Ballverliebt Classics: Als Rangnick der Bundesliga den Zufall nahm

„Wenn Sie flotte Sprüche hören wollen, gehen Sie nach München. Wenn Sie flotten Fußball sehen wollen, kommen Sie zu uns!“

– Ralf Rangnick, 3. Dezember 2008

Es war eines der am meisten gehypten Bundesliga-Spitzenspiele überhaupt. In einer Zeit, bevor Dortmund zum großen Dauerrivalen von Bayern München wurde und sich Bremen als solcher langsam, aber sicher verabschiedete, schickte sich ein Klub an, dem Platzhirschen Paroli zu bieten. Ein Aufsteiger – die TSG 1899 Hoffenheim.

Diese spielte eine überragende Hinrunde und kam am 16. Spieltag als Tabellenführer mit drei Punkten Vorsprung auf die Bayern in die Allianz Arena. Der Höhenflug war kein Zufall, sondern die Folge davon, dass Trainer Ralf Rangnick alles tat, um dem Spiel seiner Mannschaft den solchen zu nehmen. Er gewann letztendlich nichts, war damit aber der endgültige Wegbereiter für den deutschen Schritt in die Fußball-Moderne.

Bayern München - 1899 Hoffenheim 2:1 (0:0)
Bayern München – 1899 Hoffenheim 2:1 (0:0)

„Ich glaube, im Fußball ist […] noch zu viel Zufall, auch bei mit war das so bis vor zwei Jahren. Seitdem habe ich von meinem Expertenteam viel gelernt.“ Das sagte Ralf Rangnick im November 2008 im „kicker“. Er holte sich mit Bernhard Peters einen Hockey-Trainer als Direktor für Sport- und Jugendförderung. Er war derjenige, der Rangnick vom bedingungslosen Vertikalspiel überzeugte. Die Verbindung des als „Fußball-Professors“ bekannten Rangnick und des fußballexternen Peters führte zum Herbst von Hoffenheim.

Die Ausgangslage

Rangnick war im Winter 2005/06 bei Schalke von Manager Assauer abgesägt worden und übernahm ein halbes Jahr später Hoffenheim. Der Klub aus dem Örtchen zwischen Mannheim und Karlsruhe war ein etablierter Drittligist, hatte seine sechste Saison in dieser Spielklasse vor sich. Und einen Geldgeber mit großen Ambitionen – SAP-Mitbegründer Dietmar Hopp. Hoffenheim stieg 2007 in die zweite Liga auf, startete dort aber nur mäßig und überwinterte als Achter nach 5 Siegen, 7 Remis und 5 Niederlagen mit acht Punkten Rückstand auf den Aufstiegsplatz.

In der Rückrunde setzte das Team das Rangnick’sche Konzept aber beinahe perfekt um, war mit 38 Punkten (12 Siege, 2 Remis, 3 Niederlagen bei 36:13 Toren) die mit Abstand beste Rückrunden-Mannschaft. Am letzten Spieltag überfuhr man Fürth mit 5:0 und hielt so Mainz (in der letzten Saison unter Jürgen Klopp) und Freiburg auf Distanz, begleitete Luhukays Gladbach und Christoph Daums 1. FC Köln in die Bundesliga.

Der Kader

Hoffenheim ging mit einer unfassbar jungen Mannschaft in die Bundesliga. Das Durchschnitts-Alter der Stamm-Elf betrug 22,2 Jahre, der älteste Spieler war Linksverteidiger Andreas Ibertsberger mit gerade einmal 25 Jahren. Grund dafür war die unübliche Herangehensweise – Rangnick brauchte für seine Vorstellungen Kicker, die absolut offen waren und noch nicht im Trott des „Normalen“ verfangen waren. Nicht unähnlich etwa einem Arsène Wenger, der einst über den damals 23-jährigen Christoph Leitgeb sagte: „Ein talentierter Junge, aber schon viel zu alt für einen Wechsel ins Ausland. Er ist nicht mehr formbar!“ Einen ähnlichen Weg verfolgt Rangnick ja nun auch bei Red Bull. Mit seinem damaligen Co-Trainer Peter Zeidler als Coach beim FC Liefering

