Crotone in der Serie A: Grüße aus der Vorhölle

Grünbraune Hügel, wohin das Auge reicht. Bahnhöfe, die diesen Namen nicht verdienen, für Rotten mit kaum einer Handvoll Häuser. Man könnte sich nicht einmal streiten, ob es eine schöne Gegend ist oder nicht. Es ist einfach Gegend. Selbst Weidevieh sucht man vergeblich. Eine Stunde lang tuckert der Zug quer durch die kalabrische Einöde, ehe man von der Provinzhauptstadt Catanzaro aus – das auch schon eine schöne Stunde abseits der einzigen echten Durchzugsroute durch Kalabrien liegt – in Crotone ist.

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„Strukturschwach“ trifft als Beschreibung die Region nur behelfsmäßig. Jeder Dritte im erwerbsfähigen Alter hat hier keine Arbeit, gerade die Jungen sind am Job-Markt praktisch chancenlos. Die Politik schafft es wegen des Schattens der ‚Ndrangheta nicht, Investoren für die Region zu finden. Die ‚Ndrangheta, der lokale Ast in Crotone wird vom Vrenna-Clan kontrolliert, kann aber auch nicht mehr die Perspektiven von einst bieten, weil sich durch zahlreiche Verhaftungen die Reihen zusehens lichten – weil Luigi Bonaventura, einst ein hohes Tier im Clan, mit den Ermittlern kooperiert und seine alten Kameraden ans Messer liefert. Noch lebt er.

IMG_1097So vegetiert Crotone, das 60.000-Seelen-Städtchen in der Peripherie der Peripherie, in einem lethargischen Dämmerschlaf vor sich hin, ignoriert von den Landsleuten, vergessen von der Welt. Wenn es den Calcio nicht gäbe, wüssten nicht einmal die Italiener, dass es Crotone überhaupt gibt. Der örtliche Fußball-Klub wird heuer erstmals in die Serie A aufsteigen. Ein Umstand, der noch vor einem Jahr völlig unvorstellbar war und noch erstaunlicher ist, da man im Klubs nichts anders macht als in den vielen Jahren davor.

Rückblende, September 2006

Italien wurde gerade Weltmeister, aber die Serie A war erschüttert vom Calciopoli-Skandal, Juventus-Manager Luciano Moggi soll die Referee-Kommission in seiner Hand gehabt haben, um seinem Klub wohlgesonnene Spielleiter zu sichern. Moggi argumentierte mit Notwehr, andere Vereine waren auch involviert, aber nur Juventus wurde zwangsrelegiert. Das zweite Auswärtsspiel in der Serie B: 19. September 2006, ein Dienstag, in Crotone. Statt Arezzo, Rimini und Triestina besuchten nun auf einmal die Weltmeister Buffon und Camoranesi die Stadt, dazu internationale Stars wie Pavel Nedved und Didier Deschamps auf der Trainerbank.

Dass Trezeguet und Del Piero nicht im Kader waren, machte keinen Unterschied: Weil die rund 10.000 Plätze im Stadio Ezio Scida nicht annähernd genug waren, verteilten sich viele weitere Schaulustige auf die Zimmer des direkt nebenan gelegenen Krankenhauses. Zwischen Gipsbeinen, Herzkranken und Jung-Müttern  begafften die Menschen das Ereignis, das Crotone für einen Tag ins Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit katapultierte. Man war almost famous.

Juventus gewann locker 3:0 und stieg am Ende der Saison auf. Crotone steuerte einem krachenden Abstieg entgegen.

Der Klub stieg zwar direkt wieder in Italiens Serie B auf, bewegt sich dort seither aber zwischen dem anonymen Mittelfeld und dem Abstiegskampf einer Liga, die in Wahrheit niemanden interessiert. Jahreskarten gibt es schon um 200 Euro. Das entspricht in etwa dem Preis eines Sitzplatz-Abos beim SKN St. Pölten. Ein VIP-Jahresticket bei Austria Lustenau kostet das doppelte wie ein solches in Crotone.

In der NV-Arena und dem Reichshofstadion gibt es aber drei Heimspiele pro Saison weniger als im Stadio Ezio Scida.

