Wann hat es zuletzt so ein wildes Eröffnungsspiel gegeben? Die Schweiz und Norwegen lieferten beim offiziellen Auftakt-Match zur Frauen-EM eine Partie mit so vielen Volten, unerwarteten Elementen, großen und kleinen Geschichten ab, wie man sie sonst oft in fünf Spielen nicht hat. Ein über weite Strecken katastrophal schlechtes Team aus Norwegen hat mit dem 2:1-Sieg den wohl größten Diebstahl-Coup auf Schweizer Boden seit dem Einbruch ins Hochsicherheitsdepot der Zürcher Fraumünsterpost vor 28 Jahren verübt – dieser sollte aber auch eine Warnung sein.

Beim Fraumünster-Postraub im Spätsommer 1997 haben fünf Männer binnen vier Minuten 53 Millionen Franken in einen gestohlenen Fiat Fiorino geladen und haben sich damit vom Acker gemacht. Allerdings agierte das Quintett dermaßen dilettantisch, dass sie recht rasch allesamt gefasst wurden. So ganz unähnlich war das bei Norwegen im offiziellen Eröffnungsspiel der Frauen-EM (Finnland hatte zuvor schon Island 1:0 besiegt) auch nicht.
Unerwartet mutige Schweizerinnen
Es mag auch damit zusammen hängen, dass die Schweizerinnen – völlig entgegen ihrer Gepflogenheiten in den letzten Monate – von Beginn an sehr aktiv, sehr offensiv und sehr mutig agierten. Die Eidgenossinen arbeiteten dabei vor allem mit Überladungen auf der linken Seite. Hier spielte Wing-Back Nadine Riesen so hoch, dass Noelle Maritz (nominell links in der Dreierkette) quasi als nominelle Linksverteidigerin ebenso mit aufrückte.
Norwegen versuchte mit den vier Offensivspielerinnen, die Schweizer Eröffnung zu verhindern, aber zuviert gegen fünf – das ging nicht gut. In ihrem Rücken waren Engen und Bøe-Risa wiederum extrem weit hinten, womit sich ein massives Loch ergab, einerseits. Und andererseits stand die norwegische Rechtsverteidigerin Thea Bjelde oft alleine gegen Riesen, die flinke und trickreiche Vallotto und die in diesen Raum driftende Stürmerin (meist Xhemaili, siutativ auf Reuteler).
Norwegen, wieder ein kaputtes Team
Vilde Bøe-Risa war für Bjelde keine große Hilfe, weil sie keine gute Zweikämpferin ist. Sie und Engen agierten wiederum auch deshalb so tief, weil hinter ihnen wieder die routinierte, aber lähmend langsame Maren Mjelde statt der verletzten Guro Bergsvand in die Innenverteidigung gerückt war. Die Abstimmung in der Abwehrkette passte nicht, die Abstimmung zwischen Sechern und Außenspielerinnen passte nicht, es wurde viel gedeutet und gezeigt, fast als ob dieses Team noch nie zusammen gespielt hätte. Im Aufbau verschwanden alle Anspielstationen stets in den Deckungsschatten. Bei Schweizer Abstößen positionierte sich Norwegen so offen, dass beinahe garantiert war, dass der Ball bei einer Schweizerin landen würde.
Norwegen stolperte von einer Verlegenheit in die nächste und als Nadine Riesen nach einer halben Stunde, noch dazu angetrieben von einem enthusiasmierten Publikum im vollen St.-Jakob-Park, endlich das 1:0 erzielte, war das schon überfällig. Die Skandinavierinnen schienen die offensive Spielweise der Schweiz überhaupt nicht erwartet zu haben – zugegeben, sie kam auch komplett aus dem Nichts.
Schweiz spielt das Stadion stumm
Komplett aus dem Nichts kam dann in der 54. Minute auch der Ausgleich, Engen blockte Hegerberg bei einem Eckball den Weg frei und vier Minuten später versuchte Stierli eine Flanke vor Hegerberg zu retten und schob dabei die Kugel ins eigene Netz. Der zuvor von der starken ersten Halbzeit der Schweizer freudig erregte St. Jakob war komplett stumm, und es hätte noch schlimmer kommen können, weil wiederum nur wenig später Reuteler den Ball mit der Hand spielte.
Hegerberg setzte den fälligen Elfmeter neben das Tor, im direkten Gegenzug brachte die eingewechselte Harviken vermeintlich Riesen zu Fall – ob es wirklich ein elfmeterwürdiges Foul war, wurde aber belanglos, weil es in der Entstehung schon Abseits war.
Norwegens Trainerin Gemma Grainger hatte da schon vom 4-2-4 auf ein 4-1-4-1 umgestellt, mit Hansen und Bizet auf den Außen sowie Naalsund und Bøe-Risa vor Engen. Die Abstände zwischen den Reihen waren nun deutlich geringer, damit fehlte auch den Schweizerinnen jener Raum, der sich noch in der ersten Halbzeit im Übermaß ergeben hatte. Norwegen konnte nun kompakt eine Führung verteidigen und war nicht zwischen vorne pressen und hinten absichern hin- und hergerissen.
Beide bleiben auf der „Fraud Watch“
Die Schweiz hat eine Halbzeit lang gezeigt, was man können könnte, wenn man nur dürfte – ein wenig wie bei den ÖFB-Männern bei der EM 2021, als man sich gegen die Ukraine und Italien quasi selbst von der Leine ließ und den Foda-Fußball mal für zwei Spiele abstreifen durfte. Andererseits fiel sowohl das spielerische als auch noch mehr das nervliche Konstrukt zusammen, als man innerhalb von wenigen Minuten das sichere Match komplett wegschüttete.
Norwegen setzte den zahlreichen schlimmen Darbietungen der letzten Jahren nochmal einen besonderen Tiefpunkt hinzu, diese erste Halbzeit war eine Zumutung, eine Gemeinheit, schlicht katastrophal – das war in einer Liga mit dem 0:8 gegen England bei der EM vor drei Jahren. Man mag es als Qualität verkaufen, dass das Spiel dennoch gewonnen wurde, aber das hatte man praktisch ausschließlich dem Schweizer Kollaps zu verdanken.
Courtney Stith, die das Turnier für den US-Sender CBS verfolgt (das sind die mit der kultigen Pundit-Runde von Kate Scott mit Carragher, Henry und Richards), formulierte es treffend: Nicht nur die Schweiz, auch Norwegen bleibt auf der „Fraud Watch“ – so gut bei den einen die erste Halbzeit und bei den anderen das Resultat aussah, da bleiben einfach zu viele offenbarte Schwächen übrig.
Aber halt eben auch ein wildes Eröffnungsspiel mit Wendungen und Geschichten. An dieses Match wird man sich in der Frauenfußball-Welt noch länger erinnern – als die Fußball-Variante des Postraubes von Fraumünster: An diesem Tag mag es für Norwegen gut geendet haben. Aber alle haben gesehen, wie dilettantisch dieser Coup ausgeführt worden ist.