Das Zentralgestirn und seine Planeten

WM-SERIE, Teil 16: CÔTE D’IVOIRE | Es wird wohl die letzte WM für Didier Drogba, die zentrale Figur im Spiel der Ivorer. Die Frage, wie es danach weitergeht, wird der neue Teamchef Sven-Göran Eriksson nicht mehr beantworten müssen – seine Mission ist zeitlich klar begrenzt.

Am Ende hatte man den Eindruck, zur Not würde Didier Drogba den Teamchef selbst machen – wie beim Afrikacup 2008, als Drogba offiziell Co-Trainer seines eigenen Teams war. Die Suche nach einem Nachfolger für den nach dem Afrikacup vergangenen Jänner geschassten Vahid Halilhodžić gestaltete sich als aufreibender, als es sich der ivorische Verband wohl gedacht hatte. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass den Westafrikanern nur das Beste gut genug war – und Herren wie Bernd Schuster und Mark Hughes im Kandidatenkreis waren. Den Zuschlag bekam der Schwede Sven-Göran Eriksson, der nun zum dritten Mal (nach 02 und 06 mit England) als Teamchef zu einer Weltmeisterschafts-Endrunde fährt.

Einer Endrunde, die für den großen Superstar der Ivorer wohl zur letzten großen Chance wird, mit seinem Land zu glänzen – schließlich hat Didier Drogba schon angekündigt, dass der abgelaufene Afrikacup im Jänner sein letzter wäre. Und selbst, wenn er sich doch dazu aufraffen kann, 2012 in Gabun und Äquatorialguinea noch einen Anlauf auf die kontinentale Krone zu starten, wäre er bei der nächsten WM in vier Jahren schon 36 Jahre alt. Für einen kraftvollen Spieler, der sehr von seiner Physis und seiner Athletik lebt, wird da wahrscheinlich schon Schluss sein.

Zumal sich nach dem Turnier in Südafrika langsam aber sicher auch die Verantwortlichen der ivorischen Nationalmannschaft Gedanken machen sollten, wie es nach Drogba weitergeht. Denn im Moment konzentriert sich, obwohl er beileibe nicht der einzige internationale Star in der Mannschaft ist, alles auf den Bullen von Chelsea. Nicht nur medial, das versteht sich ohnehin von selbst. Nein, auch die Ausrichtung der Mannschaft ist einzig und allein darauf abgezielt, den Mittelstürmer vorne in Szene zu setzen. Das hat schon beim Afrikacup in Angola nicht funktioniert – hier war für die favorisierten Ivorer schon im Viertelfinale Endstation. Und das wird wohl auch gegen Topgegner wie Brasilien und Portugal bei der Weltmeisterschaft nur dann zum Erfolg führen, wenn wirklich alles zusammen passt. Schließlich macht dieser Umstand die Ivorer, bei all ihrer individuellen Klasse, einfach zu leicht ausrechenbar.

Dabei müsste das gar nicht sein. Die Ivorer besitzen in allen Mannschaftsteilen Spieler mit zumindest erweiterter internationaler Klasse, die fast alle in europäischen Top-Ligen vertreten sind. Doch unter Halilhodžić war die Mannschaft wie ein Planetensystem, das sich nur um ihr Zentralgestirn Drogba dreht. Inwieweit das der Fehler von Halilhodžić war oder es Drogba einfach aufgrund seiner Ausnahmestellung innerhalb der Mannschaft gar nicht anders zuließ, wird einer der Punkte sein, die es unter Eriksson aufzulösen gilt. Der Schwede ist nach seinen vielen Jahren als Teamchef der Engländer ein erfahrender Mann auch im kurzfristigen Umgang mit Stars, zudem es sich um eine Mission auf Zeit handelt – nach der Endrunde ist der 62-Jährige wohl wieder frei.

Eriksson hat es aber nicht nur mit einer für das Funktionieren einer Mannschaft äußerst schwierigen hierarchischen Konstellation zu tun, sondern in Südafrika dann auch mit einer fiesen Gruppe. Hier hatten die Ivorer erneut Pech, nachdem sie schon vor vier Jahren, bei ihrer WM-Premiere, mit den Holländern und den Argentiniern zwei extrem starke Gruppengegner hatten. Gegen beide war man nicht chancenlos, aber gegen beide wurde am Ende verloren – ein Schicksal, das auch gegen Brasilien und Portugal bei der bevorstehenden Endrunde durchaus wahrscheinlich ist. Nur gegen den Underdog aus Nordkorea sind Drogba und Co. sicherlich klarer Favorit, auch wenn in diesem Spiel, wie 2006 beim abschließenden 3:2 gegen die Serben im Regensturm von München, schon alles zu spät sein könnte.

