EURO 2016
Parc des Princes, Paris, 18. Juni
Portugal - Österreich
0-0
Tore: keine

ÖFB-Team ultra-defensiv zum 0:0 – mit Glück und auch Geschick

Österreich ermauert und erzittert und erkämpft sich im zweiten Gruppenspiel der EM ein äußerst glückliches 0:0 gegen Portugal. Teamchef Koller stellte das ÖFB-Team dabei extrem defensiv ein und profitierte auch von der Abschlussschwäche des Gegners, Ronaldo verschoss zudem einen Elfmeter. Immerhin: Mit diesem Punkt hat Österreich den Achtelfinal-Einzug noch selbst in der Hand.

Portugal - Österreich 0:0
Portugal – Österreich 0:0

Junuzovic verletzt, Harnik auf dem Flügel in absoluter Un-Form, Alaba seit Monaten ein schönes Stück von seinem Leistungspotenzial entfernt, dann auch noch den Rückschlag der 0:2-Auftaktniederlage gegen Ungarn im Rücken – und Portugal vor der Brust. Mit all diesen Parametern änderte Marcel Koller die Herangehensweise gegenüber den üblichen Gepflogenheiten völlig.

Strikte Defensive

Mit zwei Viererketten, die recht eng beinander standen, zog Österreich einen dichten Kordon vor dem eigenen Strafraum auf; davor waren Alaba und Harnik an vorderster Front aufgestellt. Man überließ Portugal (in einem 4-3-3 statt wie beim 1:1 gegen Island in einem 4-4-2) recht bereitwillig den Ball und achtete darauf, dass durch das Zentrum nichts durchkam.

Die Schlüsselspieler dafür waren Julian Baumgartlinger und Stefan Ilsanker, die in der Mittelfeld-Viererkette die beiden mittleren Positionen einnahmen. Diese beiden hatten ganz offensichtlich keine nennenswerten Aufgaben im Spielaufbau, sondern waren einzig und allein dafür verantwortlich, dass Moutinho und André Gomes keine Steilpässe durch die Reihen durchspielen konnten.

Doppeln der Außenstürmer bei Vertikalläufen

Das klappte vorzüglich, weswegen der jeweilige Mittelstürmer der Portugiesen (zu Spielbeginn Nani, oft aber auch Ronaldo) keine sinnvollen Anspiele aus der Tiefe bekamen. Österreich drängte Portugal also auf die Flügel.

Hier war die Strategie darauf ausgelegt, dass der jewilige Außenstürmer Portugals, sobald er einen Lauf in den Strafraum bzw. in Richtung einer Position für eine aussichtsreiche Flanke startete, von zwei Österreichern verfolgt wird. Vor allem auf der linken Abwehrseite mit Fuchs (plus Arnautovic bzw. Ilsanker) wurden diese Situationen sehr gut gelöst, auch auf der anderen funktionierte zumindest dieser Move ganz gut.

Rechte Abwehrseite zu durchlässig

Portugal blieb damit quasi nur noch die Option, mit Bogenläufen zwischen die Linien zu kommen bzw. über die Außenverteidiger (Vieirinha rechts nicht so gut, der Neo-Dortmunder Raphaël links aktiver) hinter die Ketten des ÖFB-Teams zu kommen.

Gegen den defensiv ausgesprochen disziplinierten und eifrigen Arnautovic gab es kaum ein Durchkommen, aber Sabitzer auf der anderen Seite agierte defensiv ziemlich durchlässig. Praktisch immer, wenn Portugal gefährlich wurde, geschah dies über einen Vorstoß über die Seite von Sabitzer und Klein und eine Flanke vor den Fünferraum, zwischen die österreichischen Ketten hinein.

Ronaldo scheiterte nach Raphaël-Flanke knapp (21.), Nani setzte den Ball nach Raphaël-Flanke an den Pfosten (29.).