Der Kader von Hoffenheim bestand grob gesagt aus zwei Gruppen. Zum einen jene mit jungen, von Rangnick handverlesenen Gescheiterten bei anderen Klubs. Jaissle, Beck und Weis standen bei Stuttgart schon früh am Abstellgleis, Innenverteidiger Marvin Compper hatte bei Gladbach keine Zukunft, Stürmer Vedad Ibisevic saß in Aachen auf der Bank, Linksfuß Salihovic in der zweiten Mannschaft von Hertha BSC fest.

Dazu kamen vier extrem talentierte und blutjunge Legionäre: Demba Ba kam um drei Millionen vom belgischen Mittelständler Mouscron, Chinedu Obasi um fünf Millionen von Lyn Oslo aus Norwegen, Luiz Gustavo wurde von den Corinthians aus São Paulo ausgeliehen (und später um eine Million verpflichtet) – und, der Königstransfer, Carlos Eduardo. Der Brasilianer kam 20-jährig um sieben Millionen von Grêmio Porto Alegre.

Das Konzept gegen den Ball

„Beim Spiel gegen den Ball galt in Deutschland […] der klassische Abzählreim: Der Spieler gegen den und der gegen den“, sagte Rangnick, der von einem Aha-Erlebnis bei einem Testspiel gegen Lobanovskis Dynamo Kiew erzählte: „Egal, wo der Ball war, immer waren drei Gegenspieler zur Stelle!“ Die klassischen Elemente von Zonen-Orientierung und Pressing, die Rangnick seiner Rasselbande in Hoffenheim auch beibrachte.

Hoffenheims Sturmreihe (blau) als Riegel und als lenkendes Element
Hoffenheims Sturmreihe (blau) als Riegel und als lenkendes Element

Dabei hatten auch die drei Stürmer – Vedad Ibisevic zentral, Demba Ba und Chinedu Obasi als ständig rochierende Außenspieler – klare Anweisungen im Spiel gegen den Ball. Das war damals in Deutschland im Grunde bei keinem anderen Team ein Thema. Die Hoffenheim-Stürmer hatten zwei Aufgaben gegen die Spieleröffnung des anderen Teams: Abriegeln und lenken.

Die vorherrschenden Systeme in Deutschland zu dieser Zeit waren das flache 4-4-2 bzw. die Version mit Raute, quasi ein 4-3-1-2. War der Ball bei den gegnerischen Innenverteidigern, rückten Ba, Ibisevic und Obasi eng zusammen und kappten so die Möglichkeit, zu den zwei bzw. drei zentralen Mittelfelspielern zu passen. Die Gegner hatten zwei Möglichkeiten: Entweder langer Hafer, oder der kurze Ball auf den Außenverteidiger.

Sobald der AV den Ball hat, doppeln ihn Hoffenheims Außenstürmer und ein Achter, nehmen ihm Zeit und Anspielstationen
Sobald der AV den Ball hat, wird er gedoppelt und den Anspielstationen beraubt

Sobald der Ball beim Außenverteidiger war, stürzten Hoffenheims Außenstürmer (Ba oder Obasi) und der entsprechende Achter (in der Regel Salihovic bzw. Carlos Eduardo) wie die Bösen auf diesen Spieler hin und nahmen ihm so die Zeit für eine Weiterverarbeitung – und gleichzeitig auch die Anspielstation. Der Weg zum eigenen Sechser war durch das eng zulaufende Hoffenheim-Duo sehr riskant, der Mitspieler auf der Mittelfeld-Flanke durch den in diesen Situationen in der Regel hinten bleibenden Hoffenheim-AV (Beck rechts, Ibertsberger links) abgedeckt.

