Der wunderliche Señor Diego

WM-SERIE, Teil 29: ARGENTINIEN | Er beleidigt Journalisten, fährt Fotographen über die Füße, setzt die halbe Liga in seinem Nationalteam ein und lässt dann doch zwei der Weltbesten grundlos daheim, zudem verlangt er nun noch Luxus-Klobrillen im WM-Quartier. Willkommen in der Welt des Diego.

Nein, souverän war das nicht. Ein peinliches 1:6 bei den seit vielen Jahren wirklich schlechten Bolivianern. Ein spielerischer Offenbarungseid im Heimspiel gegen Brasilien. Über zwei Jahre kein einziger Auswärtssieg. Und dann tut der gute Diego, nachdem die Qualifikation mit Ach und Krach doch noch so irgendwie hingebogen wurde, auch noch so, als ob das eh immer klar und nie in Frage stand… Kein Zweifel, die Argentinier sind für Unterhaltung immer gut. Mäßige sportliche, in den letzten Jahren. Aber Maradona ist der größte Entertainer, seit es Fußball-Teamchefs gibt.

Aber die Frage, ob er auch was das Geschehen auf dem Platz die Besetzung der Wahl wäre, wird von praktisch allen Beobachter einhellig mit einem deutlichen „Nein“ beantwortet. Zu abstrus waren seine Aufstellungen; das Übergehen von Javier Zanetti und Estabán Cambiasso – beide unverzichtbare Stützen im Team von Inter Mailand, welches das Triple holte – ist ohne Übertreibung als absurd zu bezeichnen. Zumal sich Maradona beharrlich weigert, den vor den Kopf gestoßenen Fans und Beobachtern eine Begrüngung zu liefern. Vor allem vor dem Hintergrund, dass mit Jonás Gutiérrez, Javier Pastore und Mario Bolatti stattdessen drei völlige No-Names nominiert wurden, die in ihren Karrieren bislang exakt gar nichts gewonnen haben – den englischen Zweitligatitel von Gutiérrez mit Newcastle einmal außen vor gelassen. Von internationaler Erfahrung mal ganz zu schweigen.

Der einzige Daheimgebliebene, dem Maradona offen nachtrauert, ist Fernando Gago von Real Madrid – aber der Sechser bekam einfach zu wenig Spielpraxis. Auch die Tatsache, dass Maradona mit Martin Demichelis dem großen Schwachpunkt eines starken Bayern-Jahres vertraut, anstatt Barcelona-Verteidiger Gabriel Milito, ist zumindest eine, nun ja, umstrittene Entscheidung. Ebenso wie Martin Palermo in der Offensive. Das internationales Highlight des 36-Jährigen, der einst in Europa (zugegeben auch wegen einer schweren Verletzung) kläglich scheiterte waren einst drei verschossene Elfmeter in einem einzigen Spiel.

Maradona geht mit seinem Kader großes Risiko. Geht das Turnier schief – und im Grunde wäre alles unter einem Semifinaleinzug ein Misserfolg – wird die eigenwillige Kaderzusammenstellung sicherlich ein Hauptkritikpunkt sein. Zumal Maradona seit seinem Amtsantritt vor anderthalb Jahren 107 (!) Spieler eingesetzt hat. Also praktisch den Gegenwert der halben argentinischen Liga; überspitzt formuliert, jeden der einen argentinischen Pass besitzt und drei gerade Schüsse zusammenbringt. Umso erstaunlicher, dass Cambiasso und Zanetti nicht dabei sind.

Aber trotz des wunderlichen Teamchefs, trotz des seltsamen Kaders: Unterschätzen darf man die „Albicelete“ unter keinen Umständen. Die erste Mannschaft, die Maradona spät, aber doch gefunden hat ist ohne Zweifel stark genug, um ein wirklich gutes Turnier zu spielen. Solange sich keiner verletzt oder gesperrt ausfällt, sodass einer der Unbekannten aus der zweiten Reihe ran muss, ist dem Weltmeister von 1978 und 1986 viel zuzutrauen. Nicht zuletzt natürlich dank des amtierenden Weltfußballers, Lionel Messi.

