mit frühem Ausscheiden dafür bestraft – Serbien beispielsweise, Ungarn genauso. Dänemark ist sieglos Gruppenzweiter geworden und hat damit wohl den Kredit beim Fußballgott verspielt, wie im Achtelfinale zu sehen war.

3. – Dreierkette wieder defensiver

Acht Teams haben das Turnier mit einer Dreier/Fünfer-Abwehr durchgespielt (Dänemark, Georgien, Polen, Schottland, Schweiz, Serbien, Tschechien, Ungarn), fünf weitere haben situativ mit einer solchen agiert (England, Italien, Portugal, Türkei, Ukraine) – macht im Ganzen 13 der 24 Teams, also mehr als die Hälfte, wie schon vor drei Jahren, als es ebenfalls 13 von 24 waren.

Der Unterschied zu 2021: War es damals bei den meisten dieser Mannschaften ein Move, um am verdichteten Zentrum vorbei aufzubauen, war es nun wieder eher eine defensive Variante. Mit Ausnahme von Portugal und der Schweiz war bei allen diesen Teams eher die Intention, in der Abwehr die Spielfeldbreite abzudecken.

4. – Es gibt zu viel Fußball

Marcelo Bielsa, der zeitgleich mit der EM als Teamchef von Uruguay ins Halbfinale der Copa América gekommen ist, beschwerte sich dieser Tage über den Zustand des Fußballs ganz allgemein. Sinngemäß: Es geht nur darum, dass immer mehr Menschen immer mehr Spiele ansehen – weil es gut für’s Geschäft ist – aber der Fußball selbst wird dabei immer weniger attraktiv.

Nun war die EM spielerisch im Ganzen eher auf der enttäuschenden Seiten und die Copa América, wie meistens, von zerfahrener Hektik geprägt. Sportlich unterhaltsam im engeren Sinne waren beide Turniere nicht. Das war auch der Afrikacup vor einem halben Jahr nur bedingt, er lebte von den zahlreichen guten Storylines, weniger von gutem Fußball.

Kleiner Vergleich: Als Diego Maradona 1986 in die WM gegangen ist, hat er in der Saison davor 3.088 Minuten gespielt, dabei nur ein einziges Liga-Spiel für Napoli verpasst – er zog Argentinien danach praktisch im Alleingang zum Titel. Romario spielte in der Saison 1993/94 für Barcelona und Brasilien 4.190 Minuten, erreichte dabei das Finale der Champions League. Spaniens Sechser Rodri ist mit Manchester City schon im Europacup-Viertelfinale hängen geblieben, kam in der abgelaufenen Saison dennoch auf 5.025 Minuten am Platz – in den Jahren davor waren es 5.366 Minuten, 4.439 Minuten (weil er die Nations League weitgehend auslassen durfte) und 4.486 Minuten (plus danach noch 225 Minuten bei der EM).

Es geht nicht nur darum, dass die Serie A damals 16 Teams hatte und die Premier League nun 20 Teilnehmer. Oder dass man damals mit elf Matches den Meistercup gewann und in der neuen Saison (auch ohne Quali-Runden) 17 Spiele dafür brauchen könnte. Oder dass man sich in Europa mit sechs bis acht Spielen für die WM 1990 qualifiziert hat, nun mit Nations League mindestens 16 Bewerbs-Länderspiele im selben Zeitraum stattfinden. Oder dass es durch die Einführung der aufgeblähten Klub-WM ab 2025 überhaupt keine Sommer mehr gibt, in der die Stars auch mal zwei, drei Wochen Urlaub machen können. Sondern es geht auch darum, dass die Intensität der Spiele immer mehr steigt und steigt.

Dass am Ende einer solchen Extrem-Saison – weil heute jede Saison eine Extrem-Saison ist – ein solches eher nicht so tolles Turnier steht, darf keinen wundern. Aber, was auch Bielsa sarkastisch impliziert: So lange Matches genug für dreiminütige Highlight-Videos auf YouTube hergeben…

5. – Keine Macht dem Meckern

Apropos drei Minuten. Nach der WM in Katar, wo die FIFA die Nachspielzeiten geradezu lächerlich auf im Schnitt 12 Minuten pro Match in die Länge gezogen hatte, ging die UEFA nun einen anderen Weg. Die Nachspielzeiten bewegten sich im Normalbereich zwischen drei und vier Minuten, dafür wollte man mehr Fußball in die vorhandene Spielzeit reinpacken. Das sollte mit der Maßnahme gelingen, dass nur der Kapitän einer Mannschaft beim Schiedsrichter vorsprechen darf.

Die Maßnahme darf als voller und vermutlich nachhaltigster Erfolg dieser EM gelten. Sie wurde auch dank ihrer relativ konsequenten Umsetzung auf dem Feld rasch akzeptiert und generierte eine praktisch einhellige Zustimmung. Hatte die XXL-Nachspielzeit bei der WM für Drama, Hektik und Unsicherheit gesorgt, brachte das Mecker-Verbot im Gegenteil mehr Ruhe, mehr Spielfluss und ließ das (oft auch taktische) Bearbeiten der Unparteiischen gar nicht erst zu.

DAS ist ein Zukunftsmodell. Die 12-Minuten-Nachspielzeiten von Katar waren es nicht.

6. – Die generelle Wahrnehmung

Die 51 Spiele fanden praktisch allesamt vor bis auf den letzten Platz gefüllten Stadien statt, was einen EM-Rekord-Zuschauerschnitt von 52.500 bedeutet. Das alleine ist kein Indikator dafür, wie gut ein Turnier von den Fans ganz generell aufgenommen wird, voll waren die Stadien ja auch bei der WM in Katar gewesen. Die Stimmung in und rund um die Stadien war überwiegend positiv und friedlich, es gab aber sehr wohl auch einschlägige nationalistische Rülpser.

Es gab zahlreiche Pannen im Umfeld (der marode Zustand des öffentlichen Verkehrsnetzes und der fehlende Mobilfunk-Empfang in Deutschland bekamen international breite Coverage) und, trotz mehrerer Sicherheitsschleusen für Stadionbesucher, auch bei den Spielen selbst – die Anzahl der Flitzer wirft kein gutes Licht auf das Security-Konzept. Dass die UEFA mit ihrer halb-obligatorischen Fan-App die Bewegungen der Menschen trackt, darf nicht überraschen, man hätte sich aber etwa mehr Transparenz im Vorfeld erhofft und etwas weniger peinliche Herumdruckserei, als das rauskam.

Man darf annehmen, dass Katar oder Russland bei solchen Vorkommnissen gesteinigt worden wären. Deutschland, so war der Eindruck, wird das im Kontext eines Fußball-Turniers eher verziehen, weil es sich halt um ein klassisches Fußball-Land handelt. Außerdem wurden existierende Stadien in einem seit Jahrzehnten nicht gekannten Ausmaß de facto ohne Adaptierungen verwendet, was ein extrem auffälliger Gegensatz etwa zur WM in Katar ist.

Über den sportlichen Sinn und Unsinn einer EM mit 24 Teilnehmern darf diskutiert werden, das geschieht eh schon seit acht Jahren. Die fast viereinhalb Wochen des Turniers haben sich zuweilen schon sehr gezogen und das war dem Spannungsbogen der EM nicht immer zuträglich, auch der schiefe Modus ist seit Jahren ein Diskussionspunkt.

7a. – Der Gastgeber im Kontext der Geschichte

Dafür kann aber der Gastgeber aus Deutschland nichts. Es ist das vierte große Turnier, das Deutschland ausrichtet und jedes steht für ein eigenes Zeitalter, ein eigene Gefühligkeit.

Die WM 1974, eine von Teilung und RAF-Terror und der Erinnerung an den Olympia-Anschlag von München verunsicherte Nation, die aber demonstrieren wollte, dass man es gut mit der Welt meint, mit einer sozial-liberalen Koalition in Bonn, die den Mief der Fünfziger und Sechziger abstreifen wollte, dabei aber um biedere, unglamouröse Seriosität bemüht war. Das deutsche Team repräsentierte das: Der Rebell Netzer spielte nach einer Verletzung keine Rolle, Beckenbauer und Co. standen für Funktionalität und die Kunst, immer irgendwie einen Weg zum Erfolg zu finden.

Die EM 1988, mitten in den Kohl-Jahren – Grönemeyer und Gottschalk in Rund- und Hörfunk, heruntergekommene Betonbauten in der Fußball-Bundesliga, knalliges Privatfernsehen in den Kinderschuhen, und weil wir von den 80ern reden, dürfen auch Hooligans nicht fehlen. Deutschland hatte sich in seiner kleinbürgerlichen Kartoffeligkeit eingerichtet, ein Ende der Teilung war nicht abzusehen, schon gar nicht so ein rascher. Das deutsche Team repräsentierte das: Maloche statt Spielwitz, Zweikampf statt Technik, Grätsche statt Gurkerl.

Die WM 2006 fiel in eine Zeit des generellen Umbruchs. Wieder ging es darum, alten Mief zu entsorgen: Der Kohl-Backlash war in Form der proletoiden Polit-Fassade von Gerhard Schröder abgearbeitet worden, der DFB fremdelte mit dem Übergang weg vom ur-deutschen Zweikampf- zum kollektiven System-Fußball. Eine junge, unverbrauchte Generation spielte sich in die Herzen der Zuseher, es entstand ein Hurra-Patriotismus, der (noch) weitgehend frei von nationalistischen Untertönen war.

Und die EM 2024? Die Diskussion über die Ergebnisse einer vom WDR vor dem Turnier in Auftrag gegebenen Umfrage, nach der sich rund 20 Prozent der Deutschen weniger Nationalspieler mit Migrationshintergrund wünschen, sagt viel über das innere Unwohlsein der Deutschen aus. Die Ampelkoalition in Berlin ist vom Gezerre in unterschiedlichste Richtungen gelähmt, Populisten locken die Unzufriedenen mit Erfolg an und zwischen den Generationen tut sich ein Graben auf, der seit den Sechzigern nicht mehr so erbittert gezogen worden ist wie jetzt.

7b. – Der Gastgeber im Kontext der Zeit

Vor diesem Hintergrund hatte sich das DFB-Team sich im Bestreben, ein in Folge des WM-Titels von 2014 in Lethargie stagnierendes Team mit immer noch wilderen kreativen Ideen wiederzubeleben, zunehmend verzettelt. Julian Nagelsmann – als Jahrgang 1986 ein Millennial und der erste Bundestrainer überhaupt, der nicht mindestens der Babyboomer-Generation angehört – hat es im letzten Moment geschafft, sich ausreichend Kreativität im Team zu bewahren und diese mit einer soliden Basis aus Routine und Widerstandskraft zum Funktionieren zu bringen. Man brachte die EM ordentlich über die Bühne, es ging gerade noch mal gut, aber es weiß auch niemand so richtig, ob man sich mit einem Kraftakt zwei Jahre Kredit erkauft hat (wie 2002) oder ob es wirklich die Basis zu einem nachhaltigen Aufwärtstrend war (wie 2006).

Es war erkennbar, dass die Öffentlichkeit sich gerne mit dem Nationalteam identifizieren möchte und dieses Team bietet auch einen schönen Querschnitt durch die Gesellschaft. Der Arbeiter mit hochgekrempelten Ärmeln (Andrich) hat hier ebenso Platz wie der grandios talentierte, aber manchmal etwas verpeilte Gen-Z-Umreißer (Schlotterbeck). Es gibt Abiturienten, die sich nach undankbaren Praktikas bei Hertha BSC oder Greuther Fürth erst als Mitt- oder gar Spätzwanziger etablieren konnten (Füllkrüg, Mittelstädt) ebenso wie verspielte (Musiala, Sané) und robuste (Rüdiger, Tah) Kinder von einem oder gleich zwei Einwanderern. Der Kapitän ist türkischer Abstammung (Gündogan), der Stimmungsmacher ein bayerischer Lausbub (Müller), die ordnende Hand ein zu einem großen ausländischen Namen ausgezogener Ossi (Kroos).

In seiner frühen Phase holperte die Berichterstattung in Deutschland über den Stolperstein, dass man krampfhaft ein „Sommermärchen 2.0“ wie vor 18 Jahren herbeischreiben wollte, dass sich aber nicht planen lässt, sondern eben passieren muss. Um wirklich die gesellschaftsrelevante Dimension zu erreichen, die das deutsche Team von 2006 entfachte, war das Turnier für Deutschland wohl doch um zumindest eine Runde zu früh zu Ende und das Jammern um den nicht gegebenen Hand-Elfmeter gegen Spanien – so berechtigt er auch gewesen wäre – wirkten unnötig wehleidig. Vor allem vor dem Hintergrund, dass man über Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand zuvor gelacht hat, als er sich über den deutlich weniger klaren Hand-Elfmeter beschwert hat, der das Achtelfinale zu deutschen Gunsten vorentschieden hat.