Der Gegner war in der Falle.

Heute ist das Lenken des gegnerischen Spielaufbaus gängige Praxis und absolut nicht Ungewöhnliches, damals in der taktisch auch international weit von der internationalen Spitze entfernten deutschen Bundesliga aber sehr wohl.

Und wenn der Ball doch mal im defensiven Mittelfeld ankam? Auf dafür hatte Rangnick vorgesorgt. Dort war es die Aufgabe eines Achters und eines Spielelers aus dem Dreier-Sturm, den zentralen Mittelfeldmann mit dem Ball ebenso zu doppeln. In der Tat hatte Rangnick dem Spiel gegen den Ball schon mal ziemlich den Zufall genommen. Das kannte die Konkurrenz nicht, und sie konnte auch nicht damit umgehen.

Das Konzept mit Ball

Die Trainingsfelder in Hoffenheim wurden zuweilen extrem schmal. Fünfzehn Meter, um genau zu sein, aber 90 Meter lang. „Das sieht komisch aus“, gestand Rangnick zwar, aber es erfüllte den Zweck. In diesen Schläuchen nämlich wurde das fast schon bedingungslose Vertikalspiel gedrillt. „Da drin wird mit drei Kontakten gespielt, in der verschärften Version mit zwei Kontakten. Nur flach, und bei Rückpässen nur ein Kontakt. Alles andere wird abgepfiffen“, erklärte der Trainer.

Zweck des ganzen war das Üben des Verhaltens nach Ballgewinn. Dann ging nämlich die Post ab. Rangnick war mit Hoffenheim der erste Trainer, der bewusst, aggressiv und zielgerichtet von den drei Sekunden Unordnung sprach, die man beim Gegner nach dessen Ballverlust ausnützen müsse. Quer- oder gar Rückpässe gab es in diesen Umschaltphasen nicht, nur nach vorne.

Hoffenheim - Hamburg 3:0 (3:0)
Hoffenheim – Hamburg 3:0 (3:0)

Vor allem zu Saisonbeginn lief man mit diesem Konzept in offene Messer (wie beim 2:5 in Leverkusen) oder bekam die Rechnung für eine um 20 Meter an den Mittelkreis zurückverlegte Pressinglinie präsentiert (wie beim 4:5 in Bremen), aber meistens waren die Gegner mit dem Lenk- und Pressingspiel und dem extrem vertikalen Umschalten von Hoffenheim komplett überfordert.

Besonders anschaulich wurde dies am 9. Spieltag gegen den HSV, das wie alle Heimspiele im Herbst im Mannheimer Carl-Benz-Stadion stattfand (die Rhein-Neckar-Arena war noch nicht fertig). Es war dies das Spiel des Ersten Hamburg gegen den Zweiten Hoffenheim. Nach zwölf Minuten führte die TSG 2:0 (eins nach Eckball, eines nachdem Obasi an der Mittellinie Jarolim den Ball abgenommen hatte und schnell umgeschaltet wurde), nach einer halben Stunde 3:0. Sinnbildlich: An der Mittellinie war Petric in einem Zweikampf zu Fall gekommen und hatte dabei den Ball mit der Hand gespielt, Referee Stark pfiff Freistoß für Hoffenheim – und als sich der HSV noch beschwerte, lief vier Sekunden nach dem Freistoß-Pfiff Obasi bereits alleine auf das Hamburger Tor zu und verwertete problemlos.

Der HSV war dermaßen überfordert, dass Coach Martin Jol nur fassungs- und ratlos den Kopf schütteln konnte. Man kam als Tabellenführer zu Hoffenheim und wurde dort verprügelt wie ein Bezirksligist. Als Hoffenheim am 16. Spieltag zu den Bayern fuhr, standen elf Siege, ein Remis und zwei Niederlagen zu Buche. In 15 Partien hatte man 40 Tore erzielt.

