Frankreich II., vulgo: Algerien

WM-SERIE, Teil 13: ALGERIEN | Neun der elf Spieler aus der Stammformation der Algerier wurden in Frankreich geboren – zumeist unauffällige Arbeitstiere. Für das Spektakel sind andere Teams zuständig, 24 Jahre nach dem bislang letzten WM-Auftritt der Wüstenfüchse.

Es war ein Mai-Abend in Wien, als Rabah Madjer mit seinem Fersentor im Meistercup-Finale gegen die Bayern für seinen FC Porto das Siegtor erzielte. Das ist nun 24 Jahre her – so lange, dass es schon fast nicht mehr wahr ist. Für den damals 27-jährigen Stürmer war dieses Jahr 1986 der Höhepunkt seiner Karriere: Erstder Sieg im höchsten Europacup-Bewerb, und einen Monat später durfte er seine zweite Weltmeisterschaft spielen. Das algerische Team war in diesen Jahren eines der absolute Spitzenteams vom afrikanischen Kontinent, auch wenn man bei beiden WM-Auftritte die Vorrunde nicht überstehen konnte. 1982 waren sie noch die Angeschmierten beim Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Österreich in Gijon, erreichten trotz Siegen gegen die Deutschen und Chile nicht die nächste Runde. Vier Jahre später gab es nach einem 1:1 gegen Nordirland Niederlagen gegen Brasilien und Spanien.

Neben Madjer war damals auch Zinedine Zidanes Onkel Djamel dabei – und Teamchef war Rabah Saâdane. Damals, mit 40 Jahren, auch schon in seiner zweiten Amtszeit. Heute, mit 64, ist Saâdane wieder Teamchef der „Wüstenfüchse“, mittlerweile zum fünften Mal. Allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen: Waren damals Madjer und Co. noch eine spielstarke Mannschaft, besitzt das spielerische Element heute nur eine untergeordnete Rolle. Saâdane hat die Algerier, deren Fußball sich zwischendurch in einem dramatischen Loch befand, wieder auf die Weltbühne zurückgeführt. Als er sich im Herbst 2007 wieder des Nationalteams seiner Heimat annahm, hatte die Mannschaft gerade die Qualifikation für den Afrikacup vergeigt, bei der Ausscheidung für die WM ein Jahr zuvor wurde Algerien Gruppenletzter. Hinter Simbabwe und Ruanda.

Also baute Saâdane um. Von den damaligen Spielern sind heute nur noch vier mit dabei – dafür schaffte er es, eine Mannschaft zu formen, die jung genug ist, um in praktisch identer Aufstellung auch in vier Jahren noch dabei sein kann. Das Team besitzt darüber hinaus auch das Nervenkostüm, um in aufgeheizter Stimmung ein Entscheidungsspiel ausgerechnet gegen den traditionellen Erzfeind Ägypten mit 1:0 nach Hause zu schaukeln. In diesem Spiel wurde ausgerechnet ein Innenverteidiger zum Held – Anthar Yahia erzielte aus spitzem Winkel das entscheidende Tor. Damit war klar: Das beste afrikanische Team der letzten Jahre, Serien-Afrikacupsieger Ägypten, muss wieder zuschauen – und Algerien ist dabei.

Und die Tatsache, dass es genau Yahia war, der die Wüstenfüchse letztlich nach Südafrika schoss, ist exemplarisch für die Zusammensetzung dieser Mannschaft: In Frankreich als Sohn von algerischen Migranten geboren, bei Bastia und Bochum langjähriger Spieler gestählt in den Abstiegskämpfen von Frankreich und Deutschland. Unauffällig, ja, eigentlich unbekannt, wenn man sich nicht gerade eingehender mit den wenig prickelnden Mannschaften beschäftigt. Und Spieler wie Yahia gibt es in diesem Team einige – praktisch alle spielen bei Mittelständlern und Abstiegskandidaten, aber eben in starken Ligen.

Hinzu kommt, dass bis auf seinen Nebenmann in der Abwehr, Rafik Halliche, und Torhüter Gaouaoui alle Stammspieler in Frankreich das Licht der Welt erblickt und das Fußball spielen erlernt haben. Dass diese sich dann für das algerische statt für das französische Team entschieden haben, hat zwei Gründe: Zum einen natürlich das Wissen um die eigenen Wurzeln und der Heimat der Eltern. Zum anderen aber sicherlich auch das Wissen, dass es sportlich für die Equipe Tricolore ganz einfach nicht reicht. So hat Saâdane (zumindest bis auf den schwierigen Meghni) keine Künstler in seiner Mannschaft, sondern kommt eben mit einer zwar wenig spektakulären, aber wegen der mannschaftlichen Geschlossenheit, einer durchaus europäischen Arbeitseinstellung und dem recht defensiv interpretierten 4-2-3-1 als äußerst unangenehm zu spielendes Team daher.

