Richtungswechsel beim Rekord-Eröffner?

WM-SERIE, Teil 27: MEXIKO | Souverän die Vorrunde überstehen, im Achtelfinale ausscheiden: die WM-Auftritte der „Tri“ glichen sich zuletzt haargenau. Zum fünften Mal startet Mexiko gleich im Eröffnungsspiel in ein WM-Turnier, das einen neuen Trend bestätigen kann – oder beenden.

Ein 1:4 war es, eine Niederlage gegen Frankreich. Es war das allererste Spiel bei einer WM-Endrunde, im Jahr 1930, in Uruguay. Und das Ehrentor war bis heute das letzte einer mexikanischen Mannschaft in einem WM-Eröffnungsspiel! Mit 0:4 gingen sie zwanzig Jahre später gegen Gastgeber Brasilien ein, 0:3 weitere achte Jahre danach gegen Gastgeber Schweden. Und als sie selbst der Ausrichter des ersten Endrunden-Spiels waren, 1970, trotzten sie der Sowjetunion immerhin ein 0:0 ab. Nun kommt es zur fünften Eröffnungspartie mit mexikanischer Beteiligung – womit die „Tri“, wie die Mannschaft genannt wird, alleiniger Spitzenreiter dieser Wertung wird.

Ohne jeden Zweifel wird diese Begegnung mit Südafrika schon absoluten Endspiel-Charakter haben. Nicht nur für den Gastgeber, sondern auch für die Mexikaner, die zwar einerseits nach vier Achtelfinals hintereinander endlich mal etwas mehr erreichen wollen, andererseits dafür aber diesmal sicherlich kein Favorit sind. Zu wackelig war die Qualifikation, zu viele Unsicherheitsfaktoren gibt es im Team von Javier Aguierre, der schon in Asien 2002 der Verantwortliche auf der mexikanischen Bank war. Und nach einer souveränen Vorrunde gehen musste, weil sein Team im Achtelfinale als Favorit gegen den Nachbarn USA – der sich mit Müh‘ und Not über die Gruppenphase gerettet hatte – die Nerven völlig wegwarf und 0:2 verlor.

Aguirre, der in der Zwischenzeit einige Jahre in der spanischen Primera División bei Atlético Madrid und Osasuna arbeitete, kam vor etwa einem Jahr wieder zurück. In einer Situation, als sein Vorgänger Sven-Göran Eriksson mit einer Serie von peinlichen Niederlagen (in Honduras und El Salvador, dazu ein 2:2 in Kanada) die WM-Teilnahme schon verspielt zu haben schien. Aguirre schaffte es aber, den Hebel umzulegen und erreichte mit einer starken Schlussphase letztlich doch noch das absolute Minimal-Ziel, die Qualifikation für die Endrunde.




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Mexiko ist also wieder dabei, und hat wieder gute Chancen, ein fünftes Mal ohne Unterbrechung auch die Vorrunde zu überstehen. Aber ein Detail ist dennoch anders! Denn stellte die „Tri“ auch in den Jahren seit Bosman ihre Kader praktisch ausschließlich aus der finanziell wie sportlich starken heimischen Liga, strotzt das Team diesmal nur so vor Europa-Legionären. Natürlich vor allem solchen aus Spanien, aber auch aus Holland, England und gar der Türkei rekrutieren sich die Teilnehmer. Was bei den auf ihr Land äußerst stolzen Mexikanern etwas völlig Neues ist. Aber auch ein Umstand ist, der durchaus seine Gefahren birgt! Denn ein Schlüsselspieler wie Abwehrchef Rafael Márquez bekommt bei Barcelona kaum noch Spielpraxis, seit ihn Gerárd Piqué verdrängt hat. Auch Ricardo Osorio spielt beim VfB Stuttgart nicht mehr die geringste Rolle und ist daher auf Vereinssuche, Offensiv-Talent Carlos Vela würde sich bei Arsenal mehr Einsatzzeit wünschen. Und Jonathan dos Santos, Bruder des mittlerweile bei Galatasaray gelandeten Giovani dos Santos, ist zwar beim FC Barcelona unter Vertrag – bis auf drei Kurzeinsätze in der Ersten aber nur bei der Reserve in der dritten Liga. Großer internationaler Impact sieht bei fast allen in Europa aktiven Kandidaten anders aus.

Deswegen wird diese Endrunde sicherlich zu einer entscheidenden für Mexiko. Geht es gut, kann man damit rechnen, dass in Zukunft noch mehr Spieler aus der mexikanischen Liga nach Europa kommen. Nimmt das Turnier aber ein schnelles Ende – in einer Gruppe mit dem Gastgeber und mit Frankreich kann das ja durchaus passieren – ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich künftige Teamchefs es sich ganz genau überlegen, ob sie wieder eine Fülle an Fremdarbeitern mitnehmen. Und damit verbunden ist natürlich auch die Überlegung bei vielen womöglich aus Europa umworbenen Talenten, ob man seiner Karriere mit einem Sprung über den großen Teich auch tatsächlich etwas Gutes tut.