Die Bayern

Der amtierende Meister aus München installierte nach dem Abschied des ebenso erfolgreichen wie auch konservativen Ottmar Hitzfeld im Sommer 2008 dessen genaues Gegenteil: Jürgen Klinsmann. Er stellte Buddha-Figuren am Trainingsgelände auf, kam mit vielen ungewöhnlichen Ideen und wollte den Klub schon ein wenig auf links drehen. Er wollte „jeden Spieler besser machen“, wollte aber wohl ein wenig zu viel in zu wenig Zeit und hatte auch personelle Problemchen.

Zum einen, dass Torhüter Oliver Kahn aufgehört hatte. In dessen letzter Saison kassierte er nur 21 Gegentore, neuer Bundesliga-Allzeit-Rekord. Michael Rensing war seit Jahren Kahns Kronprinz, aber die Rolle als Nummer eins war ihm dann deutlich zu groß. Vor allem bei hohen Bällen segelte Rensing regelmäßig vorbei, was die Bayern bei Flanken und Standards ungewöhnlich anfällig machte.

Bayern München - Werder Bremen 2:5 (0:2)
Bayern – Bremen 2:5 (0:2)

Außerdem fehlte Franck Ribery durch eine Verletzung, die er sich bei der EM zugezogen hatte, bis Ende September. Weil es sonst keinen Spieler für die linke Seite gab, stellte er das System auf 3-5-2 um und ließ Philipp Lahm die Außenbahn alleine beackern. Die Dreierkette kassierte ein Tor von Hertha BSC, und je keines beim späteren Absteiger Köln und in der Champions League gegen ein unsagbar schwaches Team von Steaua Bukarest – ehe das Spiel gegen Werder Bremen kam.

Werder deckte die Probleme in der Raumaufteilung schonungslos auf und führte zur Pause schon 2:0, ehe Klinsmann umstellte. Hinten spielte dann eine Viererkette, davor drei zentrale Mittelfeld-Leute, einer rechts und gar keiner mehr links. Die Folge: Noch drei Gegentore bis zur 67. Minute. Und das, obwohl Bremen personell so dünn besetzt war, dass Strafraum-Riegel Sebastian Prödl den Rechtsverteidiger geben musste – und das gar nicht mal so gut machte.

Als Ribery zurückkam, stabilisierte sich das Bayern-Spiel in den Wochen nach dem 2:5-Desaster gegen Bremen und dem folgenden 0:1 in Hannover, aber inhaltlich waren die Bayern kein Enigma. Van Bommel gab in einem 4-4-2 (das danach beständig gespielt wurde) die Schaltzentrale im Zentrum, es wurde mal geschaut, was rechts geht (über Schweinsteiger oder Altintop mit Lell oder Oddo), es wurde mal geschaut, was links geht (über Lahm und Ribery), mit Zé Roberto als kurzer Anspielstation. Vorne war Luca Toni der Fokuspunkt für lange Bälle, er und Klose sorgten mit ihrer individuellen Klasse für Tore.

„Revolutionär“ ist anders, Klinsmann hatte auch keinen Löw mehr zur Seite, aber bis zum Hoffenheim-Spiel wurden 22 von 24 möglichen Punkten geholt und die Champions-League-Gruppenphase gegen Lyon, die Fiorentina und eben Steaua Bukarest überstanden.