Der Zauberzwerg spielte fraglos die beste Saison seiner Karriere, wurde spanischer Torschützenkönig und hat den Hauptanteil daran, dass der FC Barcelona sagenhafte 99 Punkte (2,6 Zähler pro Spiel) erreichen  und Real Madrid doch noch auf Distanz halten konnte. Er ist der eine Spieler, der an einem guten Tag um so viel besser ist als die Konkurrenz, dass er gegen jede, noch so starke Mannschaft, in Playstation-Manier ein Spiel ganz alleine entscheiden kann. In dieser Hinsicht ist er der legitime Erbe seines als Spieler ja unbestritten großartigen Teamchefs, der Argentinien 1986 praktisch im Alleingang zum Weltmeister machte. Nicht nur mit Handbällen, sondern auch mit unglaublichen Aktionen am Ball.

Kein Wunder also, dass Maradona auch heute vor allem auf die individuelle Genialität des 23-jährigen Wunderspielers baut, der aber abseits des Platzes der exakte Gegenentwurf zum Teamchef ist. Der Lionel Messi abseits des Platzes ist schüchtern, medienscheu und leise. Von ihm hört man keine Sprüche, keine Skandale, gar nichts. Messi definiert sich ausschließlich über die Leistung am Platz. Diese allerdings blieb im blau-weiß gestreiften Nationaltrikot immer deutlich hinter jeder bei der „Blaugrana“, beim FC Barcelona, zurück. Im Team fehlt Messi so ein wenig die Nestwärme, die ihn bei Barcelona umgibt; die er braucht, um seine volle Leistung abrufen zu können.

Darum ist es von Maradona auch ein wenig dünn, darauf zu hoffen, dass es Messi schon richten wird. Denn echte Alternativen gibt es natürlich nicht – am ehesten wäre das noch Diego Milito. Der kann ein Spiel ebenso von der Sturmspitze aus bearbeiten und trotzdem torgefährlich sein. Das wusste vor José Mourinho aber keiner! Der Spätstarter – Milito ist schon 31 Jahre alt – verdankt seinen späten Durchbruch dem Auge des „Special One“, der ihn vor einem Jahr um 25 Millionen Euro von Genoa loseiste und keiner so recht wusste, warum Mourinho für Milito so viel Geld ausgibt, wo er doch ohnehin noch Samuel Eto’o bekam. Dass Milito den Kameruner auf die Seite verdrängte und einer der Hauptarchitekten der erfolgreichsten Inter-Saison überhaupt wurde, wird ihm aber wohl nicht helfen, einen Platz in der Startformation zu bekommen.

Dieser scheint nämlich für Gonzalo Higuaín bestimmt. Der 22-jährige Goalgetter von Real Madrid kam erst vor weniger als einem Jahr zum Nationalteam – aber nicht, weil er Maradona nicht ins Konzept passte oder sich mit ihm überworfen hatte. Sondern, und das gab Maradona unumwunden zu, weil er von diesem bulligen Zentrumsstürmer, immerhin amtierender bester Torschütze bei Real Madrid, noch nie etwas gehört hatte. Seit aber Dieguito doch einmal gesteckt wurde, dass da bei diesem kleinen, unbedeutenden Verein aus Spanien ein Argentinier Tore wie am Fließband schießt, ist Huguaín nicht mehr aus der Albicelete wegzudenken. Er soll sich explizit vorne aufhalten und auch den Prellbock für Messi spielen, Verteidiger auf sich ziehen und im Falle des Falles natürlich auch seinen grandiosen Torriecher unter Beweis stellen. Dass Messi und Higuaín so unterschiedliche Spielertypen sind, macht sie gerade zu einem so gefährlichen Duo.