Deutschland krönte sich bei der Heim-WM 1974 zum Weltmeister, wurde zwei Jahre nach der Heim-EM 1988 Weltmeister und legte mit der Heim-WM 2006 den Grundstein zum WM-Titel acht Jahre später. Gelingt auch jetzt in absehbarer Zukunft ein großer Wurf, wird man unter alldem die Heim-EM von 2024 durchaus als Basis sehen dürfen.

So geht es weiter

Die EM ist Geschichte, die nächste wird 2028 in Großbritannien und Irland stattfinden. Die geplanten Spielorte sind London (Wembley, White Hart Lane), Manchester (City), Liverpool (Everton), Newcastle und Birmingham in England, dazu Glasgow (Hampden), Cardiff, Dublin und Belfast.

Und – wie schon angerissen – der Fußball geht praktisch direkt weiter. Im Herbst steht der nächste Durchgang der Nations League an, ehe im kommenden Jahr die 12 Direkt-Tickets für die Weltmeisterschaft 2026 in Nordamerika ausgespielt werden; vier weitere Plätze werden dann im Frühjahr 2026 im Playoff verteilt.

Link-Tipps:
Bilanz der Top-8 (ESP, ENG, FRA, NED, GER, POR, SUI, TUR)
Bilanz der Achtelfinalisten (ITA, AUT, BEL, DEN, SVK, SLO, ROU, GEO)
Bilanz der Vorrunden-Eliminierten (CRO, SRB, UKR, CZE, POL, ALB, HUN, SCO)

WM 2022: Alte Zöpfe, neue Pflöcke – Schlusspunkt und Neuanfang
Was uns die EM 2021 gezeigt hat
WM 2018: Balance, Absicherung, Video-Referee
10 Erkenntnisse der EM 2016 in Frankreich
WM 2014: Rückkehr der Dreierkette, gute Goalies und die ewige Diskussion um die Refs
WM 2010: Toter zweiter Mann, besoffene Schiefe und andere Erkenntnisse

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Die Top-8 der EM 2024: Spanien überstrahlt alle https://ballverliebt.eu/2024/07/16/die-top-8-der-em-2024-spanien-ueberstrahlt-alle/ https://ballverliebt.eu/2024/07/16/die-top-8-der-em-2024-spanien-ueberstrahlt-alle/#comments Tue, 16 Jul 2024 13:33:51 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20430 Die Top-8 der EM 2024: Spanien überstrahlt alle weiterlesen ]]> Mit dem vierten Titel hat sich Spanien nun die Krone des Rekord-Europameisters aufgesetzt. Verdient – man stellte das klar beste Team des Turniers, gewann alle sieben Spiele (sechs davon nach 90 Minuten) und spielte dabei auch noch ansehnlichen Fußball.

Das haben nicht alle der acht Teams, die bei der EM in Deutschland das Viertelfinale erreicht haben. England und Frankreich sorgten wahlweise für Langeweile oder Ärger, die Niederlande war nicht so überzeugend wie der Halbfinal-Einzug nahelegt, Portugal hat sich selbst an die Leine gelegt. Und neben den starken Schweizern und den türkischen Glücksrittern war dann ja auch noch der Gastgeber, der sich fragen muss: Wo auf der Grauzone zwischen Erfolg und Fehlschlag rangieren die Vorstellungen den nun?

Spanien: Die mit Abstand beste Mannschaft

Trotz allem Ballbesitz fehlte der Zug in den Strafraum: Bei praktisch allen Turnieren in den letzten zehn Jahren war dies das Manko bei Spanien und der Grund, warum die Gegner – wie Russland 2018, wie Japan und Marokko 2022 – die Spanier auch mit Ballbesitzwerten um die 20 Prozent besiegen hatten können. Das geht jetzt nicht mehr.

Denn mit Wunderkind Lamine Yamal rechts und dem trickreichen Dribbler Nico Williams links gibt es nun zwei Flügelspieler, die aus den endlosen Passfolgen ausbrechen können, in Eins-gegen-Eins-Duelle gehen, Zug in den Strafraum haben und im Zweifel auch aus größerer Distanz gefährlich abschließen können. Damit ist auch wieder Platz für einen echten Mittelstürmer in Kapitän Álvaro Morata, wenn auch eher in freiblockender Mission als in schießender. Pick-and-Roll, quasi.

Hinzu kam, dass nach der Pedri-Verletzung zu Beginn des Viertelfinales mit Dani Olmo ein deutlich direkteres Element ins Mittelfeld einzog, in dem Rodri auf der Sechs das Spiel vor sich lenkte, die Abwehr abschirmte, alles im Blick und im Griff hatte. Trainer Luis de la Fuente verstand es darüber hinaus wie kaum ein zweiter Teamchef bei der EM, mit exaktem und nuanciertem In-Game-Coaching auf den Spielverlauf zu reagieren. Dazu gehört auch, wie gegen Kroatien, dem Gegner den Ball zu lassen und ihn zu hetzen (wie gegen Kroatien) oder verzweifelte Franzosen den Ball nachlaufen zu lassen (wie im Halbfinale).

Kein anderes Team lag anteilig länger in Führung als Spanien (55 Prozent der Zeit), nur eines lag seltener im Rückstand (5 Prozent), kein anderes Team traf öfter (15 Tore), kein anderes Team, das zumindest im Viertelfinale war, kassierte weniger Gegentore (vier) – wiewohl Spanien bei den Gegentoren den xG-Wert deutlich unterbot.

De la Fuente – der schon die spanische U-19 und die spanische U-21 zu EM-Titeln gecoacht hat – verstand es wie vermutlich kein spanischer A-Teamchef vor ihm, die Vorzüge von Ballbesitz-Fußball und jene von individueller Qualität mit Zug zum Tor und jene von präzisem In-Game-Coaching zu verbinden. Bei den Titeln fehlte Aragonès (noch) das Ballbesitz-Element, Del Bosque der Zug zum Tor, ebenso wie – noch viel extremer – in der Folge den erfolglosen Hierro und Luis Enrique.

England: Die Grenzen von „Vibes Only“

Wollte man Gareth Southgate direkt angehen, könnte man sagen: Er hat England in den 102 Spielen der letzten knapp acht Jahre so weit gebracht, wie man ein talentiertes Team mit einem „Vibes Only“-Zugang halt bringen kann. Zwei EM-Finals, ein WM-Semifinale, ein WM-Viertelfinale – rein von den Ergebnissen her hat England über vier Turniere hinweg noch niemals eine so konstant gute Bilanz vorzuweisen wie unter Southgate.

Southgate hat definitiv einen Kulturwandel ins englische Team gebracht: War das Team in den Nuller-Jahren eine Schlangengrube im Brennpunkt des Boulevards und die Zeit unter Hodgson ein dem ambitionsloses Verwalten des Verfalls, herrscht nun eine positive Grundstimmung. Das zwischenmenschliche Element passt, mentale Blockaden wurden gelöst. Seit 2012 werden mit dem St.-George’s-Trainingszentrum und einer klaren Ausbildungsstrategie junge Top-Spieler gefördert, die in den letzten Jahren nach und nach ins Nationalteam stoßen. England ist U-20-Weltmeister (2017) sowie U-21-Europameister (2023) und U-19-Europameister (2017 und 2022).

Dieses EM-Turnier aber war eigentlich furchtbar. Es wurde sechs Spiele lang gut verteidigt, das schon, aber spielerisch war das alles extrem arm. Es gab keine Struktur im Aufbau, keine Strukturen im Pressing, die Standards – 2018 noch der Schlüssel zum guten Turnier – waren schwach. Roman Mählich nannte es sinngemäß „Bleiwesten-Fußball“, langsam, esprit- und ideenlos, zuweilen geradezu willenlos. Es war die Art von Turnier, das eigentlich im Achtelfinale endet.

Es waren Momente individueller Brillanz, die England ins Finale hievten. Bellinghams Fallrückzieher in der Nachspielzeit gegen die Slowakei, Ollie Watkins‘ grandioser Abschluss im Halbfinale gegen die Niederlande. England war wenige Minuten davor, das Finale in die Verlängerung zu schicken – eigentlich eine Farce. Die EM war ein klarer Rückschritt gegenüber dem WM-Auftritt in Katar.

Ein konstruktives Klima schaffen, hat es in den letzten Jahren gebraucht. Sich auf die individuelle Qualität seiner Spieler zu verlassen, vorzeigbare Resultate gebracht. England hat spätestens jetzt aber auch die Limits des Zugangs erkennen müssen.

Frankreich: Mit angeschlagenem Mbappé noch passiver

Neben England verkörperte bei dieser EM niemand den zurückhaltenden Zugang zu Spielen so konsequent wie Frankreich – nur, dass man das bei Didier Deschamps seit über einem Jahrzehnt so kennt und man wusste, was kommt. Gar so extrem wie diesmal war es aber selbst bei Deschamps noch nie. Es dauerte bis zum Halbfinale (!!!), ehe Frankreich erstmals ein Tor aus dem Spiel heraus ohne Zutun des Gegners erzielte. Ein Eigentor beim 1:0 gegen Österreich, ein Elfmeter beim 1:1 gegen Polen, ein abgefälschter Schuss beim Achtelfinal-1:0 gegen Belgien, dazu die 0:0-Spiele gegen Holland in der Gruppe und gegen Portugal im Viertelfinale.

Unterhaltungswert geht anders, aber selbst mit diesem Minimalisten-Fußball schlängelte sich Frankreich – als klare Nummer 1 im Elo-Rating aus der Qualifikation hervorgegangen – ins Halbfinale durch. Letztlich war es aber die selbe Idee wie immer: Defensiv so sicher wie möglich stehen, den Gegner zur Aktivität zwingen, und dann mit dem Tempo vor allem von Mbappé in die entstehenden Räume stoßen. Angesichts des Nasenbeinbruchs, den sich Mbappé schon im ersten Spiel zugezogen hat, lahmte der zweite Teil der Gleichung aber: Ganz auf 100 Prozent war der Neo-Königliche nicht mehr.

Thuram und Kolo-Muani waren bemüht, aber harmlos; Griezmann fehlte ein wenig die gewohnte Dynamik, Dembélé traf am Ball viele falsche Entscheidungen. Die Abwehrkette spielte in Komplett-Besetzung alle sechs Spiele durch und der alte N’Golo Kanté, spätestens nach seinem Saudi-Transfer abgeschrieben, feierte sein vermutlich letztes Hurra auf der großen Bühne.

Man hadert ein wenig mit dem Halbfinal-Aus gegen Spanien, aber Deschamps bleibt im Amt und mit ihm auch seine Idee davon, wie man als Nationalmannschaft erfolgreich ist.

Niederlande: Schritt nach vorne oder zu viele Schwächen?

Im niederländischen Verband wird man die Rückkehr in ein großes Semifinale nach zehn Jahren sicher als Zeichen sehen wollen, dass die Dürreperiode endgültig vorbei ist. Aber ist sie das wirklich? Bei dieser EM ist Oranje hinter Österreich und Frankreich Gruppendritter geworden und hatte dann auch Losglück. Achtelfinale gegen ein rumänisches Team, dass eher wegen glücklicher Umstände dort war, nicht wegen eigener Klasse. Und ein Viertelfinale gegen die Türkei, die schon im Achtelfinale gegen Österreich zu einem ausgesprochen glücklichen Sieg gekommen war.

Rumänien hatte nicht die Klasse, die holländischen Schwächen im Spiel gegen ein gutes Pressing zu exponieren und gegen die Türkei wäre es ohnehin fast schief gegangen. Das Spiel ohne Ball war schwach und oft strukturlos (wie es das schon 2021 unter Ronald de Boer der Fall war), nicht zuletzt war Jody Veermans Katastrophen-Auftritt gegen Österreich ein sichtbarer Beweis davon.

Es gab aber durchaus Ideen, die grundsätzlich funktioniert haben. Die asymmetrische Abwehrkette mit Aké links etwa, der tief blieb und im Aufbau eine Dreierkette schuf und vor dem Cody Gakpo tiefer starten und sein Tempo damit ausspielen konnte. Dann sah das Mittelfeld im 4-2-3-1 (gegen Polen und ab dem Achtelfinale) wesentlich stabiler aus als im 4-3-3, der von Koeman eigentlich verschmähte Simons als Freigeist auf der Zehn brachte Belebung.

Das niederländische Team sah vielversprechender und auch mental stabiler aus als jenes von De Boer bei der EM 2021 und es war auch mehr Weitblick zu erkennen als beim ultra-pragmatischen Ergebnis-Zugang von Louis van Gaal bei der WM 2022. Es ist aber immer noch vorhersehbar, es fehlt jegliche Idee gegen ein gezieltes Anlaufen und Koeman verlässt sich mehr auf die fraglos vorhandene individuelle Qualität als auf echte Ideen.

In dieser Form ist die Niederlande ein seriöser Viertelfinal-Kandidat. Mehr geht sich nur aus, wenn – wie bei dieser EM – die Umstände passen.