Das Gipfeltreffen

„Wir fahren nicht nach München, um uns nur die Bayern-Trikots abzuholen. Wir wollen ihren Skalp“, hatte Rangnick im Vorfeld der Partie gesagt. Schon Wochen vorher begann der mediale Aufbau für das zu erwartende Spitzenduell der beiden dominierenden Klubs in diesem Herbst 2008, Rangnicks beinahe legendäre PK zwei Tage vor dem Spiel – aus dem auch das Zitat vom Anfang dieses Artikels stammt – taten ihr übriges. „Die Bayern-Fans sind bisher nicht damit aufgefallen, ihr Team bedinungslos zu unterstützen, die wollen unterhalten werden“, hatte Rangnick da auch gesagt. Wie auch: „Vielleicht spielen wir in München sogar mit vier Stürmern. Oder wir fangen mit 12 oder gar 13 Leuten an und hoffen, dass es keiner merkt!“

Ein Aufsteiger, der vor dem Gang in die Allianz Arena die Abteilung Attacke fährt – das war neu. Das Stadion war mit 69.000 Zusehern natürlich voll, die Bayern hätten das dreifache an Tickets verkaufen können. Die, die da waren, sahen ein aufregenden und ungemein temporeiches Spiel.

Erste Halbzeit

Bayern München - 1899 Hoffenheim 2:1 (0:0)
Bayern – Hoffenheim 2:1 (0:0)

Hoffenheim hatte ganz offensichtlich Ribery als Haupt-Gefahrenherd ausgemacht, denn Rangnick änderte die Taktik auf dessen Seite ein wenig: Nicht der Außenverteidiger – in diesem Falle Lahm – wurde von Ba und Weis gedoppelt, sondern Ribery von Beck und Weis, sobald der Franzose den Ball hatte. So versuchte man, ihn aus dem Spiel zu isolieren. Das gelang Beck und Weis über weite Strecken auch ganz gut: Ribery war viel unterwegs und hatte auch oft den Ball, konnte aber wenig echte Wirkung entfalten.

Die Gäste hatten Mühe, ihren Dreier-Riegel zwischen den Münchner Reihen aufzuziehen, so gelang das Lenken des gegnerischen Spielaufbaus nicht wie gewohnt. Dafür wurde Van Bommel umso härter an die Kandarre genommen: Dass der Holländer zuweilien zu gewissen Lässikgeiten neigt und nicht der Schnellste ist, war kein Geheimnis, und so wurde Van Bommel immer wieder schon während seiner Ballannahme angegangen. Dreimal alleine in der ersten Halbzeit luchsten ihm im toten Winkel heranbrausende Hoffenheimer den Ball ab. Erwartbare Folge: Schnelles Umschalten.

Das große Glück der Bayern war, dass Lúcio ein grandioses Spiel zeigte. Der Brasilianer antizipierte hervorragend und rückte zeitgerecht aus der Viererkette heraus, um die heranstürmenden Gegner zu stellen oder Passwege geschickt zuzustellen.

Nach vorne brachten die Münchner sehr wenig zu Stande. Ribery wurde gedoppelt, Schweinsteiger versteckte sich nach Kräften, Van Bommel bekam wenig Zeit und die Flanken von Massimo Oddo waren schlecht. Schon von vornherein verlegten sich die Bayern, um dem Pressing und dem Doppeln zu entgehen, auf lange Bälle auf Luca Toni. Dieser war bei Matthias Jaissle allerdings in guten Händen. In den ersten 45 Minuten hatten die Bayern nur eine einzige ernsthafte Torchance.

Hoffenheim hat Bayern am Nasenring

Kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit ging Hoffenheim, natürlich als Folge eines schnellen Vertikal-Spielzuges, nach einem Doppelpass von Ibisevic mit Weis mit 1:0 in Führung – das bereits 18. Saisontor von Ibisevic am 16. Spieltag. Die Gäste merkten, dass die Bayern wankten und versuchten nachzusetzen: Die Abwehr schob bis in die gegnerische Hälfte hinein, die Pressingwege wurden somit kürzer und damit auch die Phasen bayerischen Ballbesitzes.