Verwitterungsspuren und ein Steinschwert

IMG_1100Der Weg vom Bahnhof zum Stadion ist gemütlich in ein paar Minuten zu Fuß zu erledigen. Die roten Pflastersteine der Gehsteige verlieren seit Jahrzenten die Kraft ihrer Farbe, der Asphalt der Straßen ist brüchig, viele Rolläden sind herunter gelassen, die meisten mit Graffitis versehen. Auffällig viele Kennzeichen der nicht selten bemitleidenswert rostigen Autos beginnen mit der Buchstaben-Kombination „KR“. Standardmäßig regionalisierte Nummerntafeln werden in Italien seit 1994 nicht mehr vergeben.

Die vier Flutlichtmasten, schlank und spartanisch, passen zum Stadion, das nach einem ehemaligen Spieler des Klubs benannt ist – Ezio Scida starb 30-jährig bei einem Auto-Unfall, auf dem Weg zu einem Freundschaftsspiel. Das war 1946. Der riesige, asphaltierte Vorplatz ist der Traum jedes Fahrlehrers, der unbedarfte Schüler gefahrlos Achter fahren lassen möchte.

gladioAuf einem Hügel daneben thront ein gigantisches Stein-Schwert, das der ehemalige Bürgermeister, ein Berlusconi-Anhänger, vor rund 20 Jahren in einer Nacht-und-Nebel-Aktion errichten ließ. Niemandem gefiel es, aber als er abgewählt und ein Mitte-Links-Politiker der neue Stadt-Chef wurde, ließ dieser das Monument, das Weltkriegs-Faschisten ehren sollte, stehen – man organisierte stattdessen einen Wettbewerb, um „Il Gladio“ eine neue Bedeutung zu geben. Das Ausschreiben verlief ergebnislos im Sand. Wie so vieles in Italien, besonders im Süden.

Ein Hauch von Südstadt

IMG_1117Das Stadion selbst ist vom Vorplatz durch eine Barrikade und dahinter eine meherere Meter hohe Mauer getrennt. Hinter den Toren befinden sich jeweils Stehplatzrampen von überschaubarer Größe; am Südende befinden sich die eingefleischten Fans. Der Gäste-Sektor befindet sich gegenüber, begrenzt von einem Zaun, überdacht von einem doppelten Netz, es sieht aus wie die Kreuzung eines Löwengeheges mit einem Vogelkäfig und wirkt ein wenig überdimensioniert für eine Liga, die ohnehin kaum Auswärtsfans anzieht. Schon gar nicht nach Crotone.

Die ebenso nicht überdachte Gegentribüne auf der Krankenhaus-Seite wurde vor Kurzen neu bestuhlt, davor war dies ebenso eine reine Stehplatz-Zone. Nur die Haupttribüne verfügt über ein kleines Dach, die Farbe der Sitze ist aber schon ziemlich ausgebleicht. Das Stadion mit den merklichen Verwitterungsspuren fasst rund 10.000 Menschen, mehr als halbvoll war es im Liga-Alltag aber selten.

IMG_1123Von Komfort und Größe erinnert das Stadion ein wenig an die Südstadt, und wenn nicht gerade, wie es alle paar Jahre mal durch eine glückliche Fügung in der Cup-Auslosung oder einen unerwarteten Serie-A-Abstieg vorkommt, ein großer Klub vorbeischaut, verhält es sich mit der Stimmung ähnlich. So wie in Maria Enzersdorf der arme, alte Schöffix mit seiner Trommel einen Mix aus Maskottchen und akustischem Alleinunterhalter gab, krakeelt in Crotone ein einzelner Capo die immer gleichen zwei Chants durch ein halb kaputtes Megaphon. Er wirkt recht einsam dabei, selbst wenn die Stehplatztribüne recht ansehnlich gefüllt ist. In Fairness: Wenn es gut läuft, kann in der Kurve auch schon mal Vollgas gegeben werden. Gut läuft es bei Crotone aber halt nicht immer.