Deutschland: Solides Turnier auf Pump

Was war das für ein Gewürge, in den letzten anderthalb Jahren: Hansi Flick und nach ihm Julian Nagelsmann probierten allerhand aus, um aus dem unausgewogenen personellen Möglichkeiten – viele kreative Mittelfeldspieler, kaum Innenverteidiger, praktisch keine Außenverteidiger und echte Stürmer – ein funktionierendes Team zu machen. Es war die Bereitschaft von Toni Kroos, zum Karriereende nochmal eine EM mitzunehmen, die den wohl entscheidenden Impuls zu einem zumindest recht soliden Turnier darstellte.

Nach all den Experimenten war es am Ende dann doch ein relativ handelsübliches 4-2-3-1, neben Kroos wurde tatsächlich eine echte Zweikampf-Maschine eingezogen, nämlich Andrich von Meister Leverkusen. Nach dem 0:2 in Wien letzten November hatte Nagelsmann öffentlich eingestanden, dass er wohl auf kreatives Talent verzichten muss und doch den einen oder anderen „Worker“ braucht. Die starke Saison des VfB Stuttgart spielte Nagelsmann zusätzlich in die Karten, mit Spätstarter Mittelstädt hatte er einen neue Option auf der linken Seite, mit Anton eine im Abwehrzehntrum.

Die Idee nach vorne war, dass Nagelsmann zwei kreative Techniker auf den nominellen Außenpositionen hatte (Musiala und Wirtz), die nach innen ziehen, während Gündogan sich etwas zurückzieht und die Balance herstellt. Wenn die gegnerische Abwehr müdegelaufen war, kam mit Füllkrug ein Stoßstürmer für den mobileren Havertz; Füllkrug traf gegen Schottland, sorgte für den späten Ausgleich gegen die Schweiz, auch Spanien beschäftigte er. Nach hinten war der 3-1-Aufbau mit Kroos neben den Innenverteidigern und Andrich davor zuweilen eine Quelle der Gefahr, weil die Halbräume frei für gegnerische Gegenstöße waren.

Deutschland überstand problemlos die Vorrunde, hatte dann gegen ein biederes dänisches Team im Achtelfinale auch ordentlich Glück mit Referee-Entscheidungen, dafür hatten die Deutschen mit ebendiesen im Viertelfinale gegen Spanien Pech. Niemand im Turnier brachte Spanien so ans Limit wie Deutschland, das darf man im DFB für sich verbuchen, allerdings trotzte man schon in Katar den Spaniern in einem großartigen Spiel ein 1:1 ab und schied doch aus.

Es war ein vernünftiges Turnier, besser als man es vor einem halben Jahr befürchten durfte, ein grandioser Befreiungsschlag war es aber auch nicht. Man kann es als solide Basis für die nächsten Jahre betrachten, aber auch wie ein Turnier auf Pump – denn das Kroos-Comeback war ein bisschen Deus-Ex-Machina, der jetzt wieder wegfällt. Wer in Zukunft die taktisch clevere und spielerisch sinnvolle Lösung im Zentrum ist? Aleksandar Pavlovic, der das Turnier im letzten Moment krank verpasste, könnte eine Option sein. Nagelsmann wird sich und das Team, wohl auch Zurecht, auf einem guten Weg sehen. Mehr ist es aber (noch) nicht.

Portugal: Titel-Chance auf Ronaldos Ego-Altar geopfert

Ronaldo ist an einem Punkt angekommen, an dem er wie seine eigene Karikatur wirkt. Niemand anderer darf einen Freistoß ausführen, obwohl niemand anderer so schlecht darin ist wie Ronaldo. Mit einem Ronaldo kann man nicht pressen, mit einem Ronaldo kann man kein Tempospiel mehr aufziehen, mit Ronaldo ist es auch nicht möglich, ein grundsätzlich spannendes Konzept der fluiden Positionierungen konsequent durchzuziehen. Und so hat Portugal – weil der Starspieler ein Politikum ist – einmal mehr eine seriöse Titelchance auf dem Altar von Ronaldos Ego geopfert.

Denn was wäre Portugal für eine tolle Truppe, so flexibel, was für ein Tempowirbel wäre möglich, wie spielintelligent sind die Leute um Ronaldo herum. Das System lässt sich nicht klar definieren, mal eher 3-4-3, mal eher 4-3-3, oft ist es irgendwas dazwischen. Mal Rafa Leão eher als Wing-Back und Bruno Fernandes im linken Halbraum als hängende Spitze; mal mit Cancelo hoch und Bernardo Silva rückt ein; mal mit Vitinha aus der Tiefe wenn Palhinha nicht spielt, mal höher geschoben.

Aber am Ende dreht sich alles um die Ego-Show des 39-Jährigen ganz vorne. Das lähmt Portugal, weil man sein Konzept auf halbem Weg abbrechen muss, und weil das natürlich auch die Gegner wissen. Tschechien hätte beinahe ein 1:1 geholt, die Türken haben sich selbst besiegt, bei der Niederlage gegen Georgen war Ronaldo der einzige Feldspieler, der nicht rausrotierte. Slowenien war in der Verlängerung dem Sieg näher und gegen Frankreich konnte man die Chancen, die sich um einen teilnahms- und wirkungslosen Ronaldo herum ergaben, nicht verwerten.

Das Turnier bleibt für Portugal eine vertane Chance. Und so spannend und unterhaltsam Portugal sein kann: Im Hinblick auf die WM in Nordamerika in zwei Jahren wird es wohl noch spannender sein, ob sich Martinez traut, den offensichtlichen und überfälligen Schritt zu setzen. Ronaldo selbst hat angekündigt, die WM noch spielen zu wollen.

Schweiz: Alle Rädchen greifen ineinander

Die Schweiz vor einem halben Jahr: Nur eines der letzten sieben EM-Quali-Spiele gewonnen (und zwar gegen Andorra), gerade noch so über die Ziellinie gekrochen, Kapitän Xhaka und Teamchef Yakin im vom Boulevard genüsslich breitgetretenen Zwist; ein gelähmtes Team ohne Schwung. Die Schweiz jetzt: Wieder ärgert man sich – aber darüber, im zum zweiten Mal in Folge ein EM-Viertelfinale im Elfmeterschießen verloren zu haben. Vor drei Jahren gegen Spanien, nun gegen England.

Gerade im Ballbesitz waren die Eidgenossen eines der besten Teams bei dieser EM. Akanji verteilte von hinten heraus die Bälle mit Übersicht, Xhaka assistierte ihm mit Robustheit und Auge im Mittelfeld, Freuler stopfte Löcher. Die einrückenden Außenstürmer räumten wahlweise die gegnerischen Außenbahnen für die Wing-Backs frei oder zogen Innenverteidiger auf sich. Das Spiel der Schweiz hatte Struktur, die Rädchen griffen ineinander, es war im Fluss. Man arbeitete sich gegen Ungarn und die Schotten ins Turnier hinein, hatte Deutschland danach am Rande der Niederlage und ließ eines der größten Spiele der Schweizer Fußballgeschichte folgen.

Man zog Italien am Nasenring durch das Berliner Olympiastadion, ließ den Titelverteidiger überhaupt keinen Zugang ins Mittelfeld finden, neutralisierte den Kontrahenten und hatte 90 Minuten lang alles immer bombenfest im Griff. Im Viertelfinale gegen England war man dem Sieg näher als der spätere Finalist, brachte die Führung aber nicht über die Zeit und dann war es eben Akanji, der mit einem schwachen Elfer im Shoot-Out das Aus besiegelte.

Wie immer bei einem Land mit einem relativ kleinen Spielerpool wie es die Schweiz ist, muss die Frage erlaubt sein, wie es mittelfristig weitergeht, das Team ist im besten Alter, die Junioren-Teams haben in den letzten Jahren nicht beeindruckt. Wenn man in den letzten 20 Jahren bei der Schweiz aber eines gelernt hat, dann dass ihr Niveau nicht nachhaltig sinkt. Vor allem dann nicht, wenn – so wie bei dieser EM – Team und Trainer an einem Strang ziehen.

Türkei: Wild mit viel Kopf-durch-die-Wand

Sieht so ein Viertelfinalist aus? Gerade noch so ein wildes Spiel gegen Georgen gewonnen, chancenlos gegen Portugal, in Überzahl gegen Tschechien die Nerven weggeworfen, dann kräftig Glück im Achtelfinale mit einem De-facto-Eigentor des Gegners in der 1. Minute und einem Weltklasse-Save in der Nachspielzeit. Also, auch ohne österreichische Brille: Die Türken waren der mit Abstand schwächste Vertreter im Viertelfinale.

Die Umstellung auf Fünferkette für die K.o.-Runde – Ayhan rückte von der Sechs nach hinten – verlieh den Türken durchaus defensive Stabilität, man stellte damit sowohl Österreich als auch die Niederlande vor Denksport-Aufgaben. Der Truppe wird durchaus Talent nachgesagt, wobei der schmächtige Arda Güler, zumeist als Sturmspitze eingesetzt, von einem Weitschusstor gegen Georgien abgesehen überhaupt nichts gezeigt hat.

Die Vorstöße von Ferdi Kadıoğlu auf der linken Seite brachten Unruhe in die Reihen des Gegners, eine wirklich stringente Spielidee suchte man aber vergeblich. Hakan Çalhanoğlu pendelte zwischen Acht und Zehn und war eher mit Balancegeben beschäftigt als mit Impulsgeben; Kenan Yıldız und Barış Alper Yılmaz waren viel mit dem Kopf durch die Wand unterwegs. Gegenstöße wurden viel zu oft durch Ungenauigkeiten verdaddelt.

Vincenzo Montella hat es geschafft, eine Mannschaft zu formen, in der einer für den anderen da ist; als spielerische Einheit funktioniert die Türkei aber (noch?) nicht. Man ist verdient erstmals seit 2008 aus einer Gruppe herausgekommen. Man sollte in der Türkei aber glücklich sein, dass man überhaupt ins Viertelfinale gekommen ist – und sich nicht grämen, dort eher unglücklich an der Niederlande gescheitert zu sein.

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Aus im EM-Achtelfinale: Italien, Belgien, Georgien und Co. zwischen Party und Frust https://ballverliebt.eu/2024/07/05/aus-im-em-achtelfinale-italien-georgien-fegefeuer/ https://ballverliebt.eu/2024/07/05/aus-im-em-achtelfinale-italien-georgien-fegefeuer/#respond Fri, 05 Jul 2024 15:21:20 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20285 Aus im EM-Achtelfinale: Italien, Belgien, Georgien und Co. zwischen Party und Frust weiterlesen ]]> Ein Achtelfinale ist nicht gleich ein Achtelfinale – es ist das Fegefeuer eines Turniers. Für manche ist es ein historischer Erfolg, überhaupt hier spielen zu dürfen. Für andere ist es eine Ernüchterung, womöglich sogar eine Blamage. Ein chancenloses 1:4 kann von Jubel quittiert werden, ein heroisch erkämpftes 0:0 nach Verlängerung mit Tränen.

Italien hat eine bittere Standortbestimmung hinter sich, bei Dänemark wurde der Negativtrend der letzten eineinhalb Jahre bestätigt, bei Österreich der Positiv-Trend der letzten 25 Monate. Belgien gibt Fragen auf, die Slowakei zeigte auf, Slowenien feierte eine Premiere, Rumänien ein Comeback nach 24 Jahren. Und Georgien ist die große, positive Überraschung.

Italien: Rückschritt ist kein Zufall

Auf der Basis des von Roberto de Zerbi (damals Sassuolo) und Gian Piero Gasperini (damals wie heute Atalanta) gezeigten Kulturwandels in der Serie A wurde ein erstaunlich positives, aktives und offensives italienisches Team vor drei Jahren so ein wenig aus dem Nichts Europameister. „Ob das jetzt wirklich der strukturelle Neustart ist, oder doch „nur“ wieder ein gutes Abschneiden aufgrund von sehr gutem Coaching, bleibt aber trotz des EM-Titels noch abzuwarten“, hieß es an dieser Stelle im Juli 2021. Eine weitere verpasste WM, ein gerade noch gesichertes EM-Ticket und ein EM-Turnier zum Vergessen später wissen wir: Ein struktureller Neustart war es nicht.

Im Gegenteil, Italien ist in alte Muster zurückgefallen. In drei von vier Spielen hat man wenig bis gar keine eigene Initiative gehabt. Das ist gegen Spanien verständlich und bis zu einem gewissen Grad auch, wenn man nur einen Punkt gegen Kroatien braucht. Wie sehr das italienische Team aber im Achtelfinale gegen die Schweiz 90 Minuten lang so überhaupt gar keinen Zugriff auf das Mittelfeld bekommen hat, war schon sehr frappant. Selbst gegen Albanien war der einzige echte Aufbau-Move der lange Martin-Hinteregger-Gedächtnis-Diagonalball aus der Abwehr auf den ballfernen Flügel gewesen.