Der kecke Aufsteiger hatte die Bayern am Nasenring, weitere Chancen folgten – nach einer Stunde führte Hoffenheim in der Torschuss-Statistik mit 13:4. Die Führung war hochverdient und die Bayern ratlos. Ehe in Minute 60 etwas passierte, mit dem das Gäste-Mittelfeld – im speziellen Tobias Weis – nicht rechnete: Philipp Lahm setzte zu Solo an und zog dabei nach innen. Dort war viel Platz, Weis erkannte die Situation zu spät, löste sich nicht rechtzeitig von Ribery um Lahm zu stellen. Jaissler versuchte zu retten, was zu retten war, aber Lahm zog ab, der Ball wurde von Compper abgefälscht,und landete zum 1:1 im Netz.

Luft aus

Auch in der Folge war Lahm immer mehr die bestimmende Figur auf dem Platz, weil er immer mehr realisierte, welche Freiräume sich im boten. Umso mehr, als den Hoffenheimern nach dem 1:1 zunehmend die Luft ausging. Die intensive Spielweise forderte ihren Tribut und die zweite Luft der Bayern ebenso. Die Abwehr-Kette stand nun sehr tief und die Außenverteidiger rückten kaum noch auf, andererseits franzten die Laufwege der drei Stürmer immer mehr aus.

Van Bommel und Zé Roberto kontrollierten damit trotz numerischer Unterlegenheit im Zentrum das Mittelfeld und sie konnten vor allem Luca Toni immer mehr in Szene setzen. „Jaissle war bei Toni“ sollte aber ein immer wiederkehrender Satz von Sky-Kommentator Marcel Reif werden.

Als Rangnick in Minute 74 den angeschlagenen Obasi runternahm und Salihovic brachte – dieser war etwas überraschend nicht in der Start-Elf gestanden, weil Rangnick auf den defensiv stärkeren Weis gegen Ribery setzte – rückte Carlos Eduardo in die Sturm-Reihe auf. Statt aber den Freistoß-Experten Salihovic selbst ins Spiel einbinden zu können, häuften sich selbige für die Bayern. Ohne nennenswertes Ergebnis aber. So plätscherte das Spiel, gezeichnet von immer mehr schwindenden Kräften, einem 1:1 entgegen.

Ehe Ibertsberger in der Nachspielzeit ein Lapsus unterlief. Rensing hatte in der 92. Minute den Ball nach vorne geschlagen und Zé Roberto die Kugel in den Lauf von Klose verlängert. Ibertsberger will dem einschussbereiten Klose den Ball wegspitzeln, legt ihn dabei aber genau Toni vor – der drückt ab, das 2:1. Die Matchuhr zeigte 90′ +1:23.

Kreuzband und Erfolgsserie riss

Hoffenheim hatte das Spitzenspiel mit 1:2 verloren, die Bayern zogen an Punkten gleich. Eine Woche später sicherte sich der Aufsteiger dennoch den Herbstmeistertitel. Am 14. Jänner aber musste man einen schweren Schlag hinnehmen: Vedad Ibisevic zog sich in einem Testspiel einen Kreuzbandriss zu, fiel für die restliche Saison aus.

Man holte Boubacar Sanogo aus Bremen als Ersatz, aber in der kurzen Zeit fand er nie ins System. Dazu kam etwas Unruhe in den Kader, weil im Winter auch Torhüter Timo Hildebrand verpflichtet wurde, obwohl Daniel Haas eine an sich recht ansprechende Herbstsaison gespielt hatte – in der er Aufstiegs-Goalie Ramazan Özcan verdrängte. Die Egos wuchsen, die Qualität des Zusammenspiels sank. Nicht alle aus der blutjungen Rasselbande schafften es, sich den Erfolg aus dem Herbst nicht zu Kopf steigen zu lassen.

Das erste Rückrundenspiel am 31. Jänner gegen Cottbus wurde 2:0 gewonnen, aber der Spielfluss, die Leichtigkeit und auch die Selbstverständlichkeit aus dem Herbst waren verfolgen. Auch der Umzug ins nun vollendete eigene Stadion bewirkte keinen Schub. Im Gegenteil: Im kompletten Februar, dem kompletten März und dem kompletten April wurde nicht ein einziges Spiel gewonnen. Sieben Remis, fünf Niederlagen, Letzter in der Rückrundentabelle zu diesem Zeitpunkt.