Der zwielichtiger Reiche und der erdige Opa

Der alte Luigi Vrenna, der nach dem Krieg den Mafia-Clan begründet hat, der die Region regiert, hat dereinst über 20 Kinder in die Welt gesetzt. Einer seiner zahlreichen Enkel ist Raffaele Vrenna. Dieser ist geschätzte 800 Millionen Euro schwer. Sein Vermögen machte er in vielen verschiedenen Branchen, etwa der Abfallwirtschaft. Offiziell. Sein Name, sein Stammbaum und sein Reichtum in einer bitterarmen Region lassen die Anti-Mafia-Ermittler nicht so ganz daran glauben. Fußballklubs als eleganter Weg zur Geldwäsche wären keine Novität. Denn Vrenna ist es auch, der dem Klub seit bald 25 Jahren als Präsident vorsteht.

Der Mastermind aber hinter dem sportlichen Überleben der Vergangenheit und dem unerwarteten Aufschwung in dieser Saison ist aber ein anderer. Sportdirektor Giuseppe Ursino, genannt Peppe, ist ein nicht besonders großer Mann von 66 Jahren mit weißen Haaren und einer markanten Nase. So wie ihn stellt man sich einen Opa aus Italien vor.

Sein typisch süditalienisches Nuscheln und sein erdiges Auftreten grenzen Ursino von den betont smarten Direttori weiter im Norden ab: Von Piero Ausilio von Inter, dem sportlichen Mittvierziger mit Glatze. Von Walter Sabatini von der Roma, dem man trotz seiner 60 Jahre jederzeit zutraut, nach dem Match in einer Szenebar zu verschwinden und sich dort drei junge Blondinen aufzureißen. Vom kantigen Giovanni Rossi aus Sassuolo, der mit seinem grimmigen Blick jederzeit auch als Disco-Rausschmeißen durchgehen würde.

Ursinos No-Name-Truppe

Ursino musste man nicht überzeugen, in die Einöde nach Crotone zu gehen. Er stammt aus Roccella, eine Autostunde südlich der Stadt. Er hat dafür die Aufgabe, mit einem limitierten Budget Spieler in eine Stadt mit limitierten Aufstiegschancen zu lotsen. Die zwanzig harten Jahren haben in seinem Gesicht Spuren hinterlassen.

Crotone, das war im Grunde immer Peppe Ursinos No-Name-Truppe aus dem Ödland. So wie in Deutschland früher Meppen (und Sandhausen jetzt) als Schreckgespenst potenzieller Oberhaus-Absteiger das Synonym der Provinzialität der Zweitklassigkeit herhalten muss, ergeht es auch den Dunkelblau-Roten aus Kalabrien.

Die alte Garde hat sich abgeschafft

Aber die Zeiten haben sich geändert. Unbedeutende Örtchen wie Sassuolo und Carpi im Norden oder Frosinone, auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel gelegen, sind nun schon in der Serie A; zumindest Sassuolo hält sich da auch schon ein paar Jahre und kämpft heuer sogar um einen Europacup-Platz.

Die alten Platzhirschen aus dem Süden aber haben sich in Luft aufgelöst: Lecce wurde vor vier Jahren wegen eines Wettskandals in die dritte Liga zwangsversetzt. Reggina Calcio hat sich de facto aufgelöst, als die Führungs-Crew wegen Mafia-Aktivitäten festgesetzt wurde.

Messina, auf der anderen Seite der Meerenge, pflanzte sich 2003 ein überdimensioniertes UFO von einem Stadion für fast 40.000 Zuseher in die Vorstadt, fünf Jahre später war der Klub bankrott. Catania, drüben in Sizilien am Fuße des Ätnas, ist nach erwiesenen Spielmanipulationen und entsprechen deftige Punktabzüge in die Drittklassigkeit abgestürzt. Und Palermo spielt zwar noch ganz oben, hat aber in der aktuellen Saison mehr verschiedene Trainer als Siege auf dem Konto.

Die Vorhölle des Mezzogiorno

Seit sieben Jahren hat Ursino keinen einzigen Cent an Ablöse bezahlt. Er schlägt sich mit vertragslosen Spielern durch. Hin und wieder sichert er seinem Klub ein Talent, das auf Leihbasis ein Jahr in der Vorhölle des Mezzogiorno verbringt, um mit Spielpraxis und dem Wissen, wie schlimm einem das Leben mitspielen kann, anderswo aufzeigt.