Andererseits war – wie man nach dem Rückstand gegen Kroatien sehen konnte – der Weg von „wir fühlen uns komplett in Kontrolle“ zum kompletten Panikorchester bei Italien irgendwie noch nie so kurz wir jetzt. Luciano Spalletti, der aus der Roma ein Offensiv-Powerhouse gemacht hat und Napoli 2023 überlegen zum Serie-A-Titel geführt hat, wirkte an der Seitenlinie ratlos und bei Medienterminen mal pampig, mal defensiv, mal beleidigt – aber nie in Kontrolle.

Von 2018 bis 2021 war die Zahl der Tore in der Serie A um 146 angestiegen, von 2021 bis 2024 ist sie wiederum um 171 gesunken. De Zerbi ist erst in die Ukraine und dann nach England gegangen, Sassuolo ohne ihn abgestiegen, aus dem Attacke-Atalanta ist vielleicht kein Bedächtig-Bergamo geworden, ganz der intensive Wirbel ist es beim Europa-League-Sieger aber auch nicht mehr. Auch die ohnehin schon 2021 geringe Anzahl an einheimischen Spielern bei Top-Klubs geht immer mehr zurück. Klares Symptom: Erstmals seit 1938 ist kein einziger Spieler des AC Milan in einem italienischen Turnier-Kader.

Frappant ist vor allem das Fehlen von italienischen Stammspielern in Mittelfeld und Angriff. Milan hat hier gar keine, Meister Inter einen (Barella), Europa-League-Sieger Atalanta hat einen (Scamacca) und selbst beim Überraschungs-Vierten Bologna ist nur ein Italiener Stamm, der kein Verteidiger wäre, Flügelstürmer Riccardo Orsolini nämlich, und er hat den Kader-Cut nicht geschafft. Verteidiger Riccardo Calafiori, der einzige echte EM-Gewinner aus italienischer Sicht, ging einst nach Basel und vor dort zu Bologna, weil er bei der Roma unter Mourinho keine Einsatzzeit bekam. Spalletti sprach offen an, dass für ihn viel zu wenige diesen Schritt gehen, lieber bei den Top-Klubs auf der Bank sitzen, als halt mal den Umweg über beispielsweise die Schweiz zu gehen.

Wahr ist, dass es jeder Commisario Tecnico schwer hat, weil die Qualitätsdichte gemessen an den italienischen Ansprüchen tatsächlich sehr dünn ist, es gibt kaum kreative Mittelfeldspieler und praktisch gar keine Mittelstürmer von internationalem Format. Italiener pressen nicht, sie gestalten oder schalten – wenn schon – aus einem tieferen Block um. Wahr ist aber auch, dass keine taugliche Idee ersichtlich war, wie ein Gestalten aussehen hätte können und auch keine Strukturen, um nach Ballgewinnen in der eigenen Hälfte zielgerichtet und rasch nach vorne zu kommen. Mit gutem Willen ist Italien ein Viertelfinal-Kandidat. Bei dieser EM war Italien nicht mal das.

Österreich: Erwartungen mit Leistung untermauert

Nicht die eigene Fehlervermeidung ist das Credo von Ralf Rangnick, sondern das Provozieren von Fehlern beim Gegner. Diese aktive und aggressive Spielweise, bei der man möglichst selbst am Fahrersitz des Matches sitzt, kommt dem zur Verfügung stehenden Personal entgegen: Seit Rangnick 2012 in Salzburg aufgeschlagen ist, ist Österreich zu einem Pressing-Land geworden. Die meisten Akteure im Dunstkreis des Nationalteams kommen entweder selbst aus dem Red-Bull-Lager oder sind von anderen Vereinen mit einer artgleichen Spielweise vertraut. Das sah man.

Selbst Vizeweltmeister Frankreich war vor dem Angriffspressing der Österreicher nicht gefeit, der Mut zum Risiko gehört dazu. Ein Eigentor bescherte Frankreich den Sieg und es wurde deutlich, dass sich Österreich vor allem dann schwer tut, wenn man selbst zum Kreieren mit Ball gegen einen tief stehenden Kontrahenten gezwungen ist. Das war auch in Phasen gegen Polen zu erkennen, initiative Umstellungen für mehr Direktheit zahlten sich aber aus und Österreich gewann mit 3:1, womit das Achtelfinale im Grunde erreicht war. Es folgte das Statement Game gegen die Niederlande: Wieder initiativ, wieder aggressiv, ohne falschen Respekt vor einem großen Namen – den wilden Schlagabtausch hat Österreich 3:2 gewonnen und war damit sogar Gruppensieger.

Das Achtelfinale ging schon nach einer Minute in die falsche Richtung, gegen eine tief stehende Türkei, fand man kein Mittel, sich einen Ausgleich zu erarbeiten, und doch brauchte es zwar einen Wunder-Save der türkischen Keepers, um die Verlängerung zu verhindern. Im Ganzen war die Wahrnehmung der Leistungen wohl etwas besser als es die Leistungen wirklich waren, das Holland-Spiel eventuell ausgenommen. Aber erstmals seit ewigen Zeiten passten die Leistungen mit den hohen Erwartungen zusammen und Österreich geht mit Optimismus aus dieser EM heraus.

Belgien: Kaum wiederzuerkennen

Taktisch clevere Raumaufteilung, mit Überladungen auf der rechten Angriffsseite wurde der Gegner zermürbt. Es war harte Arbeit, aber Belgien war das klar bessere Team und kam letztlich zu einem verdienten 2:0-Erfolg gegen Rumänien. Das war das zweite Gruppenspiel nach dem 0:1-Fehlstart gegen die Slowakei – dort spielte der Gegner völlig anders als erwartet, es dauerte eine Halbzeit bis man wusste, was gespielt war und ohne den VAR, der durch knappe Calls zwei belgische Tore wieder einkassierte, hätte man das Match auch nicht verloren.

Nach diesem vielleicht nicht rundheraus überzeugenden, aber unter großem Druck doch sehr herzeigbaren Auftritt durfte man Belgien wieder auf Schiene betrachten. Unter Domenico Tedesco, der nach der verpatzten WM von Roberto Martínez übernommen hat, wehte in der EM-Quali ein spürbar frischer Wind durch das Team, der junge Deutsch-Italiener blieb im Machtkampf mit Real-Keeper Thibaut Courtois standhaft. Belgien spielte variabel und flink, gewann die Quali-Gruppe mit Österreich und Schweden problemlos, besiegte Deutschland in einem Test verdient und hat im Wembley gegen England erst in der Nachspielzeit den 2:2-Ausgleich kassiert.

Im dritten Gruppenspiel gegen die Ukraine bog Belgien allerdings doch in die falsche Richtung ab, und zwar endgültig. War es wirklich nur die nervenaufreibende Anreise zum Stadion, wie Tedesco behauptete? Belgien wirkte zerrissen, unsicher, gehemmt. Man brauchte einen Punkt für das Achtelfinale, verlieren war verboten, aber der Gegner hatte nicht die Geistesgegenwart, die belgischen Schwächen zu nützen, es blieb beim 0:0. Im Achtelfinale gegen Frankreich legte man es sehr defensiv an, mit De Bruyne auf der Sechs neben Onana. Belgien kam kaum aus dem Verteidigungsdrittel heraus, geschweige denn ins Angriffsdrittel hinein. Auf das abgefälschte Tor von Frankreichs Joker Kolo-Muani gab es keine Antwort mehr.

Das sang- und klanglose Achtelfinal-Aus, ohne jeden Eindruck auf das Turnier hinterlassen zu haben, wirft bei Belgien wieder einen ganzen Schwung neuer Fragen auf, personell wie taktisch, die man zumindest nicht öffentlich beantworten will. Das legt zumindest Kevin de Bruynes pampige Reaktion auf derartige Nachfragen nach dem Frankreich-Spiel nahe.

Dänemark: Einmal mehr seltsam leblos

War war Dänemark im Jahr 2021 für ein Wirbelwind! Schon im Frühjahr nützte man Österreichs Schwächen gnadenlos aus und gewann in einem coronabedigt leeren Happel-Stadion mit 4:0, bei der EM schwammen die Dänen auf einer Welle der Sympathie nach Eriksens Herzstillstand beinahe bis ins Finale. Ein Jahr später beendete Dänemark seine Nations-League-Gruppe satte sieben Punkte vor dem späteren WM-Finalisten Frankreich. Nur bei der WM in Katar präsentierte sich das Team von Trainer Kasper Hjulmand seltsam leblos.

Die geschaffte EM-Qualifikation in einer schwachen Gruppe war Pflichterfüllung, wiewohl es auch hier Ausrutscher wie die Niederlage gegen Kasachstan gab. Und nun, bei der EM, verfestigte sich das Bild zu einem wahren Monolithen: Aus Hjulmands Wirbelwind von 2021 ist eine uninspitierte, langsame und eindimensionale Mannschaft geworden. Gegen Slowenien wähnte man sich nach der frühen Führung gegen einen defensiven Gegner in Sicherheit und kassierte das 1:1, gegen einen schwachen Favoriten aus England war man zufrieden, ein 1:1 geholt zu haben und gegen die Serbien spielte man auf genau jenes 0:0, das man zum Aufstieg brauchte – ohne Punch, ohne Siegeswillen.

Christian Eriksen changierte zwischen Zehn und Acht und Flügelstürmer, Morten Hjulmand verlieh dem Mittelfeld-Zentrum neben Højbjerg Stabilität durch Präsenz. Aber wie schon in Katar fehlte der Übergang von Mittelfeld ins Angriffsdrittel, es wurde zu wenig nachgerückt und Ramus Højlund konnte seine Stärken nie ausspielen. Die Dänen ärgerten sich nach dem 0:2 verlorenen Achtelfinale gegen Deutschland über enge Referee-Entscheidungen und sie hatten im Regen von Dortmund fraglos ihre beste Leistung des Turniers abgeliefert.

Aber mehr als das Achtelfinale ist diesem dänischen Team auch einfach nicht zugestanden. Trotzdem: Der dänische Verband hat Hjulmand die Rückendeckung ausgesprochen, sein Vertrag läuft noch bis zur WM.

Slowakei: Erstmals wirklich Spaß gemacht

Über Jahre hinweg war das slowakische Team ein Synonym für eine langweilige Truppe mit langweiligem Fußball. Bei Turnieren? Die Sorte Gruppenspiel „Dienstag um 15 Uhr“, das man sich guten Gewissens ersparen kann, weil man weiß, dass man nichts verpassen wird. Selbst im März, als man gegen Österreich testete und mit einer anonymen Leistung 0:2 verlor, deutete nichts darauf hin, dass es diesmal anders sein sollte.

Aber es war anders. Der italienische Trainer Francesco Calzona ließ sein Team ein gut gedrilltes Anlaufen der gegnerischen Eröffnung zeigen, bei dem einer der Achter neben den Stürmer aufrückte. Dieser Druck überraschte Belgien so sehr, dass Doku einen Panik-Pass in den eigenen Strafraum spielte, was die Slowakei zum 1:0-Sieg nützte. Das Match gegen die Ukraine wird eine der großen vergessenen Leistungen bleiben: Die Slowakei war dem Gegner mit dieser Spielweise haushoch überlegen, schaffte es aber irgendwie, zu verlieren. Auch beim 1:1 gegen Rumänien war es grundsätzlich die Slowakei, welche dem Sieg näher war.

Im Achtelfinale hatte man (zu Recht!) keinerlei Angst vor England, ließ die vorderste Linie hoch stehen und Duda aufrücken, um die Eröffnungspässe von Stones zuzustellen. England viel überhaupt nichts ein und die Slowakei war am Weg zum Sieg, ehe die Wundertat von Jude Bellingham in der Nachspielzeit den Traum zum platzen brachte.

Der limitierende Faktor in Calzonas Strategie ist letztlich das Personal. Wenn es nach einer Stunde nötig wird, einige müdegelaufene Offensivkräfte auszutauschen, konnte er nicht mehr in annähernd gleicher Qualität nachlegen. So fehlte die Antwort auf die ukrainische Führung, so hatte man in der Verlängerung gegen England nichts mehr nachzusetzen. Dennoch: Die Slowakei ist zum dritten Mal in eine K.o.-Runde eingezogen, hat dabei aber noch nie so viel Spaß gemacht.

Slowenien: Nicht verlieren reicht völlig aus

Einen unterhaltsamen Fußball hat Slowenien nicht gespielt, das ist aber auch nicht der Anspruch von Matjaž Kek. Der simplistische 4-4-2-Verteidigungs-Fußball, den er schon vor 14 Jahren bei der WM mit Slowenien spielen ließ, erfüllt seinen Zweck und es ist relativ leicht, die Spieler darin herumzuschieben und auszutauschen. Jeder weiß, was in welcher Rolle zu tun ist, es ist im Vorwärtsgang ein wenig phantasielos, aber wenn man vorne eine schnelle Talentbombe wie Benjamin Šeško hat, ist das verschmerzbar.