Für seine Aufgabe, die Ivorer WM-tauglich zu machen, muss Eriksson einen schwierigen Spagat vollführen: Einerseits muss er Drogba bei Laune halten, der auch in der Defensive oft nicht der fleißigsten einer ist, zum anderen muss er die Mannschaft aber auch für den Fall fitmachen, dass Drogba vorne aus dem Spiel ist, oder gar ganz fehlt. Hier sind dann vor allem Didier Zokora und Yaya Touré gefordert, das Spiel an sich zu reißen. Zudem wird es interessant sein, ob Eriksson vom 4-3-3 seines Vorgängers abweicht.

Im Tor steht mit Boubacar Barry vom belgischen Erstligisten Lokreren einer der besten Schlussmänner vom afrikanischen Kontinent, beim Afrikacup in Angola hat er dies wieder eindeutig unter Beweis gestellt. Sowohl der sonst als sicher geltende Kameruner Kameni, als auch der Nigerianer Enyeama – immerhin zum besten Torwart der israelischen Liga gewählt – machten einen deutlich wackeligeren Eindruck als der 30-jährige Barry.

Auch vor ihm steht Routine. Mit Kolo Touré organisiert ein Mann die Abwehr, dem durch mittlerweile acht Jahre Premier League keiner mehr so schnell etwas vormacht. Doch wie bei so vielen Teams gibt es auch bei den Ivorern eben in Touré nur einen Innenverteidiger von internationaler Klasse und mit ebensolcher Erfahrung. In den letzten Spielen war Sol Bamba der Partner von Touré im Abwehrzentrum, ihm fehlt es aber eklatant an internationaler Erfahrung – die ist beim schottischen Mittelständler Hibernian Edinburgh auch schwer zu bekommen. Mehr Routine, aber auch nicht bedeudend mehr Klasse besitzt Guy Demel vom HSV. Er kann sowohl zentral als auch, und das ist ihm noch lieber, auf der rechten Abwehrseite eingesetzt werden. Dort ist er aber, wie auch innen, eher nur zweite Wahl, denn rechts hinten steht im mit Emmanuel Eboué ein Mann mit deutlich mehr Offensivdrang im Weg. Auf der linken Seite hat Siaka Tiené bessere Karten als Arthur Boka vom VfB Stuttgart.

Das Dreier-Mittelfeld, in dem die Ivorer zumindest vor der Bestellung von Sven-Göran Eriksson aufliefen, gibt es zwei ganz zentrale, bestimmende Spieler, die praktisch unrotierbar sind. In der etwas defensiveren Rolle ist das mit Yaya Touré der jüngere Bruder von Abwehrchef Kolo: Der Barcelona-Stammspieler ist zweifelsfrei einer der besten Sechser, die es derzeit überhaupt gibt. Und offensiv ist das Didier Zokora von Sevilla, zu dem es keine Alternative gibt. Fällt Zokora aus, ist dem Spiel der Ivorer die Schaltzentrale genommen, der Ballverteiler, der Spielmacher. Ihn gilt es, neben Drogba, am ehesten zu neutralisieren, möchte man eine Chance haben.

Wer der dritte Mann im Mittelfeld ist, entscheidet sich üblicherweise je nach Gegner und genereller Spielausrichtung. Gegen stärkere Gegner kam eher mit Cheikh Tioté von Twente Enschede ein zweiter echter Sechser in die Startformation – das ist die Variante, die gegen Portugal und Brasilien am wahrscheinlichsten scheint. Gegen Nordkorea, die ihrerseits mit einer sehr defensiven Spielanlage antreten, wird dann aber eher mit Romaric ein zweiter Spielmacher in die Mannschaft kommen.

Und vorne dreht sich, wie schon erwähnt, vorderhand alles um Didier Drogba. Dessen Klubkollege Salomon Kalou spielte zumindest unter Halilhodžić einen klassischen Linksaußen, auf der anderen Seite übernimmt Shooting-Star Gervinho von Lille die Offensivposition. Der 23-Jährige mit der eigenwilligen Frisur spielt eine grandiose Saison in der französischen Liga und kann seinen Platz eigentlich nur durch eine Verletzung verlieren.