Kurz gesagt: Entweder, Spieler wie Vela, Giovani und Osorio sind die Vorreiter einer generellen Entwicklung im traditionsreichen mexikanischen Fußball; oder sie werden die Irrlichter, die selbigen in eine Sackgasse geführt haben. Umso wichtiger ist für Aguirre auch das Eröffnungsspiel. Ein Sieg gegen Südafrika wäre nicht nur eine massiven Spaßbremse für die Fans aus dem Gastgeber-Land, sondern auch schon fast fix dem Achtelfinal-Einzug des mexikanischen Teams. Damit könnte man in Mexiko schon grundsätzlich nicht so schlecht leben. Aber ein wirklicher Erfolg wäre das Turnier zweifellos erst, sollte erstmals seit 24 Jahren und das erste Mal außerhalb des eigenen Landes überhaupt die Runde der letzen Acht erreicht werden.

Der große Vorteil der Mannschaft aus Mexiko ist es hierbei, dass sie taktisch äußerst flexibel ist und mehrere Spielsysteme gut beherrscht. Somit ist sie auch in der Lage, nicht nur auf verschiedene Stile der Gegner zu reagieren, sondern hat auch für jeden Spielstand eine passende systematische Antwort – theoretisch. Denn nicht nur einmal ist es in der Vergangenheit vorgekommen, dass die heißblütigen Mexikaner in kritischen Situationen nicht mehr Herr ihres Temperaments waren. Das Achtelfinal-Aus 2002 gegen die Amerikaner sei hier nur als warnendes Beispiel erwähnt.

Grundsätzlich variiert die mexikanische Grundaufstellung zwischen einem 4-4-2 und einem 4-3-3 (oder, wie zuletzt im Testspiel gegen die Engländer, einem 3-4-3), je nach Personal. Die modernere Variante ist zweifellos jene mit drei nominellen Angreifern, die sich allerdings recht nahe am holländischen Stil ohne echte Sturmspitze orientiert. In diesem Fall würde Guille Franco, der nach vielen Jahren in Villarreal vor einem Jahr mit mäßigem Erfolg in die Premier League zu West Ham ging, einen Center-Stürmer eher nach Eishockey-Manier geben. Das heißt: Nicht in der Sturmspitze, sondern als eher hängender Mann – quasi ein Mittelding aus Zehner und Stoßstürmer, der die nach innen ziehenden Außenangreifer bedient. Das wären in der Idealformation die beiden Jungspunde Giovani (21) und Carlos Vela (21). Die Tatsache, dass es sich hierbei um drei Europa-Legionäre handelt, zeigt den bereits erwähnten Trend. Läuft es in dieser Aufstellung aber nicht nach Wunsch, hat Aguirre noch die „mexikanische Alternative“, wenn man sie so nennen möchte, in der Hinterhand. Also ein 4-4-2 mit zwei klassichen Sturmspitzen, die in diesem Fall mit einiger Wahrscheinlichkeit der alternde Nationalheld Cuauhtémoc Blanco (37) und Stürmer-Talent Javier Hernández (22) sein dürften. Für den extrem routinierten und bulligen, aber nicht allzu vielseitigen Blanco ist dies bereits die vierte WM-Teilnahme. Sowohl Blanco als auch Hernández verdienen ihr Geld in Mexiko. Noch – denn während Blanco nach einem Abstecher in die US-Liga schnell wieder heimgekehrt ist, hat Hernández seinen Vertrag mit Manchester United schon in der Tasche. Doch auch hier gilt: Ob er sich dort wirklich durchsetzt, muss sich erst zeigen.

Je nachdem, wie sich der Angriff zusammen stellt, sieht dann das Mittelfeld aus. Gesetzt ist hier Kapitän Gerardo Torrado (31), der aus dem defensiven Mittelfeld heraus dem Spiel Struktur verleihen soll. Ihm zur Seite steht üblicherweise Alberto Medina (27), zusammen bilden sie das routinierte Zentrum eines ansonsten recht jungen Mittelfelds. Denn als Mann im linken Mittelfeld ist mit Andrés Guardado ein 23-Jähriger vorgesehen – es sei denn, Aguirre stellt auf eine Dreier-Abwehrkette um. Dann würde der defensiv stärkerer Salcído, der sonst links hinten spielt, ins Mittelfeld aufrücken. So war es im Testspiel in England, so könnte es durchaus auch im Gruppenspiel gegen die Franzosen sein. Die rechte Seite teilen sich im Mittelfeld üblicherweise mit Paul Aguilar (24, eher im Mittelfeld) und Efraín Juárez (22, eher in der Abwehrkette) zwei eher defensive Spieler, die ebenfalls ihre Karreiere noch vor sich haben.