Slowenien erarbeitete sich auf diese Weise – wie schon in der Qualifikation – ein verdientes 1:1 gegen Dänemark und hätte beinahe die Serben besiegt, kassierte aber in der Nachspielzeit noch aus einer Ecke den 1:1-Ausgleich. Sie hatten keinerlei Mühe, ein völlig gelangweiltes und ambitionsloses englisches Team bei 0:0 zu halten. Nur eine gelbe Karte zu viel war es, die den zweiten Gruppenplatz gekostet hat, letztlich machte es kaum einen Unterschied – statt Portugal hätte man eben das Achtelfinale gegen Deutschland gehabt.

Bei der vierten Turnier-Teilnahme (EM 2000, WM 2002, EM 2010) kam Slowenien erstmals aus der Gruppe heraus, wenn auch ohne dabei ein Match gewonnen zu haben – bei einer EM mit 24 Teams reicht es nun mal aus, dreimal nicht zu verlieren. Das wurde auch gegen Portugal vermieden, man hielt Ronaldo und Co. vom Tor weg, Oblak parierte einen Elfmeter und Šeško hatte sogar den Sieg am Fuß.

Man wird sich zwischen Mur und Triglav ob der verpassten Sensation in den Hintern beißen, darf im Ganzen aber super happy mit diesem Turnier sein. Im Herbst wird die Nagelprobe in Form einer Nations-League-Gruppe mit Österreich und Norwegen warten.

Rumänien: Mehr erreicht, als eigentlich drin war

Wer nur das Ergebnis sah, wird sich schön gewundert haben. Die Rumänen haben die Ukraine im ersten Gruppenspiel mit 3:0 besiegt? Wie war das möglich? Nun: Mit großer Disziplin und höchster Effizienz. Das rumänische Team, überraschend deutlich in der Quali-Gruppe vor der Schweiz gelandet, stand einfach tief, kompakt und zeigte Geduld. Eine halbe Stunde lang ließ man die Ukraine den Ball hin und her schieben, ehe man selbst einmal vorne draufpresste, und zack, 1:0 führte. Nach der Pause folgte ein Doppelschlag und das Match war gelaufen.

Der Realität wesentlich näher kam wohl das 0:2 gegen Belgien, als Rumänien sich nach Kräften wehrte, letztlich beim einzigen wirklich guten Auftritt der Belgier aber nicht das Format hatten, etwas aus dem Match mitzunehmen. Es folgte ein schmeichelhaftes 1:1 gegen die Slowakei mit einer nicht gerade zwingenden Elfmeter-Entscheidung zu rumänischen Gunsten. Im Achtelfinale war das Team zwar bemüht, die Niederlande nach österreichischem Vorbild vorne zu stören, aber auch hier galt: Dafür hat der Kader nicht das Format, nicht die Klasse, nicht den langen Atem.

Nach dem deutlichen 0:3 gegen Oranje ist das Turnier für Rumänien nach dem Achtelfinale vorbei, aber die Reaktionen machten doch klar, dass das Team das Geschehene einordnen kann. Man betrachtet die EM als großen Erfolg, kein Wunder, erstmals seit 24 Jahren gab es überhaupt wieder einen Sieg bei einem großen Turnier, erstmals seit eben jener EM 2000 hat Rumänien auch die Vorrunde überstanden.

Damals war Gheorge Hagi noch dabei, nach dem Turnier übernahm – wie schon Ende der 1980er – Anghel Iordănescu das Traineramt. Heute war Gheorghes Sohn Ianis am Feld mit dabei. Und der Trainer ist Anghels Sohn Edward Iordănescu. Running In The Family.

Georgien: Eine erfrischende, einsatzfreudige Bereicherung

Ist ein Debütant oder ein krasser Außenseiter bei einer EM dabei, gehören ihm meist die Sympathien. Das war bei Lettland 2000 so, bei Island 2016 auch, und Georgien 2024 bildet da keine Ausnahme. Weil man sieht, dass das nicht Business As Usual ist, sondern für die Beteiligten, für das ganze Land, eine womöglich einmalige Sache, die es bestmöglich auszukosten gilt. Georgien hat das definitiv getan, und wie.

Das wilde Auftaktspiel in Dortmund gegen die Türkei wird eines DER Spieler dieses Turnieres bleiben, die Türken mit dem offenen Visier, die vom Anlass beflügelten statt eingeschüchterten Georgier furchtlos, auf den Ausgleich drückend, der beim Stand von 1:2 in der 93. Minute beinahe geglückt wäre, nur um im Gegenzug ein Empty-Net-Goal zum 1:3 zu kassieren. Gegen Tschechien wieder individuell unterlegen, aber mit vollem Einsatz, am Weg zum 1:1 und sogar mit der Chance zum Sieg – drei Georgier rannten in der 94. Minute fast alleine auf den tschechischen Keeper zu, aber Lobshanidze lupfte die Kugel drüber.

Die Truppe von Willy Sagnol ist mehr als nur Kvicha Kvaratskhelia vorne, Torhüter Giorgi Mamardashvili hinten und neun beliebige andere mittendrin. Der bullige George Mikautadze hat in allen drei Vorrunden-Partien getroffen. Sechser Anzor Mekvabishvili hat die Beobachter begeistert. Der kreative Tchakvetadze konnte seine Qualitäten angesichts der Spielweise nicht ganz zeigen und Sturms MVP Otar Kiteishvili war wegen kleinerer Blessuren nur Teilzeit-Kraft – aber wenn er spielte, wie gegen Portugal, verlieh er dem Team aus dem defensiven Mittelfeld erstaunliche Struktur.

Das 2:0 gegen das portugiesische B-Team ermöglichte Georgien tatsächlich den Sprung ins Achtelfinale, verdientermaßen. Dort versuchte man die Spanier zu ärgern, so lange es die Kraftreserven zuließen, das war letztlich etwa eine Halbzeit. In der Heimat haben die Spieler den vollauf gerechtfertigten Helden-Empfang bekommen. Ob sich der georgische Sommer von 2024 zu etwas Nachhaltigem nützen lässt? Schwierig.

In der Qualifikation wurden nur Zypern und Luxemburg in 90 Minuten besiegt, man kam durch die Hintertür der Nations-League-Playoffs zum Turnier, indem die Griechen im Elferschießen bezwungen worden waren. Neben der guten Arbeit von Sagnol, einer eingeschworenen Truppe, taktischer Disziplin und völliger Furchtlosigkeit war schon auch einiges an Glück dabei. Aber man war dabei. Georgien hat eine großartige Figur abgegeben und viele Sympathien gewonnen.

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Verdient eine EURO 2024 ohne Österreich überhaupt einen Sieger? https://ballverliebt.eu/2024/07/04/verdient-eine-euro-2024-ohne-oesterreich-ueberhaupt-einen-sieger/ https://ballverliebt.eu/2024/07/04/verdient-eine-euro-2024-ohne-oesterreich-ueberhaupt-einen-sieger/#respond Thu, 04 Jul 2024 20:10:33 +0000 Österreich scheidet gegen die Türkei aus. Nix wars mit dem Geheimfavoriten-Dasein. War alles nur Schall und Rauch?

Und wer soll dieses Turnier nun noch gewinnen? Kommt es im Viertelfinale bei Spanien gegen Deutschland zum vorzeitigen Finale? Frankreich hat mit Portugal eine echte Hürde vor sich. England muss sich gegen die Schweiz steigern. Und die Niederlande kriegen es mit der Türkei zu tun. Der neue Ballverliebt-Podcast diskutiert die heiße Phase des Turniers.

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Österreich 1, Türkei 2: Mit frühem Gegentor aus der Komfortzone gedrängt https://ballverliebt.eu/2024/07/02/osterreich-turkei-achtelfinale-euro-2024/ https://ballverliebt.eu/2024/07/02/osterreich-turkei-achtelfinale-euro-2024/#respond Tue, 02 Jul 2024 21:46:29 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20331 Österreich 1, Türkei 2: Mit frühem Gegentor aus der Komfortzone gedrängt weiterlesen ]]> Die EM-Reise von Österreich endet im Achtelfinale: Ein Eckball-Gegentor in der 1. Minute erlaubt den Türken, aus dem tiefen Block auf Konter zu spielen, die Österreicher damit völlig aus der Komfortzone zu werfen. Auch wenn es unglücklich war, sich nicht zumindest noch in die Verlängerung gerettet zu haben: Dieses Spiel entwertet die bis dahin großartige EM von Österreich nicht, hat aber das größte Problemfeld recht schonungslos aufgedeckt.

Österreich – Türkei 1:2 (0:1)

Die Türken spielten von Anfang an – schon in den paar Sekunden vor jener Ecke, die sich Österreich mehr oder weniger selbst nach kaum einer gespielten Minute ins Tor gelegt hat – mit einer Fünfer-Abwehrkette. In Abwesenheit des gesperrten Samet Akaydin kam nicht nur die erwartete Innenverteidigung mit Abdülkerim und Demiral zum Einsatz, sondern rechts daneben auch noch Kaan Ayhan. Der Deutsch-Türke war in der Vorrunde als Sechser hinter dem im Achtelfinale gelbgesperrten Çalhanoğlu eingesetzt worden.

Das frühe Gegentor jedenfalls (und das österreichische Verpassen einer sofortigen Antwort bei einem eigenen Standard in der 3. Minute) änderte die Statik des Spiels komplett, weil die Türken nun guten Gewissens verteidigen konnten. Zunächst wurde der ballführende Österreicher auch schon im Mittelfeld unter Druck gesetzt, nach etwa zehn bis fünfzehn Minuten etablierten die Türken aber einen tiefen 5-4-Block.

Keine Idee nach vorne, Gefahr nach hinten

Die Österreicher hatten nichts zum Anpressen und waren zu jenem Spiel gezwungen, das sie am wenigsten können – sich gegen einen tief stehenden Gegner durchzuarbeiten. Die Türken ließen von Österreich ab, solange diese im Bereich der Mittellinie nach einem Durchkommen suchten; sobald aber der Pass in den Zehnerraum kam, schnappte die türkische Falle zu.

Denn die Mittelfeld-Außen standen relativ eng, man bot Österreich die Außenbahnen an, machte aber das Zentrum komplett zu, gewann dort Bälle durch die schnell hergestellte Überzahl rasch und schaltete sehr flott um. Sie bekamen diese Situationen selten präzise zu Ende gespielt, die dergestalt ausgestrahlte Gefahr reichte aber absolut aus, um die Österreicher zu verunsichern und das verhinderte, dass Österreich Risikopässe nahm. Denn hinzu kam, dass die Restverteidigung des ÖFB-Teams in diesen Situationen oft arg luftig daher kam.

Aus einem 4-2-3-1 eine Fünferkette anzupressen, ist nur behelfsmäßig möglich und ist – weil man nur schwer die nötige Überzahl in Ballnähe UND die nötigen Absicherungsstrukturen herstellen kann – gefährlich, wenn einem vom Gegner die schnellen Gegenstöße um die Ohren zu fliegen drohen. Auch aus hohen Bällen bzw. Chip-Pässen in den Strafraum konnte Österreich kein Kapital schlagen, weil die Türken so gut wie jedes Kopfball-Duell gewannen, nicht nur im Strafraum, sondern auch bei losen Bällen im dichten Mittelfeld-Zentrum. Österreich wirkte mit Fortdauer der ersten Hälfte zunehmend ratlos.

Mehr Direktheit…

Für die zweite Hälfte kamen Prass für den in Ballbehandlung und Zweikampf zuweilen unsicheren Mwene und mit Gregoritsch ein neuer Zielspieler im Zentrum, der gelbvorbelastete Schmid blieb für ihn draußen, Baumgartner wechselte auf die rechte Außenbahn. Österreich war nun bemüht, schneller und vertikaler durch die türkischen Reihen zu kommen.

Ab ca. 65. Minute

Prass bearbeitete den Halbraum hinter Barış Alper, Arnautovic ließ sich eher auf die Zehn fallen, um besser anspielbar zu sein und Bälle wenn möglich auch weiterzuleiten. Es gab auch eine gute Chance durch Arnautovic, die genau so durch die Mitte entstanden sind, aber nicht genützt wurde. Und dann schlug es nach einer Stunde wieder ein, wieder ein Eckball, wieder Demiral, 0:2.

…und dann die Brechstange

Gregoritsch‘ rasche Antwort in Form des Treffers zum 1:2 – auch dieses Tor nach einem Eckball – hielt Österreich im Spiel, nachdem Grillitsch im Zentrum für Laimer eingewechselt worden war. Mit ihm sollte wohl etwas mehr Ruhe am Ball ins Mittelfeld kommen, ein Element, für das im Zweifel sonst Alaba gesorgt hat. In der Vorrunde hatte man um sein Fehlen und das von Xaver Schlager gut herumspielen können, nun hätte man sie sehr gut gebrauchen können.