Das aber zumeist nur wenig Unterstützung aus dem Mittelfeld erhält, weil dieses in der Regel eher defensiv eingestellt ist. Der angriffslustigste Spieler ist darin fraglos Angel di María, wie Messi und Higuaín auch mit seinen 22 Jahren noch sehr jung. Der linke Flügelflitzer mit den Dumbo-Ohren spielte eine grandiose Saison mit Benfica Lissabon, steht schon in diversen Notizbüchern europäische Großklubs und dürfte dem portugiesischen Meister eine erkleckliche, zweistellige Millionensumme einbringen. Zudem schoss Di María 2008 in Peking das Goldtor beim 1:0-Olympiafinalsieg über Nigeria. Er besitzt also durchaus schon Turniererfahrung und hat neben Olympiagold auch schon einen Weltmeistertitel in der Tasche – 2007 wurde er in Kanada gemeinsam mit Teamchef-Schwiegersohn Agüero und dem unumstrittenen Torhüter Sergio Romero U20-Weltmeister (wie auch Messi zwei Jahre zuvor).

Auf der rechten Seite hat sich Jonás Gutiérrez festgespielt, der Flügelmann vom englischen Zweitliga-Meister Newcastle agiert aber nicht ganz so offensiv wie Di María auf der anderen Seite. In der defensiven Mittelfeld-Zentrale ist natürlich Kapitän Javier Mascherano absolut gesetzt, am Liverpool-Spieler führt kein weg vorbei. Ebensowenig, und das mag viele Europäer doch ein wenig überraschen, wie Juan Sebastián Verón. Der grimmige Glatzkopf mit dem Look eines Disco-Rausschmeißers, der einst Stammspieler bei Lazio Rom und Manchester United war, erlebt mit seinen 35 Lenzen den zweiten Frühling, seit er wieder in der Heimat spielt. Er führte die Estudiantes de La Plate zum Sieg in der Copa Libertadores, dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions League, und in weiterer Folge auch ins Weltcup-Finale – wo nur zwei Minuten zum Sieg gegen Barcelona gefehlt hätten. Er ist die routinierte Schaltstelle zwischen Defensive und Offensive.

Absoluter Abwehr-Boss ist hinten Walter Samuel. Der Schrank von Inter Mailand agiert in der Form seines Lebens, was er angesichts seiner Nebenmänner im Team aber wohl auch muss. Denn Martin Demichelis von Bayern München spielte ein von diversen Patzern durchsetztes Jahr und muss durchaus die Konkurrenz von Nicolás Burdisso fürchten, der in der Serie A mit der Roma beinahe noch Inter abgefangen hätte. Auf der rechten Seite hat sich, hinter Jonás Gutiérrez im Mittelfeld, mit Nicolás Otamendi ein weiterer internationaler No-Name seinen Platz gesichert. Der 22-Jährige von Vélez Sársfield ist der einzige aus Maradonas Startformation, der die heimische Liga noch nicht verlassen hat. Somit fehlt es ihm als gelernten Innenverteidiger nicht nur am Offensivdrang, sondern auch an der Erfahrung.

Und weil ihm drei Innenverteidiger nicht genug sind, stellt Maradona auf die linke Seite mit Gabriel Heinze gleich noch einen vierten. Der Routinier, der mittlerweile beim französischen Meister Olympique Marseille gelandet ist, komplettiert die extrem defensiv denkende Abwehrreihe der Argentinier. Das heißt, dass das Spiel nach vorne praktisch ausschließlich den Flanken im Mittelfeld und Lionel Messi obliegt. Was wiederum eine kleine Remineszenz an Diegos WM-Titel von 1986 ist. Was damals er selbst war, ist nun Messi – der geniale Einzelkönner. Higuaín nimmt die Rolle von Jorge Valdano als Strafraumbiest ein. Di María macht den Burruchaga, den Halb-Stürmer aus dem Mittelfeld. Verón ist das Gegenstück zum langhaarigen Vollbart-Träger Sergio Batista, dem grimmigen Turm im zentralen Mittelfeld. Und Héctor Enrique, der Maradona im Viertelfinale gegen England den Pass zu dessen Traumsolo gab, hat der Teamchef gleich mit in seinen aktuellen Betreuerstab mit eingebaut.

Die Crux im argentinischen Kader sind aber, wie erwähnt, die nur sehr unausgewogen vorhandenen Alternativen. Gut, einen Messi kann man ohnehin nicht ersetzen. Aber während mit Agüero, Milito, Tévez und sogar Palermo für die Offensive einige Weltklasse-Leute zur Verfügung stehen, gibt es im defensiven Mittelfeld etwa keine Alternativen zu Mascherano und Verón. Eben weil Zanetti und Cambiasso nicht dabei sind, stünden mit Bolatti und Pastore nur zwei völlig unbeschriebene Blätter bereit. Ebenso in der Abwehr mit den nicht mehr gerade jungen Ariel Garcé (30) und Clemente Rodríguez (28), die beide in der argentinischen Liga aktiv sind.