Österreichs Offensive

Der Aufbau der Österreicher – in den seltenen Fällen, in denen es einen solchen gab – ging eben nicht über Baumgartlinger, der spielte Pässe fast immer quer oder zurück, sicherte die Kugel ab. Es ging bei Österreich viel eher über die Außenverteidiger mit ihren Vorderleuten, und da im Speziellen einmal mehr fast ausschließlich über Fuchs und Arnautovic – oder über lange Bälle auf den Zielspieler Harnik.

In diesen Situationen wäre vermutlich Janko die geschicktere Option gewesen, aber es war recht offensichtlich, dass Koller hier Harniks Tempo als wichtiger für die defensive und auf Gegenstöße in möglichst offenen Raum ausgerichtete Spielanlage erachtete als den nach seiner Blessur gegen Saisonende ohnehin nicht ganz fitten Hünen Marc Janko.

Die portugiesische Strategie gegen einen geordneten Aufbau von hinten heraus bestand darin, dass die drei aus der Offensivkette (Ronaldo, Nani, Quaresma) sich nahe zur Abwehrkette bzw. zu Almer orientierten, sodass auch hier eher der lange Ball die Option war. Weil Österreich aber praktisch nie geordnet von hinten aufbaute, gab es diese Situation auch nur zwei-, dreimal.

Portugals Offensive

Auffälligstes Feature des portugiesischen Teams waren die ständigen Positionswechsel von Ronaldo, Nani und Quaresma. Jeder nahm jede Position ein (bis auf Quaresma in der Mitte), oft passierten diese Rochaden im Minutentakt. Moutinho und André Gomes wurden im Zentrum darauf limitiert, Querpässe zu spielen und kamen daher nicht ganz wie gewünscht zur Geltung.

Aufgrund der Kopfballstärke von Ronaldo waren gerade die Crosses fast immer brandgefährlich, auch, weil hier oft nicht ganz klar war, wie vor dem Tor die Zuordnung zu sein hatte. Jedenfalls kam Portugal so deutlich zu oft zu wirklich großartigen Torchancen, die Robert Almer ebenso großartig parierte.

Wenige Torchancen für ÖFB-Team

Genau nach 37 Minuten und 30 Sekunden, nach einem Eckball für Portugal, schaltete Österreich plötzlich völlig unvermittelt für fünf Minuten in den altbekannten Aggressiv-Modus um. Sofort wirkte Portugal etwas gehetzt, hatte sich ein wenig in defensiver Sicherheit gewogen – die einzige echte Torchance bis dahin war eine von Harnik knapp verpasste Flanke gleich zu Spielbeginn.

Auch in dieser Phase kam Österreich zu einer starken Chance, aber Vieirinha kratzte die Freistoß-Flanke gerade noch vor Harnik von der Linie. Sehr viel mehr Chancen hatte das ÖFB-Team im kompletten Spiel nicht, wie auch die Expected-Goals-Grafik beweist.

Die Kräfte schwinden

Garniert wurde die grundsätzliche Sicherheit in der Mitte des Feldes lange Zeit auch noch durch das gute Auge und das gute Timing von Sebastian Prödl beim Herausrücken, der auch zwei, drei Szenen durch beherztes Verlassen seiner Position entschärfte. So ab der 70. Minute etwa schlichen sich vermehrt Unsauberkeiten im Abdecken des Sechserraumes ein – höchstwahrscheinlich durch das Schwinden der Kräfte.

Die Abstände wurde in dieser Phase immer wieder etwas zu groß und Portugals Dreier-Angriff (dann mit João Mário statt Quaresma) lauerte da bereits gezielt in genau diesem Raum zwischen den Ketten. In dieser Phase nahm die Gefährlichkeit Portugals wieder zu und vor allem Ronaldo erkannte und nützte die kleinen Nachlässigkeiten immer mehr.

Hintereggers Ringkampf-Einlage gegen Ronaldo, die zum Elfmeter-Pfiff führte (78.) ist da nur die plakativste Szene gewesen. Glück für Österreich, dass Ronaldo – der ansonsten ein sehr engagiertes und auch ansprechendes Spiel abgeliefert hat, auch wenn man das seinem zunehmend genervten bis verzagten Gesichtsausdruck nicht ganz entnehmen konnte – den Strafstoß an den linken Pfosten knallte.