Die Türken ließen sich in der Folge immer weiter hinten hineindrücken, kamen nicht mehr so gut an die Kopfbälle, konnten nicht mehr so gut für Entlastung sorgen, obwohl Özcan als frischer Kämpfer statt des von seiner gelbe Karten gehandicapten Yüksek reingekommen war. Österreich setzte sich nun besser im Angriffsdrittel fest, näherte sich immer wieder dem Tor an, wurde aber selten wirklich gefährlich.

Am Ende lieferten die Türken der österreichischen Brechstange eine Abwehrschlacht, doch Österreich fehlten immer die paar Zentimeter, um aus den vielen Halbchancen echte Chancen zu machen bzw. irgendwie den Ball noch ins Tor zu bugsieren. Und dann fischt Mert Günök den Ball in der 94. Minute bei Baumgartners Kopfball auch noch mit einem erstaunlichen Reflex vor der Linie weg.

Fazit: Dumm gelaufen und Schwächen aufzeigt bekommen

In den Vorbereitungsspielen und auch in den EM-Matches gegen Polen und die Niederlande war Österreich früh in Führung gegangen, konnte dann (bzw., hätte können, gegen Polen) gegen einen Kontrahenten mit den eigenen Stärken nachsetzen und nerven, der sich nicht mehr hinten festsetzen kann. Mit dem Rückstand in der 1. Minute in diesem Achtelfinale gegen die Türkei ging das natürlich nicht.

Denn ja, die Türken sind schon ein Team, das spielen will, dribbeln und in Eins-gegen-Eins-Situationen. Aber wenn sie nach 55 Sekunden so ein Geschenk bekommen, sind sie clever genug, um nicht dem Gegner ins offene Messer zu laufen. Die Türken setzten sich hinten fest, waren robust in den Zweikämpfen und deuteten bei Ballgewinnen immer wieder ihre Gefahr an. Schon nach 20 Minuten hatte man den Eindruck, dass sie den Österreichern zumindest die ganz scharfen Zähne gezogen hatten.

Rangnicks Reaktionen in der Pause und nach einer Stunde hatten Hand und Fuß, waren erklärbar und proaktiv, die zehn Minuten direkt nach dem Seitenwechsel konnte man das Spiel spürbar ein wenig an sich ziehen. Das zweite Gegentor kam für die Türken zu einem tollen und für Österreich zu einem furchtbaren Zeitpunkt. Es war ein wenig wie beim 2:3 vor einem Jahr in der Quali gegen Belgien: Auch damals fing man sich ein frühes Gegentor, nach einer Stunde setzte der Gegner nach (damals per Doppelschlag); Österreich fightete bis zum Schluss, kam aber nicht mehr ganz heran.

Letzten Oktober war das verschmerzbar. Nun, in Leipzig, beendete das die österreichische EM-Reise. Denn die „Fülle an tollen Chancen“, die Rangnick wohl auch in der Emotion des Spiels sah, waren bei Licht betrachtet eher nur Annäherungen: Gregoritsch‘ Kopfball in der Rückwärtsbewegung gleich nach dem Anschlusstreffer etwa, oder Baumgartner, der in der 84. Minute zwar zwischen Mert Günök und Merih Demiral an den Kopfball kommt, aber keine Chance hat, ihn zu platzieren.

Der Eckball in der 3. Minute, Arnautovic’s Chance in der 51. Minute und Günöks Wunder-Save in der 94. Minute – die wären es gewesen. Hätte man den ersten versenkt, wäre die komplette Statik des Spiels eine andere gewesen. Hätte man den zweiten versenkt, gerät man nicht kurz darauf in Zwei-Tore-Rückstand. Hätte man den dritten versenkt, wäre man in der Verlängerung gewesen.

Aber, hättiwari: Österreich ist im Achtelfinale dieser EM ausgeschieden. Das hätte nicht sein müssen, ist bitter und schade. Es sollte aber nicht alles zum Einsturz bringen.

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Aus in der EM-Vorrunde: Gerupftes Osteuropa https://ballverliebt.eu/2024/07/01/aus-in-der-em-vorrunde-gerupftes-osteuropa/ https://ballverliebt.eu/2024/07/01/aus-in-der-em-vorrunde-gerupftes-osteuropa/#respond Mon, 01 Jul 2024 06:33:28 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20323 Aus in der EM-Vorrunde: Gerupftes Osteuropa weiterlesen ]]> Kroatien, Vize-Weltmeister von 2018 und WM-Dritte von 2022 – weg. Zwei Viertelfinalisten der WM 2021, Tschechien und die Ukraine – weg. Serbien, Junioren-Weltmeister von 2015 – weg. Ungarn, bei der letzten Nations League beinahe Gruppensieger gegen Italien, Deutschland und England – weg. Sieben der acht Länder, deren Teams die EM-Vorrunde nicht überstanden haben, werden geographisch und/oder politisch Osteuropa zugeordnet.

Wie ist aus ihrer Sicht die EM 2024 zu bilanzieren? Hier Teil 1 unseres gewohnten Turnier-Roundups.

Kroatien: Diesmal Weg verbaut statt Weg gefunden

Die beiden Gegentore in der Nachspielzeit gegen Albanien und Italien haben den Kroaten insgesamt vier Punkte gekostet, ohne die sie locker Gruppenzweiter geworden wären. War es also Pech beim ersten kroatischen Vorrunden-Aus seit zehn Jahren, der WM in Brasilien? Ja, auch. Aber nicht nur.

Ein druckvolles Pressing-Spiel mit hoher Linie geht sich mit dem Personal in der Abwehr, vor allem dem nicht sonderlich schnellen Marin Pongračić, nicht aus – und wohl auch nicht mit dem zunehmend betagten Personal im Mittelfeld. Damit sind die Kroaten darauf angewiesen, selbst zu gestalten. Das gilt vor allem, wenn die Gegner (wie bei dieser EM) sie das lassen, dabei ist der Dreieraufbau mit den Innenverteidigern plus Brozović oder Stanišić aber zuweilen zu verwundbar. Sie haben aber auch keine Nummer neun von echtem internationalem Format, der sich mit seiner Klasse gegen eine vielbeinige Abwehr auf engem Raum durchsetzen könnte.

Die Spanier haben die Kroaten nach dem 1:0 hoch angelaufen, sind aber nicht auf Ballgewinne gegangen, sondern haben sich damit begnügt, die Gegenspieler zu hetzen und für Stress zu sorgen – eine klare kroatische 0:3-Niederlage war die Folge. Albanien hat es danach geschafft, jede Luft aus dem kroatischen Neuner- und Zehnerraum zu saugen und im entscheidenden Match gegen Italien kreierte Kroatien bis auf den Elfmeter und das direkt folgende Tor von Modrić nicht eine einzige echte Torchance.

Die Stärken und auch die Schwächen im kroatischen Spiel sind seit Jahren bekannt und ebenso sind sie seit Jahren dafür bekannt, dann doch fast immer irgendwie einen Weg zu finden, ein Spiel erfolgreich zu bestreiten. Das wäre gegen Albanien und Italien auch bei dieser WM so gewesen, grundsätzlich – wenn sie nicht in beiden Matches den Sieg in der Nachspielzeit noch hergegeben hätten.

Kroatien hat sich in den letzten zehn Jahren einen echten Nimbus erarbeitet – diese Truppe hast du wirklich erst dann besiegt, wenn der Referee abpfeift, und wenn du noch so viel besser warst. Die dahinter liegende Realität ist aber: Mehr als gehobener Durchschnitt ist die Mannschaft eigentlich nicht, vor allem wenn Luka Modrić doch irgendwann nicht mehr da ist.

Serbien: Plan- und ideenloser Katastrophen-Kick

„Gehobener Durchschnitt“ müsste eigentlich auch für Serbien die Mindestanforderung sein. Den U-20-Weltmeister von 2015 hat das Potenzial aber seither nie ausgeschöpft und so katastrophal wie bei diesem Turnier war es in diesem Zeitraum überhaupt noch nie. Im Grunde geht es nur noch bergab, seit der Verband im Herbst 2017 im streit um Sergej Milinković-Savić den damaligen Teamchef Slavoljub Muslin entlassen hat.

Unter Muslin war Serbien eine wunderbar aufeinander eingestimmte Truppe, ein Rädchen griff ins andere, man wurde in der Quali zur WM 2018 überlegen Gruppensieger, aber eben ohne „SMS“, den Golden Boy – zum Unmut des Verbandes. Unter Mladen Krstajić wurde die WM 2018 verhackt, unter Ljubiša Tumbaković die Quali für die EM 2021 und nun unter Dragan Stojković nach der WM 2022 auch die EM 2024. Am Potenzial lag es nicht, dass Serbien in der wirklich schwachen Gruppe Letzter wurde. Eher an fehlender Spielidee, fehlender Abstimmung, fehlenden gruppentaktischen Vorgaben und fehlender Chemie zwischen Trainer und Team.

Was Serbien zeigte, war im Grunde Foda-Ball ohne Pressing. Die Mittelfeld-Kette im 5-4-1 schien nie zu wissen, wann sie sich hinten anbieten und wann sie vorne draufgehen soll. Im serbischen Spiel wurde weder vorne gepresst, noch gab es irgendeinen erkennbaren Plan des eigenen Aufbaus. Jeder war sein eigener Chef, alle spielten aneinander vorbei, man wartete nur auf einen individuellen Einfall. Dušan Tadić hätte kaum nach dem ersten Match seinen offenen Verbalangriff auf Stojković geritten, wenn alles in Ordnung gewesen wäre.

Natürlich hat es nicht geholfen, dass sich Filip Kostić schon im ersten Spiel verletzt hat, aber mehr als ein „Ich laufe mal die Seitenlinie entlang nach vorne und schaue, was sich ergibt“ war es ja bei ihm auch nicht. Die Weltmeister von 2015 sind nun alle an die 30 Jahre alt, der Zenit ist erreicht bzw. überschritten, und im Grunde haben die Serben damit nichts produziert, was irgendwie im positiven Sinne erinnerungswürdig wäre.

Ukraine: Unausgegoren in allen Phasen

Ach ja, U-20-Weltmeister. Die Ukraine war das im Jahr 2019, zwei Jahre später waren die Großen im EM-Viertelfinale. Das war damals mehr, als dem Team zugestanden ist (man kam als Gruppendritter hinter Österreich in die K.o.-Phase und besiegte dort schwache Schweden). Nun hat die Ukraine mehr Vorrunden-Punkte gesammelt als damals (vier statt drei), um keinen weniger als Gruppensieger Rumänien – und doch ist das frühe Aus für das Team aus dem kriegsgebeutelten Land sportlich durchaus korrekt.

Die Absurdität der Gruppe E: Die Ukraine war um nichts schlechter als Rumänien, sehr wohl aber signifikant weniger gut als die Slowakei – das einzige Team, gegen das die Ukraine gewann. Im Ganzen wirkte das ukrainische Spiel sehr unausgegoren. Als sich Rumänien im ersten Match knallhart hinten einbunkerte, fehlte der Ukraine jede spielerische Idee, man fummelte sich um den Strafraum herum, aber kam nicht rein und in den drei Situationen, in denen Rumänien vorne drauf ging, klingelte es – 0:3 verloren.

Die Slowakei machte dann genau das Gegenteil, zeigte ein zielgenaues Angriffspressing, mit dem die Ukrainer überhaupt nicht zurecht kamen, sie wurden von einer Verlegenheit in die nächste gehetzt – zwei Halbchancen nützte die Ukraine aber zum extrem schmeichelhaften 2:1-Sieg. Und dann wusste man lange nichts mit der seltsamen belgischen Passivität und der Zerrissenheit des Kontrahenten anzufangen, schien der Einladung nicht zu trauen. Rebrovs Truppe verharrte (zu) lange in der Fünferkette, aus der nur ein Wing-Back nach vorne schob, bespielte die Löcher nicht und als man verstand, dass die Belgier fällig wären, fehlte wiederum die Idee.

Zinchenko war ein Nicht-Faktor, der junge Sechser Brashko war als Zerstörer eingeteilt und kaum involviert, Dovbyk wirkte nach seiner überragenden Saison bei Spaniens Überraschungs-Team Girona ausgebrannt und Mudryk ist, wie bei Chelsea, ein kaum ins taktische Gesamt-Konstrukt zu integrierender Einzelkämpfer.

Von den U-20-Weltmeistern waren nur drei im EM-Kader (Lunin, Bondar, Konoplya) und nur Matvienko, der damals kurz vor dem Turnier verletzt passen musste, spielte bei der EM als Stammkraft; Tsitaishvili ist nun für Georgien aktiv. Neben Real-Keeper Lunin haben es nur fünf zu Stammkräften bei den ukrainischen Großklubs geschafft. Dass man einige Spieler in den Ligen von England und Spanien hat, wird helfen, das Team über Wasser zu halten, und auch ohne die Weltmeister sind einige junge Spieler auf dem Feld.