Die Saison endete zwar dank 10 Punkten aus den letzten vier Spielen mit einem Aufwärtstrend, aber dennoch wurde man der erste Herbstmeister der Bundesliga-Geschichte, der am Ende nicht einmal einen Europacup-Platz belegte. Meister wurden die Bayern allerdings auch nicht: Wolfsburg schoss sich mit Dzeko, Grafite und Misimovic zum Titel und Klinsmann wurde noch vor Saisonende entlassen.

Durchhaus

Nie wieder konnte Hoffenheim an die Erfolge des ersten halben Bundesliga-Jahres der Klubgeschichte anschließen. Statt das von A bis Z durchgeplante Konzept weiter zu verfolgen, regierten bald Chaos und Planlosigkeit, ständig wechselnde Trainer und Funktionäre und dadurch ein sinnlos aufgeblähter und maßlos überteuerter Kader.

Genau zwei Jahr nach dem Herbstmeister-Titel sah Rangnick die Felle davonschwimmen – und auch seine vereinsinterne Macht. Die heile Welt bekam schon im Sommer 2010 Risse, als Manager Jan Schindelmeiser die Brocken hinwarf – er und Rangnick waren nicht die besten Freunde. Im Winter 2010/11 wurde dann Sechser Luiz Gustavo gegen Rangnicks Willen zu den Bayern verkauft. Reibereien auch mit Hopp kamen an die Öffentlichkeit, Rangnick trat in der Winterpause zurück und sein Assistent Marco Pezzaiuoli brachte eine mäßige Saison auf einem eher anonymen Mittelfeld-Platz zu Ende – trotz eines interessanten Konzepts.

Auf Pezzaiuoli folgte Holger Stanislawski, ein halbes Jahr später Markus Babbel. Elf Monate später wurde Babbel auf einem Abstiegsplatz liegend entlassen, sein Nachfolger Marco Kurz legte in der Folge einen beträchtlichen Abstand zwischen Hoffenheim und dem Relegationsplatz – allerdings von der falschen Seite. Auch auf dem Manager-Posten wurde Hoffenheim zum Durchhaus: Nach Schindelmeister-Nachfolger Tanner übernahm Trainer Babbel in Personal-Union, ehe Andreas Müller kam und dann auch dieser wieder entlassen wurde.

Erst, als Markus Gisdol im April 2013 das Traineramt übernahm und via Relegation die Klasse hielt und Alexander Rosen als leitender Funktionär im Tagesgeschäft eingesetzt wurde, kehrte wieder Ruhe ein.

Erbe

Hoffenheim ist mittlerweile so ein wenig die graue Maus der Liga und längst nicht mehr der Aufreger, der man im Herbst 2008 vor allem durch die Abhängigkeit von Dietmar Hopp war. Der Durchmarsch unter Rangnick von der dritten Liga zum Bundesliga-Herbstmeister legte aber die endgültige Rutsche für das, was in der Folgezeit eher patschert als „Konzepttrainer“ bezeichnet wurde.

Trainer, die keine großen Spieler waren, aber sich umso mehr mit alternativen Trainingsinhalten und zielgerichteter Lenkung des Spiels beschäftigten, kamen immer mehr in Mode. Jürgen Klopp hatte sich schon einen Namen gemacht, aber etwa ein Thomas Tuchel, Markus Weinzierl, Christian Streich, ein Roger Schmidt oder eben Markus Gisdol profitierten fraglos.

Nur Hoffenheim selbst profitierte irgendwie nicht so recht. Bis heute konnte sich der Klub noch nie für den Europacup qualifizieren.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.