IMG_1109Alessandro Florenzi etwa, der nun bei der Roma der Totti-Nachfolger als Kapitän ist, war ein Jahr da. Antonio Nocerino, den man sich einst ein halbes Jahr von Juventus lieh, kam auf eine Handvoll Länderspiele und verdient sich jetzt an der Seite von Kakà in Orlando eine goldene Nase. Fernando Bernardeschi, nun als Fiorentina-Spieler Neo-Nationalspieler, sicherte 2014 mit seinen Toren den Serie-B-Klassenerhalt von Crotone.

Die ewige Stadt Rom, die toskanische Perle Florenz, die Disney-Hauptstadt Orlando: Alles schöner als Crotone. Auch Hamburg eigentlich, nur nicht für Ante Budimir. Der Stürmer – vor Jahren auch ein paar Monate beim LASK unter Vertrag – floppte beim FC St. Pauli komplett, blüht nun aber in Crotone auf. Wieder so einer von Ursinos Goldgriffen.

Titel statt Abstiegskampf

Und einer kam sogar zurück. Ivan Juric. Als Spieler passte der Kroate mit seinen halblangen Gel-Haaren und dem Stirnband, das Francesco Totti zum Markenzeichen machte, perfekt nach Italien. Fünf Jahre spielte er in den Nuller-Jahren in Crotone, ein paar Mal durfte er unter Slaven Bilic auch das kroatische Nationalteam-Trikot tragen. Als Trainer Gian Piero Gasperini 2006 zur Genoa ging, nahm er seinen Lieblingsschüler mit. Als Juric 2010 seine Karriere beendete, kam er ein Jahr später in Gasperinis Stab, als dieser Inter-Coach wurde.

Seit dieser Saison ist Juric nun Trainer in Crotone. Das Ziel, wie immer: Irgendwie den Abstieg vermeiden. Als man nach einem flotten Start an der Serie-B-Spitze mitmischte, bremste Juric noch: Die anderen kommen schon noch, meinte er, so gut sind wir nicht. Ein halbes Jahr später ist sein Team vor den Toren der Serie A.

Aufstieg als Impuls

IMG_1125Nur das mit der Infrastruktur ist so ein Thema. Jeder vernünftige Drittliga-Ground in Deutschland würde jenen von Crotone locker hinter sich lassen. Carpi muss in der Serie A schon die ganze Saison ausweichen, Frosinone spielt mit befristeter Ausnahme-Genehmigung. Das weiß auch Raffaele Vrenna. Weshalb der millionenschwere Klub-Patron große Pläne hat. Die temporäre Aufstockung des Stadions, das in der aktuellen erfolgreichen Saison rund 7.000 Menschen pro Match besuchen, auf 18.000 Plätze soll dabei nur der erste Schritt sein.

Nein, ihm, Vrenna, schwebt etwas ganz großes vor. Eine Arena, die an ein griechisches Amphitheater erinnern soll, passend zur antiken Geschichte der Stadt, in der der berühmte Mathematiker Pythagoras wirkte. Privat finanziert, versteht sich, die Kommunen in Italien sind im besten Fall pleite, die meisten schwer verschuldet. Und Crotone ist nicht der beste Fall. „Das Stadion soll man als unser Geschenk an die Stadt und die Menschen sehen. Wir wollen in der Serie A auch nicht nur eine Statisten-Rolle einnehmen, sondern ein echter Mitspieler sein“, gab Vrenna zuletzt zu Protokoll.

Nicht mehr verstecken

Dass man unerschrocken ist und sich vor niemandem versteckt, hat Crotone in dieser Saison schon gezeigt. Im Cup zwang man den großen AC Milan im San Siro in die Verlängerung, es war im Grunde ein Heimspiel für das Team aus dem Süden: 7.000 der 10.000 Besucher in Mailand waren im Gästeblock zu finden.

Crotone fürchtet sich nicht vor der Serie A. Und wenn schon sonst nichts, dann rückt der Klub zumindest den vergessenen Teil Italiens für ein Jahr ins Licht der Öffentlichkeit. Und damit auch die Schlaglöcher in den Straßen, die Arbeitslosigkeit, das Ödland.

Und ein Steinschwert als Symbol für den Stillstand.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.