Nur, natürlich: Das Land hat ganz andere Probleme als den Fußball.

Tschechien: Taugliche Idee, unglückliche Spielverläufe

Grundsätzlich war das schon tauglich, was die Tschechen da gezeigt haben. In ihrem 5-4-1 haben sie sich im Ballbesitz gar nicht lange damit aufgehalten, hintenrum den Ball zu halten und abzuwarten: Sehr zügig folgte der Pass nach vorne, und zwar durchaus variabel, zumeist auf die Wing-Backs, gerne aber auch in den Sechserraum. Auch dort trachteten die Tschechen danach, rasch eine Linie weiter nach vorne zu kommen. Der Weg sollte schnörkellos und zielstrebig nach vorne gehen, aber nicht plump.

Gegen Portugal hätte man beinahe das 1:1 runterverteidigt, ehe es ganz spät doch noch das 1:2 setzte. Im zweiten Match gegen Georgien konnten die Tschechien ihr Spiel an sich ganz gut durchziehen, nur machte man aus den Chancen zu wenig und musste am Ende sogar froh sein, nicht noch verloren zu haben. Denn zur Wahrheit gehört auch: Im Rücken der vorderen Linie, hinter den aufrückenden Mittelfeld-Außen, bot man zuweilen etwas gar viel Raum an, den Gegner bespielen konnten.

So war Tschechien gegen die Türkei unter Siegzwang, aber nach 20 Minuten ein Mann weniger. Sie hackten den Rhythmus aus dem Spiel, nervten den Gegner, glichen in Unterzahl aus und hatten einen mental bröselnden Kontrahenten am Haken, ganz reichte es aber nicht, und wie gegen Portugal wurde in der Nachspielzeit aus dem Remis noch eine Niederlage, fast wie es eben auch gegen Georgien passiert wäre.

Anders als einige andere Mannschaften, die nach der Vorrunde die Segel streichen mussten, hatten die Tschechen zumindest eine klare Spielidee, die das Team gut und gerne ins Achtelfinale tragen hätte können. Die individuelle Qualität im Kader ist nur längst nicht so hoch, wie man das früher von Tschechien gewohnt war, und wenn im entscheidenden Moment dann auch noch ein Patrik Schick verletzt ausfällt, merkt man das dann halt umso mehr.

Polen: Was kommt nach Lewandowski?

Bei der WM kam man ins Achtelfinale, ohne es verdient zu haben und in der EM-Quali reihte sich bei Polen ein Tiefschlag an den nächsten (0:2 nach drei Minuten in Tschechien, Niederlage in Moldawien, Niederlage in Albanien, daheim auch nur Remis gegen Moldawien). Immerhin hat sich Polen durch das Playoff gekämpft (gegen Estland und im Elferschießen in Wales), man hat das fünfte Turnier in Folge erreicht und sich nicht blamiert, viel mehr war es aber nicht.

Natürlich stand alles im Zeichen der Muskelverletzung von Robert Lewandowski. Teamchef Michał Probierz war nun gezwungen, ohne ihn zu spielen, und sowohl gegen die Niederlande (späte 1:2-Niederlage) als auch gegen Österreich (bis zu Lewandowskis Einwechslung ein bis dahin verdientes 1:1 haltend) kämpfte man auch mit den eigenen Limits, war aber grundsätzlich bei der Musik dabei und beim abschließenden 1:1 gegen ein französisches Team, das einmal mehr nicht vor Spielfreude sprühte, gab es sogar noch einen Punkt.

Ohne Lewandowski musste vor allem Piotr Zieliński das Spiel schultern, auf der Acht im 5-3-2. Man versuchte sich, den überlegenen Gegnern defensiv zu wehren und Nadelstiche zu setzen, und mit zwei mobilen Spitzen konnte man auch ganz vorne die Spieleröffnung der Kontrahenten anlaufen, schon gegen Holland zu sehen, in längeren Phasen auch gegen Österreich. Mit dem deutlich nicht ganz fitten Lewandowski ging sich das aber nicht mehr aus. Paradox, aber wahr: Ohne Lewandowski verbreiteten die Polen mehr Gefahr als mit ihm.

So ist es der gleiche Befund wie vor anderthalb Jahren bei der WM und vor drei Jahren bei der EM. Es fehlt am kreativen Aufbau und man klammert sich immer noch an einen Lewandowski, der in der abgelaufenen Saison schon selbst sinngemäß zugab, dass er merke, nicht mehr der Alte zu sein, sondern sich zunehmend alt zu fühlen. Es wird eine schmerzhafte Umstellung auf eine Zukunft ohne den demnächst 36 Jahre alten Stürmer. Aber sicher keine aussichtslose.

Albanien: Mit Übersicht und Ruhe die Favoriten genervt.

Schon nach 25 Sekunden im ersten Spiel war klar, dass sich Albanien mit einem lachenden Auge an diese EM erinnern wird – auch wenn man das Match gegen Italien noch 1:2 verlor. Wie schon 2016 versuchte Albanien alles, einen positiven Eindruck zu hinterlassen und nicht einfach nur dabei zu sein und dreimal gegen auf dem Papier deutlich überlegene Gegner die Stimmung zu genießen.

Der Underdog ging es sehr wohl grundsätzlich defensiv an, keine Frage. Aber man machte es sehr aktiv: Sobald der Gegner Richtung Strafraum spielte, wurde gedoppelt, die Strukturen passten und jeder wusste, was wann zu tun ist. Hatte man den Ball erobert, wurde er nicht schnell nach vorne gedroschen, sondern mit großer Sicherheit und Stressresitenz am Ball herausgespielt. Vor allem Kristjan Asllani von Inter Mailand erwies sich hier als großes Asset, der 22-Jährige hat ein großartiges Turnier gespielt, er fungierte als Tempo- und Taktgeber.

Die Stressresistenz am Ball war auch eine Stressresistenz im Spielverlauf: Lange hielt man die 1:0-Führung gegen Kroatien fest und auch nach dem Doppelschlag zum 1:2 steckten die Albaner nicht auf und belohnten sich sogar noch mit dem 2:2-Ausgleich. In dieser Gruppe mit Spanien, Italien und Kroatien einen Punkt zu holen und die anderen Spiele nur knapp (1:2 und 0:1) zu verlieren, ist aller Ehren wert. Teamchef Sylvinho hat ganze Arbeit geleistet.

Realistischerweise ist für Albanien (etwa so viele Einwohner wie der Großraum Wien) jede Teilnahme an einem Turnier ein großer Erfolg und das Erreichte hier (ähnlich wie der dritte Gruppenplatz mit einem Sieg gegen Rumänien vor acht Jahren) der Plafond.

Ungarn: Aus der Defensive in die Passivität gekippt

Dass Ungarn es defensiv angeht, ist bekannt. So konterte sich die Truppe von Teamchef Marco Rossi im Sommer 2022 auf den zweiten Platz der Nations-League-Gruppe mit Spanien, Deutschland und England, einem geschichtsträchtigen 4:0-Sieg in Wolverhampton inklusive. In diesem Turnier waren die Ungarn immer noch defensiv unterwegs, allerdings nun geradezu verstörend, und zumeist ohne jedes Bemühen, tatsächlich selbst ein Tor zu erzielen.

Das war gegen Deutschland noch irgendwo verständlich und das 0:2 nichts, wofür man sich schämen müsste. Aber kaum 30 Prozent Ballbesitz in den ersten Hälften gegen die Schweizer und vor allem gegen die wirklich schlechten Schotten? Sehr seltsam war das. Gegen die Schweiz ergatterte man nach dem 0:2-Pausenrückstand Kontrolle über das Match zurück, indem man Szoboszlai und Sallai situativ die selbe Seite überladen ließ, man schnupperte am Ausgleich, aber es war too little, too late.

Und gegen Schottland wurde es nach der langen Unterbrechung für die Behandlung des übel verletzten Barnabas Varga ein wilder, aber niveauloser Schlagabtausch, bei dem es die Ungarn waren, die tief in der Nachspielzeit – natürlich per Konter – den Lucky Punch setzten. Man war Gruppendritter, aber es reichte dann doch nicht für das Achtelfinale, und das wäre auch wirklich nicht verdient gewesen.

Und jetzt? Premierminister Viktor Orbán pumpt viel Geld in seinen geliebten Fußball, das von Verband und Stützpunkten mit wenig Plan ziemlich uneffektiv verpulvert wird. Es kommen schon immer wieder junge Talente nach, aber selten kann das ungarische Nachwuchs-System viel dafür: Kerkez kommt aus der Rapid-Jugend, Dardai ist in Deutschland aufgewachsen, Szoboszlai ist durch die Red-Bull-Schule gegangen. Ungarn war nach 2016 und 2021 wieder bei der EM dabei und hat in der Nations League gute Chancen, die A-Liga zu halten. Aber auf wie stabilen Füßen der Aufschwung der letzten Jahr wirklich steht? Ungarns Auftritte bei dieser EM waren jedenfalls kein Mutmacher.

Schottland: Taktisch naiv, spielerisch katastrophal

Ojemine, diese Schotten. Man muss ihre Konsequenz, einfach immer in der Vorrunde zu scheitern, egal ob mit einem guten oder einem weniger guten Team, ja eigentlich bewundern. Diesmal hätten sie es tatsächlich fast geschafft: Hätten sie im letzten Spiel gegen Ungarn eine ihre späten Halbchancen über die Linie genudelt, stünden sie tatsächlich im Achtelfinale. So stehen die Schotten mit der schlechtesten Bilanz aller 24 Teilnehmer da.

Die Herangehensweise im Eröffnungsspiel gegen Deutschland war erschütternd naiv, man verteidigte so halb-hoch, ging nicht drauf, machte die Tiefe nicht zu und war in Person von Ryan Porteous auch noch patschert im Zweikampf – es endete in einem 1:5-Debakel, der eigene Treffer war ein deutsches Eigentor und Porteous war die restliche Vorrunde gesperrt. Gegen die Schweizer hielt man so halb mit und ergatterte tatsächlich ein 1:1, ehe man von den Ungarn den Ball aufgedrängt bekam und so überhaupt gar nichts damit anzufangen wusste, dass es schon weh tat.

Rechtsverteidiger Ralston war auf diesem Niveau heillos überfordert, ohne den im zweiten Spiel verletzten Tierney fehlte jede Passfähigkeit aus der letzten Linie heraus, McTominay (der gegen die Schweizer als falsche Neun als am höchsten platzierter Spieler agieren musste) ist wie McGregor und auch McGinn kein Gestalter. In der Premier League hätte dieses Team vermutlich in etwa die Bilanz von Sheffield United aufzuweisen (drei Siege, 35:105 Tore) und auch, wenn auf dem Platz nicht viel zum Achtelfinale gefehlt hat: Man kann tatsächlich argumentieren, dass dies die schlechteste Mannschaft des Turniers war.

Mehr als drei, vier international einigermaßen konkurrenzfähige Spieler hat Schottland nun mal nicht. Ist es nun also ein Erfolg, nach zwei Jahrzehnten des Zuschauenmüssens bei zwei EM-Endrunden hintereinander dabei gewesen zu sein? Vor zwei Jahren stieg man gegenüber der Ukraine in die A-Liga der Nations League auf, letztes Jahr distanzierte man Norwegen mit Håland und Ødegård in der EM-Quali deutlich. Das spricht eher gegen die Ukraine und Norwegen als für Schottland, wie es aussieht.

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Sind wir fast schon im Finale? Österreich im EURO 2024-Achtelfinale gegen die Türkei https://ballverliebt.eu/2024/07/01/sind-wir-schon-im-finale-oesterreich-im-euro-2024-achtelfinale-gegen-die-tuerkei/ https://ballverliebt.eu/2024/07/01/sind-wir-schon-im-finale-oesterreich-im-euro-2024-achtelfinale-gegen-die-tuerkei/#respond Sun, 30 Jun 2024 22:05:45 +0000 Der Hype um Österreich ist vor dem Duell mit der Türkei am Höhepunkt. Geht das Team von Ralf Rangnick wirklich als Favorit in dieses Spiel? Das und alle anderen Achtelfinalspiele der EURO 2024 im Update. Und wie sind die Leistungen von England, Deutschland, Spanien und der Schweiz bei ihren Achtelfinal-Siegen einzuschätzen? (Als Youtube-Video ist der Podcast hier zu finden.)