Gerade für diese stellt diese Endrunde natürlich den großen Tester dar – kann man nach Europa gehen, will man das überhaupt? Oder wäre es nicht doch vielleicht besser, in Mexiko zu bleiben? Diese Frage hat die restliche Viererkette für sich zumindest für den Moment schon beantwortet. Rafa Márquez spielt seit vielen Jahren in Europa, sein Partner in der Innenverteidigung, Francisco Rodríguez, ebenso. Der 1.91m-Hüne verdient, ebenso wie Linksverteidiger Carlos Salcído, beim PSV Eindhoven in Holland sein Geld.

Wenn es zu einem 3-4-3 kommt, bietet Aguirre neben Rodríguez und Márquez noch einen dritten Innenverteidiger auf. Hier ist das Rennen offen: Ricardo Osorio ist zwar routiniert, ihm fehlt aber die Matchpraxis. Bei Héctor Moreno und Jonny Magallón verhält es sich genau umgekehrt. Und nicht zuletzt ist auch die Position im Tor noch nicht mit letzter Gewissheit geklärt. Óscar Pérez hat zwar Erfahrung ohne Ende – er hütete schon 2002 in Asien das mexikanische Tor – aber mit 1.72m ist er für einen Torhüter lächerlich klein. Guillermo Ochoa hingegen, der als Nummer eins vorgesehen war, machte zuletzt einen alles andere als sicheren Eindruck. Gut möglich also, dass die Position zwischen den Pfosten zu einer letztlich entscheidenden Schwachstelle wird.

Vor der sich das Team nicht viele erlauben kann, und es sich zudem ja auch schnell finden muss. Das erste Spiel wird schon zeigen, wohin die Reise geht, bei einer Niederlage kann sich die Mannschaft geistig schon am allerersten Tag auf das Packen der Koffer vorbereiten. Vor allem für die vielen jungen Akteure wäre das ein Schlag ins Kontor, zumal der Druck aus der Heimat in Mexiko traditionell enorm hoch ist. Mit der Hypothek einer schlechten WM ist es gerade bei den heißblütigen Mittelamerikanern alles andere als leicht, künftige Aufgaben anzugehen.

Ganz egal, ob das nun von der Heimat oder von Europa aus geschieht.

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MEXIKO
grünes Trikot, weiße Hose, adidas – Platzierung im ELO-Ranking: 8.

Spiele in Südafrika:
Südafrika (Nachmittagsspiel Fr 11/06 in Johannesburg/S)
Frankreich (Abendspiel Do 17/06 in Polokwane)
Uruguay (Nachmittagspiel Di 22/06 in Rustenberg)

TEAM: Tor: Luis Ernesto Michel (30, Chivas Guadalajara), Guillermo Ochoa (24, Club América), Óscar Pérez (37, Jaguares Chiapas). Abwehr: Paul Aguilar (24, Pachuca), Efraín Juárez (22, UNAM Pumas), Jonny Magallón (28, Chivas Guadalajara), Rafael Márquez (31, FC Barcelona), Héctor Moreno (22, Alkmaar), Ricardo Osorio (30, Stuttgart), Francisco Rodríguez (28, Eindhoven), Carlos Salcído (30, Eindhoven), Jorge Torres Nilo (22, Atlas Guadalajara). Mittelfeld: Pablo Barrera (23, UNAM Pumas), Israel Castro (29, UNAM Pumas), Andrés Guardado (23, Deportivo la Coruña), Jonathan (20, FC Barcelona II), Alberto Medina (27, Chivas Guadalajara), Gerardo Torrado (31, Cruz Azul). Angriff: Adolfo Bautista (31, Chivas Guadalajara), Cuauhtémoc Blanco (37, Veracruz), Guille Franco (33, West Ham), Giovani (21, Galatasaray), Javier Hernández (22, Chivas Guadalajara), Carlos Vela (21, Arsenal).

Teamchef: Javier Aguirre (51, Mexikaner, seit April 2009)

Qualifikation: 2:0 in und 7:0 gegen Belize. 2:1 gegen Honduras, 3:0 gegen Jamaika, 2:1 gegen Kanada, 0:1 auf Jamaika, 2:2 in Kanada, 0:1 in Honduras. 0:2 in den USA, 2:0 gegen Costa Rica, 1:3 in Honduras, 1:2 in El Salvador, 2:1 gegen Trinidad, 2:1 gegen die USA, 3:0 in Costa Rica, 1:0 gegen Honduras, 4:1 gegen El Salvador, 2:2 auf Trinidad.

Endrundenteilnahmen: 13 (1930 Erste Runde, 1950, 54, 58, 62, 66 Vorrunde, 70 Viertelfinale, 78 Vorrunde, 86 Viertelfinale, 1994, 98, 2002 und 06 Achtelfinale)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.