Nach den vielen Experimenten hat sich Maradona doch schon einige Testspiele vor Beginn der Endrunde auf seinen Stamm festgelegt und lässt diesen auch konsequent spielen. Durchaus mit Erfolg, die Deutschen wurden etwa in München überzeugend bezwungen. Zudem warten mit Nigeria, Südkorea und Griechenland auch wahrlich keine unlösbaren Aufgaben in einer der vermeintlich leichteren Gruppen. Mit einem Weltmeistertitel, wiewohl die Albiceleste natürlich kein ganz heißer Turnierfavorit ist, würde sich Maradona endgültig unsterblich machen, all seinen Eskapaden zum Trotz. Die Frage im Erfolgsfall wird aber immer bleiben, inwieweit dieser wegen Maradona ohne eher trotz im zustande kamen. Mit Sicherheit aber wird es wesentlich mehr von der Genialität Messis auf dem Platz abhängen, ob die Endrunde erfolgreich verläuft, als von jener des mittlerweile vollbärtigen Teamchefs auf der Seitenlinie.

Oder wird’s am Ende das Wohlbefinden der Spieler durch die Luxus-Klobrillen ausmachen, die der Goldjunge im WM-Quartier verlangt hat?

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ARGENTINIEN
blau-weißes Trikot, schwarze Hose, adidas – Platzierung im ELO-Ranking: 7.

Spiele in Südafrika:
Nigeria (Nachmittagsspiel Sa 12/06 in Johannesburg/E)
Südkorea (Mittagsspiel do 17/06 in Johannesburg/S)
Griechenland (Abendspiel Di 22/06 in Polokwane)

TEAM: Tor: Mariano Andújar (26, Catania), Diego Pozo (32, Colón de Santa Fe), Sergio Romero (23, Alkmaar). Abwehr: Nicolás Burdisso (29, Roma), Martin Demichelis (29, Bayern), Ariel Garcé (30, Colón de Santa Fe), Gabriel Heinze (32, Marseille), Nicolás Otamendi (22, Vélez Sársfield), Clemente Rodríguez (28, Estudiantes de La Plata), Walter Samuel (32, Inter). Mittelfeld: Mario Bolatti (25, Fiorentina), Ángel di María (22, Benfica), Jonás Gutiérrez (26, Newcastle), Javier Mascherano (26, Liverpool), Javier Pastore (21, Palermo), Maxi Rodríguez (29, Liverpool), Juan Sebastián Verón (35, Estudiantes de La Plata). Angriff: Sergio Agüero (22, Atlético Madrid), Gonzalo Higuaín (22, Real Madrid), Lionel Messi (23, Barcelona), Diego Milito (31, Inter), Martin Palermo (36, Boca Juniors), Carlos Tévez (26, Manchester City).

Teamchef: Diego Maradona (49, Argentinier, seit November 2008)

Qualifikation: 2:0 gegen Chile, 2:0 in Venezuela, 3:0 gegen Bolivien, 1:2 in Kolumbien, 1:1 gegen Ecuador, 0:0 in Brasilien, 1:1 gegen Paraguay, 1:1 in Peru, 2:1 gegen Uruguay, 0:1 in Chile, 4:0 gegen Venezuela, 1:6 in Bolivien, 1:0 gegen Kolumbien, 0:2 in Ecuador, 1:3 gegen Brasilien, 0:1 in Paraguay, 2:1 gegen Peru, 1:0 in Uruguay.

Endrundenteilnahmen: 14 (1930 Finale, 34 Erste Runde, 58 und 62 Vorrunde, 66 Viertelfinale, 74 Zwischenrunde, 78 Weltmeister, 82 Zwischenrunde, 86 Weltmeister, 90 Finale, 94 Achtelfinale, 98 Viertelfinale, 2002 Vorrunde, 06 Viertelfinale)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.