Ein Team auch, in dem es personell keine allzu großen Überraschungen gibt, denn hinter den ersten elf Spielern gibt es kaum jemanden, der einen Ausfall adäquat ersetzen könnte. Und wie bei so vielen afrikanischen Teams ist auch bei den Algerien die Problemposition Nummer eins die der Nummer eins. Lounès Gaouauoi ist die etatmäßige Erstbesetzung, er ist aber kaum mehr als Durchschnitt – wenn überhaupt. Durch eine Verletzung verpasste er das Playoff gegen Ägypten, durch einen Blinddarmdurchbruch den Afrikacup. Sein Ersatzmann Faouzi Chaouchi machte gegen die Ägypter das Spiel seines Lebens, der ganze Kredit ist allerdings durch äußerst unsichere Auftritte im Jänner beim Afrikacup praktisch aufgebraucht. So oder so, hier drückt der Schuh.

Davor sieht die Sache aber schon sehr viel stabiler aus. Die Abwehr ist eindeutig das Punktstück der Nordafrikaner, hier kann Saâdane auf eine sichere und nervenstarke Viererkette zurückgreifen. In der Innenverteidigung ist Rafik Halliche gesetzt: Er spielt bei Nacional Funchal in Portugal, und dort in der laufenden Saison sogar Europapokal. Halliche ist vor allem bei Standardsituationen durch seine Kopfballstärke ein Spieler, auf den es aufzupassen gilt. Neben ihm spielt entweder der angesprochene Yahia oder Majid Bougherra von den Glasgow Rangers. Der 27-jährige ist zwar eigentlich gelernter Außenverteidiger, beim Afrikacup agierte aber der Schottland-Legionär – einer der wenigen, der bei einem Spitzenverein seiner Liga spielt – zentral und Yahia nahm den Platz auf der rechten Seite ein. Hier kann ohne Qualitätsverlust getauscht werden, was abhängig vom Spielverlauf durchaus auch passieren kann.

Links in der Abwehrkette spielt mit Nadir Belhadj ein Spieler, dem das Image des ewigen Talents anhaftet. Einst als große Hoffnung und um viel Geld zu Olympique Lyon gekommen, konnte sich dort aber nie durchsetzen. Darum wechselte er in die Premier League zu Portsmouth, viele Erfolgserlebnisse gab es beim finanziell gebeutelten Prügelknaben aber zuletzt nicht. Beim Afrikacup aber zeigte er sein Potential und auch seinen Offensivdrang. Direkt vor ihm ist Karim Ziani gesetzt. Er hat ein anderes Problem: Er ging von Marseille im letzten Sommer zwar zum frischgebackenen deutschen Meister Wolfsburg, spielt dort aber nicht die geringste Rolle. Er kommt nur selten zu Einsätzen, und wenn, dann kaum länger als eine Viertelstunde. Hier wird Saâdanes Problem manifest, dass er seinen Spielern auch vertrauen muss, wenn sie keine Spielpraxis haben, weil er eben über keine Alternativen verfügt.

Ähnliches gilt auch für Mourad Meghni. Der Lazio-Legionär versteht sich selbst als Freigeist, als Spielgestalter, klassischer Zehner. Kurz, als der unumstrittene Star des Teams. Damit passt er natürlich überhaupt nicht in das ansonsten sehr ausgeglichene und gut aufeinander abgestimmte Mannschaftsgefüge, was ihm schon den einen oder anderen Streit mit Teamchef Rabah Saâdane eingebracht hat. Doch auch hier gilt: Es fehlen die Alternativen. Mehdi Lacen wurde erst einmal von Beginn an ausprobiert (und prompt ging das Testspiel gegen Serbien auch 0:3 verloren), Bezzaz und Bouazza spielen nur in ihren 2. Ligen und es fehlt ihnen an Meghnis Qualität. Er wäre der einzige im algerischen Team, der auch das spielerische Potential für die Franzosen hätte, war auch in den Junioren-Nationalteams mit dem blauen Dress aktiv, ehe er sich aber doch für Algerien entschieden hat. An guten Tagen kann er gegen jedes Team ein entscheidener Vorteil sein – aber hat er keine Lust, oder nimmt ihm der Gegner diese, ist er ein unsichtbarer Totalausfall.

Was natürlich auch die Arbeitslast für die beiden Sechser deutlich erhöht. Hier sind Kapitän Yacine Mansouri von Lorient und Belhadj‘ Teamkollege aus Portsmouth, Hassan Yebda, für die Struktur im Spiel zuständig. Auch diese beiden sind in der Defensive stärker als im Aufbauspiel nach vorne, weshalb die Anlage der Algerier eher auf Konter und die Außenbahnen angelegt ist. Schlüsselspieler ist hierbei Karim Matmour auf der rechten Seite. Der M’gladbach-Legionär ist vom Selbstverständnis her eher ein Stürmer, der aber seine Stärken erst so richtig entfalten kann, wenn er aus der Etappe kommt. Darum fühlt er sich auch nicht sklavisch an seine rechte Seite gebunden, sondern geht auch immer wieder gerne in die Spitze oder in die Mittelfeld-Zentrale. Vor allem wenn er merkt, dass von Meghni keine Impulse ausgehen.