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Österreich 3, Niederlande 2: Cool geblieben, Großes vollbracht https://ballverliebt.eu/2024/06/27/osterreich-niederlande-gruppe-euro-2024/ https://ballverliebt.eu/2024/06/27/osterreich-niederlande-gruppe-euro-2024/#respond Thu, 27 Jun 2024 21:59:08 +0000 https://ballverliebt.eu/?p=20261 Österreich 3, Niederlande 2: Cool geblieben, Großes vollbracht weiterlesen ]]> Der komplett in Rot-Weiß-Rot gehüllte Fan-Block neben dem Marathontor, davor auf dem Feld die ÖFB-Spieler, Schulter an Schulter. Und durch das sonnenüberflutete Olympiastadion tönt Rainhard Fendrichs halb melancholisches, halb trotziges „I Am From Austria“. Momente, die eingehen werden in die Geschichte des österreichischen Fußballs, Minuten nach dem 3:2 gegen das Team der Niederlande und dem damit eingefahrenen Gruppensieg.

Erstmals seit 46 Jahren, der WM in Argentinien, beendet Österreich die Vorrunde eines großen Turnieres als Erster, überhaupt erst zum fünften Mal nach 1954, 1978, 1982 und 2021 hat das ÖFB-Team die erste Phase eines Turnieres überstanden. Wie kam das – und was heißt das?

Das Erreichen des Achtelfinales stand de facto schon vor dem Spiel fest, nur eine 0:5-Niederlage hätte Österreich noch einmal in Gefahr gebracht. Wohl auch deshalb rotierte Ralf Rangnick: Laimer und Baumgartner blieben wie Mwene draußen, dafür kamen Schmid (rechts) und Wimmer (links) ins Spiel, Alexander Prass startete als Linksverteidiger, Sabitzer auf der Zehn. Wöber bekam den Vorzug vor Danso um jenen Platz in der Innenverteidigung, den gegen Polen noch Trauner besetzt hatte.

Niederlande, Mekka der Mittelfeld-Manndeckung

Bondscoach Ronald Koeman setzt eine Tradition fort, die das Oranje-Team seit nunmehr einem Jahrzehnt prägt: Manndeckung im Mittelfeld. Veerman kümmerte sich um Grillitsch, Reijnders sollte die Ballgewinne von Seiwald verhindern, Schouten dackelte Sabitzer nach. Gegner mit dieser Strategie waren 2016 für Österreich ein großes Problem, Holland hielt damit auch Frankreich in Schach, Rangnicks ÖFB-Team lachte da aber nur darüber. Aus mehreren Gründen.

Zum einen neigte Hollands Rechtsaußen Donyell Malen zum Einrücken, wohl weil er dort Überzahl herstellen sollte. Das ergab aber schon in den ersten Minuten extreme Räume für Prass. Der Oberösterreicher, der bei Sturm eigentlich den offensiven Achter spielt, ist ein sehr vertikaler Spieler, schnörkellos, kein ballhaltender Trickser wie Mwene (dessen Stärken in der ersten Hälfte gegen Polen ideal zum Tragen kamen), sondern mit direktem Zug zum Tor. Es dauerte keine sieben Minuten, bis Malen eine Hereingabe des ihm gnadenlos entwischten Prass ins eigene Tor zum 1:0 für Österreich ablenkte.

Hollands fehlende Pressingresistenz

Zum anderen, weil Österreich das Mittelfeld eigentlich gar nicht zum Aufbau braucht – in Wahrheit ist es dem ÖFB-Team sogar lieber, nicht durch diese Zone kreieren zu müssen. So banden sich die Niederländer genau in jener Zone selbst, über die Österreich mit Freuden die Bälle direkt von der Abwehr in die vorderste Linie drüber hob. Und dort kam der nächste Aspekt im österreichischen Spiel zum Tragen, mit dem der Gegner nicht umgehen konnte: Das Angriffs- und Gegenpressing.

Im Angriffsdrittel liefen die Österreicher sofort die holländische Abwehr an, um zweite Bälle zu gewinnen bzw. die Passrouten zuzustellen. Die Niederländer kamen überhaupt nicht dazu, selbst einen geregelten Aufbau zu starten, die ins Zentrum gespielten Bälle waren sofort verloren. Joey Veerman wurde nach seinem 19. Ballverlust (!!!) in 32 Minuten ausgewechselt. Der arme Kerl war nicht gut, aber er war auch ein Opfer des übergeordneten holländischen Problems. Das ist die komplett fehlende Pressingresistenz.

Nun sind Vigil van Dijk und vor allem Nathan Aké von Liverpool bzw. Man City diesem Spielstil keineswegs fremd, dennoch war es auch ihnen nicht möglich, einen Pass anzubringen, wenn sie angelaufen wurden – einfach weil die Strukturen dafür im Positionsspiel bei Oranje überhaupt nicht da waren. Der Einsatz von Lutsharel Geertruida, der stärker auf das Passspiel setzt als Linienläufer Denzel Dumfries, spielte Österreich noch zusätzlich in die Karten.

Österreich setzte extrem konsequent auf dieses erprobte Mittel, selbst Grillitsch schob situativ weit in den Zehnerraum nach vorne, um Holländer anzulaufen.

Mit Simons nach der Pause direkter

Mit ihrer ersten eigenen Aktion nach Beginn der zweiten Hälfte kamen die Niederländer in Folge eines schnellen Gegenstoßes nach Ballgewinn am eigenen Sechzehner zum 1:1-Ausgleich. Die Situation sollte symptomatisch sein für den adaptierten Zugang. Simons, ein offensiver Trickser, war ja nach einer halben Stunde für den indisponierten Veerman gekommen, nun entfaltete er Wirkung.

Anstatt sich im Zentrum in Zweikämpfen aufzureiben, versuchte sich Simons im Zwischenlinienraum anspielbar zu halten und den Ball dann schnell auf Depay oder Malen durchzustecken. Österreich bekam zunächst keinen Zugriff auf den gedankenschnellen Simons und Oranje hatte nach dem Ausgleich zunächst klare Vorteile – bis Österreich den Rhythmus brach. Erst sorgte eine Behandlung für Pentz für eine längere Unterbrechung, dann rückte die holländische Verteidigung bei einem österreichischen Befreiungsschlag nur behäbig nach hinten, was Romano Schmid mit dem 2:1 bestrafte.

Und dann gab es eine Verzögerung durch Konfusion beim österreichischen Dreiertausch drei Minuten später, was den Holländern zusätzlich sichtbar auf die Nerven ging.

Koeman schiebt herum

In der Folge schüttelte Koeman seine Formation herum, ohne dass zunächst viel Ziel dahinter erkennbar gewesen wäre. Van de Ven kam als neuer Linksverteidiger statt Aké, er blieb in der Abwehrkette, während rechts Geertruida in den Sechserraum einschob. Wijnaldum (statt Reijnders) kam als neu in die Offensive, die Abstimmung mit Simons (dessen höhere Rolle als De-facto-Zehner im Zwischenlinienraum eben für große Belebung gesorgt hatte) war aber schlecht und in den folgenden Minuten konnte keiner der beiden große Wirkung entfachen – und Malen stand rechts etwas verloren herum. Erst als Malen angeschlagen raus musste und Strafraum-Leuchtturm Weghorst auf das Feld kam, war wieder sowas wie eine sinnvolle Ordnung zu erkennen.

Neben der Dreierkette ließen sich Simons und Gakpo ganz tief fallen, um in den freien Raum hinein Tempo aufnehmen zu können. Wijnaldum und Depay schließlich spielten hinter Weghorst, der sofort im Spiel war: Bei einer Flanke auf ihn gewann er den Kopfball gegen Wöber, die Ablage fand Depay, der zum 2:2 in der 75. Minute traf.

Mit den noch relativ frischen Baumgartner und Laimer hielt Österreich aber im Zentrum gegen das umformierte holländische Mittelfeld gut dagegen und sie waren in ihren Aktionen auch geradliniger, zielstrebiger – wie kaum zwei Minuten nach Wiederanpfiff, als ein Lochpass von Baumgartner den hinter die Kette gelaufenen Sabitzer fand, Van Dijk das Abseits aufhob und Sabitzer das postwendende 3:2 für Österreich erzielte. Kurz darauf war er bei einer sehr ähnlich Aktion dann doch im Abseits.

Die Niederländer warfen in der Schlussphase alles nach vorne und packen die Brechstange aus, Weghorst war der Zielspieler im Strafraum – aber Österreich hielt auch in der berechtigterweise üppigen Nachspielzeit dicht und war damit Gruppensieger …

Vieles erinnert an 2017

… weil zeitgleich Frankreich gegen Polen nicht über ein 1:1 hinaus gekommen ist. Es erinnert vieles an Österreichs Frauen bei deren EM 2017. Zum einen, was die immer breiter werdende Brust angeht, den Flow, in den sich das Team gespielt hat, die Welle, auf der es reitet. Dazu kam bzw. kommt der überbordende Teamgeist und die freche, gute Laune, die der aufmüpfige und taktisch perfekt gedrillte Außenseiter verbreitet und das erbarmungslose Niederpressen des Gegners – damals in Spielen gegen Teams auf Augenhöhe, nun immer.

Auch der Turnierverlauf lässt Parallelen erkennen. Einem erkämpften Sieg, der die Möglichkeit zum Aufstieg eröffnete (damals das 1:0 gegen die Schweiz, jetzt das 3:1 gegen Polen) folgte ein starkes Spiel gegen ein zumindest auf dem Papier starkes Team (damals das 1:1 gegen Frankreich, jetzt dieses 3:2 gegen Holland). Damals kam danach ein Match gegen einen vermeintlich machbaren Kontrahenten, das extrem souverän und ohne jedes Drama 3:0 gewonnen wurde. Das war damals Island, das wäre nach dieser Rechnung nun die Türkei.

Überspringen die Männer am Dienstag in Leipzig diese Hürde, stünden sie wie damals die Frauen im Viertelfinale, mutmaßlich wieder gegen die Niederlande, oder aber gegen Rumänien. 2017 bog Österreich das Match im Elfmeterschießen, stand sensationell im Halbfinale, wo die Tanks dann aber leer waren.

Wie gefährlich ist die Türkei?

Aber halt, eines nach dem anderen. Erstmal die Türkei. Die Türken haben Georgien mit zwei wunderlichen Weitschüssen und viel Mühe gebogen, dann war Portugal einfach eine Nummer zu groß, ehe man sich von dezimierten Tschechen auf eine hitzige Treterei runterziehen ließ und diese gerade noch überlebte – allerdings nicht, ohne Kapitän Hakan Çalhanoğlu und Innenverteidiger Samet Akaydin durch Gelbsperren zu verlieren.

Die Türken sind ein Team, das spielen will. Nicht nur der schmächtige Jungspund Arda Güler ganz vorne, auch die Flügelspieler Barış Alper Yılmaz und Kenan Yıldız und natürlich der nach vorne marodierende Linksverteidiger Ferdi Kadıoğlu. Das 6:1 vom März darf man nicht wirklich als Vergleichswert zu Rate ziehen, der Kontext war ein anderer, das Personal teilweise auch, und das Spiel war auch viel enger, als das deutlich zu hohe Resultat aussagt.

Sehr wohl aber lässt sich sagen, dass Österreich in Bombenform und relativ entspannt daherkommt, während die Türken eine aufreibende Gruppenphase hinter sich haben, ihre übliche Spielweise das perfekte Opfer für Österreichs robustes Angriffs- und Gegenpressing darstellt und der Kopf des Teams nicht mitmachen darf.

Kulturwandler Ralf Rangnick

Es fällt angesichts der letzten Tage tatsächlich schwer, glaubhaft einen Schritt zurück zu machen, die Situation als Ganzes zu betrachten und nüchtern auf dieses Achtelfinale zu blicken. Zumindest uns Beobachtern. Weite Teile der Fanbasis sehen das ÖFB-Team schon zumindest im Halbfinale – und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es aus heimischer Sicht nicht ganz ungünstig ist, wie sich Favoriten und Außenseiter auf die beiden Turnier-Äste verteilen.

Wie man Team und Stab zuletzt erlebt hat, darf aber die Sicherheit vermitteln, dass die dort in ihrer Basis in Berlin die Lage sehr wohl richtig einschätzen können. Das ist Rangnicks Verdienst, und auch er selbst scheint sich in den letzten zwei Jahren ein wenig verändert zu haben – zumindest ist das der Eindruck, den man als Außenstehender bekommt. Er wirkt nicht mehr so professoral wie früher, es menschelt mehr. Rangnick hat erkannt, wie wichtig das „Man Management“ in einem Teamchef-Job bei einem Nationalteam ist. Die Spieler fühlen sich auf der persönlichen Ebene verstanden, sie fühlen sich in seiner Spielweise wohl und kommen gerne zum Team. Das merkt man.

Die Hitze des Gefechts eines solchen Turniers – vor allem eines EM-Turniers, das aus österreichischer Sicht so emotional verläuft wie dieses – sind die Momente, in denen die in den letzten Jahren ausgebrachte Saat geerntet wird. Wie weit es noch geht? Es ist nicht egal, natürlich nicht. Aber was immer auch noch kommen mag, nicht nur gefühlt ist dies das tollste ÖFB-Team seit 1978, sondern nun auch verbrieft.

Als erster Gruppensieger bei einem Großturnier seit eben jener WM in Argentinien.

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