Alaba und Sabitzer

David Alaba in seiner Rolle als De-facto-Sturmspitze als klar schwächsten Österreicher zu bezeichnen, wäre (angesichts der Ungewohnheit der Rolle und Sabitzers Auftritt) ein wenig unfair. Aber die Tatsache, dass Koller den Bayern-Legionär nach einer Stunde durch Alessandro Schöpf ersetzte (der seine Aufgaben gegen den Ball schon präziser erfüllte als Alaba), spricht schon Bände.

Und auch Marcel Sabitzer muss man als Under-Performer bezeichnen. Nicht nur, dass er defensiv gegen Raphaël oft zu wenig herhielt, war er auch ein limitierender Faktor im Vorwärtsgang. Praktisch immer, wenn er an den Ball kam, beschleunigte er das Tempo im Gegenstoß nicht (so wie Fuchs und Arnautovic auf der anderen Seite), sondern nahm den Schwung heraus, verzettelte sich in Zweikämpfe, brachte seine Mitspieler nicht eingesetzt.

Ein wirkliches Upgrade gegenüber Martin Harnik, der diese Position zuletzt recht formschwach bekleidet hat, war Sabitzer also nicht.

Fazit: Mut zur Feigheit. Und viel Glück.

Man muss es Marcel Koller zugute halten, dass er nicht sklavisch an dem Fußball festhält, der ihm vorschwebt, wenn aufgrund von Verletzungen, Sperren und Formschwächen zwei der der Schlüsselspieler im Zentrum mehr oder weniger nicht zur Verfügung stehen (Junuzovic und Alaba) und auch Stammkräfte anderswo (Dragovic) fehlen. Koller weiß, dass sein Spiel ohne Junuzovic vor allem gegen einen spielstarken Gegner wie Portugal nicht durchzuführen ist. Darum lässt er es bleiben. Gerade Herbert Prohaska hielt ja 1998 nibelungentreu am seit Monaten formschwachen Andi Herzog fest, statt auf Hannes Reinmayr zu setzen, der eine tolle Saison gespielt hatte.

Die ultra-defensive Herangehensweise in diesem Spiel hat – wenn auch mit einem gehörigen Batzen Glück – zum erhofften Punkt geführt, wird in dieser Form aber garantiert nur eine Option für den Extremfall bleiben. Anstatt die Stärken des Stamm-Kaders zu betonen, wurde beim 0:0 gegen Portugal so gut es geht um die neu aufgetretenen Schwachpunkte herumgespielt.

Das sah alles andere als schön aus (4:23 Torschüsse und 0:10 Ecken, die 41% Ballbesitz wirken etwas viel, die 75%-Passquote ist eine Steigerung gegenüber dem Ungarn-Spiel), ging auch in diversen Situationen beinahe schief, aber es ist auch das Zeichen eines mutigen Trainers, in so einer Situation alles umzuwerfen, was bisher war. Es war nicht ganz das 5-5-0 von Andi Heraf bei der U-20-WM gegen Argentinien letztes Jahr, aber weit weg davon war es auch nicht. (Unterschied: Heraf stellte damals gegen ein schwaches Team ohne Not auf feig, Koller hatte im Grunde kaum eine andere Wahl).

Dieses 0:0, so glücklich der Tanz auf der Rasierklinge auch war, ermöglicht Österreich nun noch ein paar Tage auf das Achtelfinale zu hoffen. Mit einem Sieg gegen Island ist man fix Dritter (mit einem Sieg ab vier Toren Differenz ist man auch fix einer der besten vier Dritten, danke @LukasMatzinger). Sollte Ungarn etwas gegen Portugal holen, ist für Österreich sogar noch der zweite Platz möglich.

Es ist davon auszugehen, dass man gegen Island wieder anders agieren wird als beim 0:0 gegen Portugal. Andererseits kann Island ja mit der Bürde des Gestaltenmüssens recht wenig anfangen. Das letzte Duell mit den Isländern gab es im Übrigen vor zwei Jahren, es endete mit einem 1:1.

euro gruppe

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.