Und vorne soll dann Abdelkader Ghezzal die Zuspiele verwerten – er ist beim Serie-A-Hinterbänkler Siena seit einigen Jahren kein überragender, aber doch halbwegs regelmäßiger Torschütze und es ist unter anderem sein Verdienst, dass diese Mannschaft sich überhaupt so lange gehalten hat. In der laufenden Saison kann aber wohl auch er den Abstieg nicht mehr verhindern. Auf seiner Position hat Saâdane noch am Ehesten die Möglichkeit, etwas zu tauschen: So ist etwa der routinierte Rafik Saïfi immer noch gut genug für zwanzig, dreißig Minuten, wenn es gilt, die Brechstange auszupacken. Oder aber Rafik Djebbour, der seit vielen Jahren in Griechenland spielt und sich über Mittelständler immerhin bis zum AEK Athen hocharbeiten konnte.

Die Erfahrung des Afrikacups hat aber gerade im Falle von Algerien auch gezeigt, dass wahrlich nicht alles Gold ist, was bei den Wüstenfüchsen glänzt. Die Offensivabteilung war in fünf der sechs Spiele ein Totalausfall – vor dem schönen 3:2-Erfolg im Viertelfinale gegen die Ivorer gelang in drei Vorrunden-Spielen ein einziges Tor (dafür gab’s dort ein peinliches 0:3 gegen Malawi), danach gab es im Semifinale und im Spiel um den dritten Platz gar keines.

Was man im Hinblick auf die WM-Endrunde allerdings auch positiv auslegen kann ist, dass die Algerier ihre größte Stärke im Konter haben, wenn der Gegner das Spiel macht. Denn die Mannschaft ist auf höherem Niveau absolut unfähig, selbst in die Rolle des Gestalters zu schlüpfen und tut sich mit der Favoritenrolle sehr schwer, wie das 0:3 gegen Malawi eindrucksvoll gezeigt hat. Hier agiert das Team behäbig und einfallslos, was man durchaus in den Rollen der Spieler bei ihren Vereinen begründet sehen kann, aber auch an den Rollen der Verein in ihren Ligen. Bei diesen ist nun mal nicht die Kunst gefragt, sondern die Arbeit, vornehmlich die in der Defensive. Gegner wie Malawi gibt es bei der WM zwar nicht, aber auch hier steht mit Slowenien der vermeintlich leichteste Gegner schon zum Start auf dem Programm.

Für die Kunst sind in Südafrika wahrlich andere zuständig. Für Algerien kann es beim ersten Auftritt nach 24 Jahren nur darum gehen, zu lernen und sich auf der größten Bühne, die der Weltfußball hat, ordentlich zu präsentieren.

Wie gut dabei, dass Malawi nicht mitspielt.

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ALGERIEN
ganz in weiß, Puma – Platzierung im ELO-Ranking: 56.

Spiele in Südafrika:
Slowenien (Mittagsspiel So 13/06 in Polokwane)
England (Abendspiel Fr 18/06 in Kapstadt)
USA (Nachmittagspiel Mi 23/06 in Pretoria)

TEAM: Tor: Faouzi Chaouchi (25, Sétif), Lounés Gaouaoui (32, Chlef), Mohamed Zemmamouche (25, Algiers). Abwehr: Nadir Belhadj (27, Portsmouth), Majid Bougherra (27, Glasgow Rangers), Rafik Halliche (23, Nacional Funchal), Abdelkader Laïfaoui (28, Sétif), Slimane Raho (34, Sétif), Anthar Yahia (28, Bochum), Samir Zaoui (34, Chlef). Mittelfeld: Djamel Abdoun (24, Nantes), Yacine Bezzaz (32, Strasbourg), Hameur Bouazza (26, Blackpool), Mehdi Lacen (26, Santander), Yazid Mansouri (32, Lorient), Mourad Meghni (25, Lazio), Hassan Yebda (26, Portsmouth), Karim Ziani (27, Wolfsburg). Angriff: Rafik Djebbour (26, AEK Athen), Abdelkader Ghezzal (25, Siena), Karim Matmour (24, M’gladbach), Rafik Saïfi (35, Istres), Abdelmalek Ziaya (26, Al-Ittihad Jiddah).

Teamchef: Rabah Saâdane (64, Algerier, seit Oktober 2007)

Qualifikation: 0:1 im Senegal, 3:0 gegen Liberia, 0:1 in und 1:0 gegen Gambia, 3:2 gegen den Senegal, 0:0 in Liberia. 0:0 in Ruanda, 3:1 gegen Ägypten, 3:0 gegen Ruanda, 1:0 gegen Sambia, 3:1 gegen Ruanda, 0:2 in Ägypten. 1:0 auf neutralem Boden gegen Ägypten.

Endrundenteilnahmen: 2 (1982 und 86 Vorrunde)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Elfenbeinküste, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.