Alternativen für Kalou und Gervinho wären etwa Sekou Cissé oder 1.63m-Zwerg Bakari Koné. Aber die wirklich spannende Frage ist, ob sich Eriksson traut, auch Drogba rauszunehmen, sollte sich dieser nicht mehr in den Dienst der Mannschaft stellen, als er das unter Halilhodžić bereit war. Keine Frage, Kader Keita fehlt es an Durchschlagskraft und Seydou Doumbia an internationaler Erfahrung, aber wie sehr Drogba bereit ist, sich Erikssons Anweisungen unterzuordnen, wird man sehen. Bei Chelsea ist dies ja in der Regel kein Problem, nur beim Nationalteam lässt der Stürmerstar oft allzu sehr den Superstar raushängen.

Nicht unerheblich ist dann eben auch, inwieweit Eriksson das von Halilhodžić immer praktizierte 4-3-3 beibehält oder ändert. Und wenn, wie sehr er es ändert – sprich, ob es ein etwas defensiveres 4-2-3-1 wird, oder ob er die Mannschaft komplett durcheinander würfelt und auf ein 4-4-2 umstellt. Letzteres ist aber kaum zu erwarten, vor allem weil es dem vorhandenen Spielermaterial nicht entspricht.

Zukunftsweisend wird für die Ivorer diese Endrunde aber nur sein, wenn Eriksson Drogba tatsächlich stutzt. Ansonsten wird es zum letzten ganz großen Auftritt des Superstars von Chelsea, der danach früher oder später dem Nationalteam seinen Rücken kehrt und Erikssons Nachfolger eine Mannschaft bauen muss, die ohne Drogba funktioniert. Es könnte sein, dass die Westafrikaner dann in das Loch zurückfallen, aus dem sie Drogba einst geholt hat. Man darf aber auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es ohne das Zentralgestirn erst so richtig zu rollen beginnt, weil die Verblieben sich endlich darauf konzentrieren können, ihr eigenes Spiel zu machen, ohne dauernd an die Befindlichkeiten ihres Mittelstürmers denken zu müssen.

Aber das ist dann ja nicht mehr Drogbas Problem.

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CÔTE D’IVOIRE
oranges Trikot, weiße Hose, Puma – Platzierung im ELO-Ranking: 22.

Spiele in Südafrika:
Portugal (Nachmittagsspiel Di 15/06 in Port Elizabeth)
Brasilien (Abendspiel So 20/06 in Johannesburg/S)
Nordkorea (Nachmittagsspiel Fr 25/06 in Nelspruit)

TEAM: Tor: Vincent Angban (25, Asec Mimosas), Boubacar Barry (30, Lokeren), Aristide Zogbo (28, Netanya). Abwehr: Benjamin Angoua (23, Valenciennes), Sol Bamba (25, Hibs Edinburgh), Arthur Boka (27, Stuttgart), Guy Demel (29, Hamburg), Emmanuel Eboué (27, Arsenal), Siaka Tiené (28, Valenciennes), Kolo Touré (29, Manchester City). Mittelfeld: Emerse Faé (26, Nizza), Jean-Jacques Gosso (27, Monaco), Emmanuel Koné (23, Inter Argeş), Romaric Ndri (27, Sevilla), Cheikh Tioté (24, Twente), Yaya Touré (27, Barcelona), Didier Zokora (29, Sevilla). Angriff: Sekou Cissé (24, Feyenoord), Seydou Doumbia (22, YB Bern), Didier Drogba (33, Chelsea), Kader Keita (28, Galatasaray), Bakari Koné (28, Marseille), Gervinho Kouassi (23, Lille), Salomon Kalou (24, Chelsea).

Teamchef: Sven-Göran Eriksson (62, Schwede, seit April 2010)

Qualifikation: 1:0 gegen Mosambik, 0:0 in Madagaskar, 1:1 in und 4:0 gegen Botswana, 1:1 in Mosambik, 3:0 gegen Madagaskar. 5:0 gegen Malawi, 2:1 in Guinea, 3:2 in und 5:0 gegen Burkina Faso, 1:1 in Malawi, 3:0 gegen Guinea.

Endrundenteilnahmen: 1 (2006 Vorrunde)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.